VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 14.12.2020 - A 4 K 8024/17 - asyl.net: M29409
https://www.asyl.net/rsdb/M29409
Leitsatz:

Keine Dublin-Rückführung einer Familie nach Italien:

"1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Feststellung der Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO ist - abweichend von der Regel des § 77 Abs. 1 AsylG - der Zeitpunkt der angefochtenen Behördenentscheidung. Diese ist nur rechtmäßig, wenn bei ihrem Erlass absehbar war, dass bei regelmäßigem Verlauf (also innerhalb der regelmäßigen Überstellungsfrist von sechs Monaten, welche ab der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs läuft), alle Voraussetzungen für eine Überstellung vorliegen.

2. Zwischen September 2017 und Februar 2018 waren für vulnerable Personen die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO in Bezug auf Italien erfüllt, wenn die italienischen Behörden nicht individuell Vorkehrungen zu ihrem Schutz bei einer Rücküberstellung zugesagt hatten.

3. Im Einzelfall kann ein Anspruch eines Asylantragstellers auf Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO bestehen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 13.10.2016 - A 11 S 1596/16 -, juris, Rn. 46 ff.); dafür maßgeblich sein kann auch eine unangemessen lange Dauer des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens.

4. Lässt sich nicht feststellen, dass eine Überstellung tatsächlich möglich wäre, ist die Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufzuheben.

5. Zur Frage, ob Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO einschränkend dahin auszulegen ist, dass bei der Aussetzung der Überstellung wegen eines anhängigen Hauptsacheverfahrens eine Höchstfrist für die Überstellung anzunehmen ist."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, Überstellungsfrist, Selbsteintritt, Asylverfahrensdauer, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, systemische Mängel, Zusicherung, Beurteilungszeitpunkt, besonders schutzbedürftig, Familie, Dublin III-Verordnung, Zuständigkeit,
Normen: VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

2. Es gibt aber im Sinn von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO wesentliche Gründe für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in Italien für vulnerable Personen, zu denen auch die Kläger gehören, im maßgeblichen Zeitpunkt systemische Schwachstellen aufweisen, welche dazu führen, dass sie einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wären, eine Behandlung im Sinn von Art. 4 EUGrCh zu erfahren, die nur außer Acht bleiben können, wenn die italienischen Behörden im Einzelfall eine Garantieerklärung zur Vermeidung einer solchen Situation abgeben. Hieraus folgt, dass die Beklagte entweder eine solche Garantieerklärung im Einzelfall einholen müsste, was sie nicht getan hat, oder ihre Prüfung, ob ein anderer Mitgliedstaat als Italien zuständig ist, fortsetzen müsste, wofür im Übrigen nichts ersichtlich ist; mithin ist sie verpflichtet, auch um das Asylverfahren nicht unangemessen in die Länge zu ziehen, ihr Ermessen gemäß Art. 17 Abs. 1 dahin auszuüben, dass sie die Asylanträge der Kläger prüft. Im Einzelnen ergibt sich dies aus Folgendem (vgl. dazu etwa VG Karlsruhe, GB v. 11.03.2020 - A 9 K 3651/18 -, juris, und Urt. v. 11.02.2020 - A 5 K 8464/18 -; VG Freiburg, Urt. v. 31.01.2020 - A 1 K 2755/19 -, juris, Rn. 21; GB v. 27.08.2020 - A 1 K 7629/17 -, juris, Rn. 33):

a) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Feststellung der Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO ist hier - abweichend von der Regel des § 77 Abs. 1 AsylG - der Zeitpunkt der angefochtenen Behördenentscheidung. Diese ist nur rechtmäßig, wenn bei ihrem Erlass absehbar war, dass bei regelmäßigem Verlauf (also innerhalb der regelmäßigen Überstellungsfrist von sechs Monaten, welche ab der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs läuft), alle Voraussetzungen für eine Überstellung vorliegen. Dies ergibt sich aus der Dublin III-Verordnung selbst, die in ihrem Anwendungsbereich § 77 Abs. 1 AsylG vorgeht. [...]

Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO erfordert nach seinem Wortlaut im Zeitpunkt der Entscheidung über die Zuständigkeit für den Asylantrag eine Prognose dazu, ob innerhalb der Regel-Fristen der Dublin III-Verordnung eine Überstellung des Antragstellers an den nach den Kriterien der Dublin III-Verordnung gemäß Art. 7 ff. zuständigen Mitgliedstaat unmöglich ist (vgl. zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Feststellung der Kriterien auch Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO und hierzu BVerwG, Urt. v. 26.02.2019 - 1 C 30.17 - juris, Rn. 16). In den Blick genommen wird damit eine Überstellung innerhalb von neun Monaten ab Stellung des Asylantrags. […]

b) Hiervon ausgehend kommt es darauf an, ob die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO im Februar 2018 (noch) vorlagen. Zu diesem Zeitpunkt wäre die Überstellungsfrist für die Kläger abgelaufen, wenn sie keinen Rechtsbehelf eingelegt hätten, denn das Aufnahmegesuch stammte vom 07.06.2017, es galt am 07.08.2017 als angenommen.

Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO ist verletzt, wenn dem Asylantragsteller in dem Mitgliedstaat, der nach den Kriterien der Dublin III-Verordnung ansonsten zuständig wäre, die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht. […]

Eine solche Gefahr bestand für die Kläger in Italien bei Erlass des angefochtenen Bescheids im September 201. Sie bestand nach der Rechtsprechung der Kammer damals auch absehbar für die Dauer einer möglichen Überstellung (bis zum Februar 2018) fort (vgl. ausführlich, zur Lage für rückkehrende Asylbewerber nach Italien im Frühjahr 2018, VG Freiburg, Beschl. v. 10.01.2018 - A 4 K 6049/17 -, juris, Rn. 21 ff. m.w.N.). […]

a) Dabei geht die Kammer von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg aus, in der, anders als in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urt. v. 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 38; vgl. zuvor auch BVerwG, Urt. v. 09.08.2016 - 1 C 6.16 -, Leitsatz 4 dazu, dass ein Asylantragsteller jedenfalls dann Anspruch auf Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG hat, wenn nicht positiv feststeht, dass der ersuchte Mitgliedstaat aufnahmebereit ist), bereits geklärt ist, dass eine auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gestützte Unzulässigkeitsentscheidung aufzuheben ist, wenn ein Anspruch auf einen Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 17 Abs. 1 GG besteht (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 13.10.2016 - A 11 81596/16 -, juris, Rn. 46 ff., für den Fall, dass, bezogen auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, innerhalb der nächsten sechs Monate bis zum Ablauf der Überstellungsfrist eine Überstellung nicht mehr durchgeführt werden kann oder absehbar nicht mehr durchgeführt werden wird).

3. Jedenfalls rechtswidrig geworden ist der angefochtene Bescheid auch deshalb, weil nicht festgestellt werden kann, dass eine Überstellung tatsächlich möglich wäre (vgl. zu diesem Erfordernis, hinsichtlich einer Überstellung aufgrund einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a AsylG, VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 27.08.2014 - A 11 S 1285/14 -, NVwZ 2015, 92 = juris, Rn. 56; ferner BVerwG, Urt. v. 27.04.2016 - 1 C 24.15 -, juris <Rn. 20 ff.>). Zweifel hieran bestehen, denn aus einzelnen Verfahren des Bundesamts ist bekannt geworden, dass eine solche Übernahmebereitschaft Italiens bei Ablauf der regelmäßigen Überstellungsfrist von sechs Monaten nicht gegeben ist, obwohl nach der (zutreffenden) Rechtsauffassung der Beklagten eine Aussetzung der sofortigen Vollziehung die Überstellungsfrist grundsätzlich neu in Gang setzt. Dementsprechend hat das Bundesamt in etlichen Verfahren, anders als im vorliegenden Fall, Hinweise auf den genannten Umstand auch zum Anlass genommen, den Bescheid freiwillig aufzuheben. Nahegelegt wird eine Weigerung der italienischen Stellen insoweit auch dadurch, dass nach der Statistik des Bundesamts (vgl. BT-Drucks. 19/22405 vom 15.09.2020, S. 21, 22) Italien in einer ganz erheblichen Zahl von Fällen einem Überstellungsersuchen nicht zugestimmt hat (1877 Ersuchen und 1474 Zustimmungen im 1. Quartal 2020, dagegen 449 Ersuchen und 465 Zustimmungen im 2. Quartal 2020, woraus sich im Halbjahr 2020 etwa 400 Ablehnungen ergeben). Die Kammer hat die Beklagte deshalb gebeten, mit der zuständigen italienischen Stelle zu klären, ob dort eine Übernahmebereitschaft im Fall der Kläger noch besteht und also eine zeitnahe Überstellung überhaupt noch möglich wäre. Die Beklagte ist dieser Frage jedoch ausgewichen mit dem Hinweis darauf, die Mitgliedstaaten seien (nach ihrer Auffassung) bei Aussetzung der Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO innerhalb von sechs Monaten nach Eintritt der Rechtskraft einer Klageabweisung rechtlich verpflichtet, die Kläger zurückzunehmen. Die Frage, ob Italien diese Rechtsauffassung teilt (überdies auch in Fällen der vorliegenden Art, in denen das gerichtliche Verfahren schon über drei Jahre andauert), ist mit dieser Antwort nicht geklärt. Da die Beklagte an einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts insoweit nicht mitwirkt, geht dies letztlich zu ihren Lasten. […]

