VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 26.10.2020 - 1 K 6953/17.KS.A - asyl.net: M29336
https://www.asyl.net/rsdb/m29336
Leitsatz:

Wirksamkeit einer Eheschließung nach äthiopischem Recht:

1. Im äthiopischen Familienrecht ist neben der standesamtlichen auch die religiöse und die Eheschließung nach Stammesrecht als wirksam anerkannt.

2. Demnach können beide Eltern eines in Deutschland geborenen, als Flüchtling anerkannten Kindes  Familienflüchtlingsschutz erhalten, wenn sie in einer Stammesehe nach Oromo-Ritus zusammen leben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Äthiopien, Eheschließung, Wirksamkeit der Eheschließung, Wirksamkeit, Oromo, Stammesehe, Stammesrecht, religiöse Eheschließung, traditionelle Eheschließung
Normen: AsylG § 26 Abs. 3, AsylG § 26 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Wer Ehegatte ist, bestimmt sich für die deutsche Rechtsordnung verbindlich nach dem Recht, das bei der Eheschließung gegolten hat. Mit "Ehe" ist in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Sprachgebrauch zunächst die mit Eheschließungswillen eingegangene, staatlich anerkannte Lebensgemeinschaft von Mann und Frau gemeint, wobei sich die Gültigkeit der Eheschließung eines Flüchtlings nicht nach dem deutschen Familienrecht, sondern grundsätzlich nach dem Recht des Herkunftslandes richtet (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 06. November 2018 – 3 A 247/17.A –, Rn. 11, juris; Bodenbender in GK-AsylG, Kommentar, Loseblatt, 2008, § 26 Rn. 45 m.w.N.)

Damit kommt es für die Gültigkeit der Eheschließung der Kläger zu 1. und 2. auf das äthiopische Eherecht an. Dieses sieht vier Formen einer rechtswirksamen Ehe vor, nämlich die vor dem Standesbeamten geschlossene Ehe, die religiöse Ehe, die Stammesehe und die Auslandsehe. Für die Gültigkeit einer Stammesehe, die allein im Falle der Kläger zu 1. und 2. in Betracht kommt, ist entscheidend, ob die Voraussetzungen des jeweiligen Stammes eingehalten wurden (vgl. Rieck, Ausländisches Familienrecht, 19. EL, Mai 2019, Äthiopien).

Für den Bereich der Oromo-Kultur findet sich eine gut verständliche Schilderung der Stammesriten in dem Aufsatz von Beyene/Tolera "Marriage Practices Among The Gidda Oromo, Northern Wollega, Ethiopia" (in: Nordic Journal of African Studies 15(3), 240–255 (2006)). Nach dieser Schilderung suchen die Eltern des Bräutigams nach einer Braut für ihren Sohn und nehmen dabei Kontakt zu den Eltern der Braut auf. In der Folgezeit werden zwischen den Eltern die Details der Eheschließung ausgehandelt. Erst danach erfolgt die Verlobung des Brautpaares. Eine gewisse Zeit vor dem Zeitpunkt der Eheschließung lädt die Braut ihre Freundinnen zu einer Feier ein, was in etwa einem Junggesellinnenabend nach deutscher Tradition entsprechen dürfte. Entsprechendes passiert auch auf Seiten des Bräutigams.

Der Tag der Hochzeit beginnt mit einem Treffen der Angehörigen und Freunde des Bräutigams im Haus dessen Familie. Von dort zieht man gemeinsam zum Haus der Braut, wo jedoch dem Bräutigam der Zutritt zunächst einmal verwehrt wird. Erst nach Zahlung einer symbolischen Geldsumme an die Braut darf der Bräutigam eintreten. Im Haus der Braut erfolgt dann die eigentliche Hochzeitszeremonie, bei der die Eltern der Braut das Paar segnen. Besiegelt wird die Ehe mit einem Krug oder Becher Bier, gebraut aus Honig oder mit Milch. Beide Eheleute halten den Becher gemeinsam in den Händen und trinken einen Schluck der Flüssigkeit. Es folgen dann die Gelöbnisse der Brautleute und des Trauzeugen. Danach verlagert sich die Feier in das Haus des Bräutigams, wo bis zum frühen Morgen des folgenden Tages gesungen und getanzt wird. [...]