b) Italien könnte freilich deshalb für die Asylanträge aller Kläger wieder zuständig geworden sein, weil die Beklagte - nach Lage der vorgelegten Akten - das aus seiner Sicht zuständige Italien über die Dauer der durch das Eilverfahren bewirkte Verzögerung der Überstellung nicht unterrichtet hat. Insoweit könnte es nicht genügen, dass die Beklagte den italienischen Behörden die Einlegung eines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz angezeigt hat. Denn Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EG) 1560/2003 vom 02.09.2003 erfordert möglicherweise auch, dass die weitere Unterbrechungshandlung, also die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, mitgeteilt wird. Die Vorschrift enthält zwar keine Sanktion in Gestalt eines Übergangs der Zuständigkeit; es könnte aber Einiges dafür sprechen, dass die in Art. 9 Abs. 2 derselben Verordnung in der Fassung der DVO Nr. 118/2014 vom 30.01.2014 für die Fälle des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO geregelte Sanktion insoweit entsprechend anzuwenden ist; im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.01.2019 (1 C 16.18, vgl. juris, Rn. 18) wird immerhin auf den Umstand hingewiesen, diesem also Bedeutung beigemessen, dass die Unterbrechung den - dort - Österreichischen Behörden auch mitgeteilt worden sei. Zu klären wären dann auch, ob diese Mitteilungspflichten auch den Asylantragsteller schützen. Selbst wenn dies nicht der Fall wäre, könnte aus einer darauf gestützten Weigerung Italiens (ebenfalls im Sinn von Nr. 3 der Entscheidungsgründe) folgen, dass der Bescheid rechtswidrig geworden ist.

c) Schließlich stellte sich auch die Frage, ob Art. 27 Abs. 3c Dublin III-VO einschränkend dahin auszulegen ist, dass auch bei der Aussetzung der Überstellung wegen eines anhängigen Hauptsacheverfahrens eine Höchstfrist für die Überstellung anzunehmen ist, welche hier überschritten ist. Insoweit ist von Folgendem auszugehen:

Auf den ersten Blick ist der Wortlaut von Art 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO insoweit eindeutig. Denn danach läuft die Überstellungsfrist von sechs Monaten im Falle der Einlegung eines Rechtsbehelfs, der aufschiebende Wirkung hat, erst ab der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf. Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift aber nicht nur deren Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (EuGH, Urt. v. 13.09.2017 - C-60/17- <Amayri>, Rn. 29 m.w.N.). Insoweit kommt dem Auslegungskriterium der praktischen Wirksamkeit (effet utile) einer Vorschrift eine überragende Bedeutung zu.

Bei der Auslegung des Begriffs "endgültig" ist deshalb auch zu berücksichtigen, dass die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aber darauf zu achten haben, dass die Situation eines Asylbewerbers nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verschlimmert wird (EuGH, Urt. v. 14.11.2013 - C-4/11 - <Puid>, juris, Rn. 34 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 07.12.2015 - 1 B 66.15 -, Urt. v. 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 38). Dass diese Rechtsprechung in Fällen ergangen ist, in denen es um die Dauer des behördlichen Verfahrens ging, bedeutet nicht, dass sie nicht auch hinsichtlich der Dauer gerichtlicher Verfahren nicht zu berücksichtigen wäre.

Soweit der Europäische Gerichtshof, wie oben ausgeführt, auf den Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten abhebt und auf seine Rechtsprechung insoweit verweist, besagt dieser allerdings nur allgemein, dass es mangels einer einschlägigen Unionsregelung Sache des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten ist, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen (vgl. EuGH, Urt. v. 11.09.2003 <Salafero> - C-13/01 -, Rn. 49, Urt. v. 13.03.2007 <Unibet> - C-432/05 -, Rn. 39). Hieraus abzuleiten, dass es für den Beginn der Überstellungsfrist gleichgültig sei, ob die gerichtliche Prüfung (im Hauptsacheverfahren) einen angemessenen Zeitraum überschreitet, geht zu weit.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten, bei unangemessener Verfahrensdauer ggf. das Selbsteintrittsrecht auszuüben, aufgegriffen (Beschl. v. 07.12.2015 - 1 B 66.15, vgl. juris, Rn. 5, Urt. v. 27.10.2015 - 1 C 32.14, 1 C 33.14 und 1 C 34.14 -, jeweils juris, Rn 21). Dabei hat es ein Selbsteintrittsrecht bei Verfahrensdauern (von der Asylantragstellung bis zur Erteilung der Zustimmung zur Wiederaufnahme) von etwas über neun und wohl auch elf Monaten von der Asylantragstellung verneint. Dies bezog sich allein auf das behördliche Verfahren, wobei das Bundesverwaltungsgericht noch davon ausgegangen war, dass sich ein Asylantragsteller sich nicht auf eine Überschreitung der (Wieder-)Aufnahmefrist, damals noch nach der 17 Abs. 1 Dublin-II-VO (heute Art. 21 Abs. 2 Dublin III-VO, berufen könne (anders dann EuGH, Urt. v. 26.07.2017 <Mengestaeb> - C-670/16 – a.a.O.). [...]

Aus all dem folgt, dass die Frage einer Höchstgrenze für eine angemessene Dauer der gerichtlichen Überprüfung höchstrichterlich nicht geklärt ist. Die hier vom Bundesverwaltungsgericht entschiedene Fall, bei dem eine Verfahrensdauer von insgesamt zwei Jahren für unbedenklich gehalten wird, ist zudem durch eine Reihe von Besonderheiten gekennzeichnet, welche bei allein überlanger Dauer eines Klageverfahrens - wie im vorliegenden Fall - nicht gegeben sind.

Dem hier gefundenen Ergebnis steht die jüngste Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg zur Frage, ob der Mitgliedstaat, der die Überstellungsentscheidung erlassen hat, zuständig wird, wenn über einen Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO entgegen Art. 27 Abs. 3c Dublin III-VO nicht innerhalb angemessener Frist - dort erst nach zwei Jahren - nicht entschieden worden ist (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 19.10.2020 - A 4 S 1933/20 -, juris), zwar (wohl) im Ergebnis, nicht aber in der Begründung entgegen. Denn der Umstand, dass die Dublin III-Verordnung insoweit keine Höchstfristen vorsieht, schließt - wie oben gezeigt - nicht aus, dass solche Höchstfristen bestehen. Solches liegt im Übrigen auch nach der erwähnten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nahe, aus der sich allein ergibt, dass eine sachlich gerechtfertigte Aussetzung der sofortigen Vollziehung einer Abschiebungsanordnung den Lauf der Überstellungsfrist unterbricht. […]

Bei der Bemessung einer Höchstfrist für eine noch angemessene Verfahrensdauer könnte möglicherweise davon auszugehen sein, dass die Regelfrist von sechs Monaten für eine Überstellung ab Annahme des Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmegesuchs gemäß Art. 29 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-VO nur aus Gründen, die in der Sphäre des Asylantragsteller liegen (Haft, flüchtig) bis auf 18 Monate verlängert werden kann mit der Folge, dass sogar dann, wenn der Asylantragsteller sich der Überstellung entzieht oder ein Haftgrund vorliegt und deshalb Haft angeordnet ist, die Zuständigkeit nach Ablauf dieser Fristen auf diesen Mitgliedstaat übergeht (Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO). Dabei steht diese Rechtsfolge gerade nicht allein im Interesse des anderen Mitgliedstaates, der Klarheit über seine Wiederaufnahmepflicht erhalten soll, sondern dient dem Interesse des nicht mitwirkungsbereiten Asylantragstellers (EuGH, Urt. v. 19.03.2019 <Jawo> - C-163/17 -, Rn. 70).

Daran wird deutlich, dass der Verordnungsgeber dem Interesse des Asylantragstellers, wenn schon, dann alsbald in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt zu werden, ein sehr hohes Interesse beimisst und nach Ablauf von 18 Monaten das öffentliche Interesse des Mitgliedstaats, dem die Überstellung nicht gelingt, gleich ob aus Gründen, die der zu Überstellende zu vertreten hat oder nicht, zurücktreten lässt.

Nicht unerheblich erscheint auch, dass sich aus den einschlägigen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs der Befund ergibt, dass die (wohl meisten) Mitgliedstaaten für die abschließende gerichtliche Prüfung nur wenige Monate bis eineinhalb Jahren benötigen. […]

Sofern eine Höchstfrist nach diesen Grundsätzen, trotz der Wertung der Verlängerungsmöglichkeiten gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO, Bedenken begegnete in Fällen, in denen ein Asylantragsteller nicht in der gebotenen Zügigkeit und im gebotenen Umfang am gerichtlichen Verfahren mitgewirkt hat oder die Verfahrensdauer sich aus sonst in seiner Sphäre liegenden Gründen verzögert hat, ließe sich dies jedenfalls bei einer Berücksichtigung der oben ausgeführten Gesichtspunkte im Rahmen der Ermessensbetätigung gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO berücksichtigen. [...]