VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 10.02.2021 - 11 A 2901/19 - asyl.net: M29425
https://www.asyl.net/rsdb/M29425
Leitsatz:

Interne Fluchtalternative in Nepal; dialysepflichtige Niereninsuffizienz behandelbar:

1. Der nepalesische Staat ist bereit und fähig, seine Staatsangehörigen vor nichtstaatlicher Verfolgung und kriminellem Unrecht, z.B. Racheakten, zu schützen. Zudem besteht in solchen Fällen eine inländische Fluchtalternative.

2. Die Behandlung einer dialysepflichtigen Niereninsuffizienz ist in Nepal möglich und finanzierbar.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Nepal, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, medizinische Versorgung, Niereninsuffizienz, Nierenerkrankung, Dialyse,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3e, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

31 Darüber hinaus fehlt es bei Zugrundelegung des klägerischen Vortrages auch an einem geeigneten Verfolgungsakteur. Nach § 3c Nr. 3 AsylG kann die Verfolgung zwar grundsätzlich auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Dies setzt jedoch weiter voraus, dass erwiesenermaßen weder der Staat, noch Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, in der Lage oder willens sind i. S. d. § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Dabei muss der Schutz zwar wirksam und nicht nur vorübergehender Art sein. Bei der Bewertung der Effektivität des Schutzes ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Anforderungen an eine effektive Schutzgewährung im konkreten Einzelfall nicht überzogen werden dürfen. Die Forderung nach einem lückenlosen Schutz vor Übergriffen nicht staatlicher Stellen oder Einzelpersonen ginge an einer wirklichkeitsnahen Einschätzung der Effizienz staatlicher Schutzmöglichkeiten vorbei. Vielmehr ist es nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BVerwG Urteil vom 3. Dezember 1985 – 9 C 33/85 u. a., 9 C 33/85, Rz. 20; BVerwG, Urteil vom 2. August 1983 – 9 C 818/81, Rz. 12, jeweils zitiert nach juris) ausreichend, wenn Schutzakteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zum Beispiel durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung der Verfolgungshandlungen zu verhindern und der Betroffene Zugang zu diesem Schutz hat. Der Umstand allein, dass die staatlichen Organe trotz prinzipieller Schutzbereitschaft nicht  immer in der Lage sind, die Betroffenen vor etwaigen Übergriffen wirkungsvoll zu schützen, reicht nicht aus, um die Annahme zu rechtfertigen, der Staat sei nicht in der Lage oder willens Schutz vor Verfolgung zu bieten. Kein Staat vermag einen schlechthin perfekten, lückenlosen Schutz zu gewähren und sicherzustellen, dass Fehlverhalten, Fehlentscheidungen einschließlich sog. "Amtswalterexzesse" bei der Erfüllung der ihm zukommenden Aufgabe der Wahrung des inneren Friedens nicht vorkommen. Deshalb lässt weder eine Lückenhaftigkeit des Systems staatlicher Schutzgewährung überhaupt, noch eine im Einzelfall von den Betroffenen erfahrene Schutzversagung als solche schon staatliche Schutzbereitschaft oder Schutzfähigkeit entfallen. Umgekehrt ist eine grundsätzliche Schutzbereitschaft des Staates zu bejahen, wenn die zum Schutz der Bevölkerung bestellten (Polizei-) Behörden bei Übergriffen Privater zur Schutzgewährung ohne Ansehen der Person verpflichtet und dazu von der Regierung auch landesweit angehalten sind (vgl. VG Oldenburg, Beschluss vom 1. Juni 2016 – 7 B 1888/16, Rz. 28, veröffentlicht in der Rechtsprechungsdatenbank des Nds. Oberverwaltungsgerichts).

32 Bei der vom Kläger vorgetragenen Verfolgung durch den Bruder eines im Bürgerkrieg von den Maoisten getöteten Polizisten handelt es sich um eine Verfolgung durch einen Täter als nichtstaatlichen Akteur. Es geht allein um einen privaten Konflikt zwischen dem Kläger und dem Bruder des Getöteten unabhängig von etwaiger Parteizugehörigkeit. Es ist nicht ersichtlich und nicht vorgetragenen, dass der nepalesische Staat nicht in der Lage ist, den Kläger davor zu beschützen. Statt die Hilfe der Sicherheitskräfte in Anspruch zu nehmen, ist er einfach ausgereist.

33 Unabhängig davon müsste sich der Kläger auf eine inländische Fluchtalternative verweisen lassen (§ 3e AsylG). Er hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (vgl. VG Lüneburg, Urteil vom 21. Januar 2015 - 1 A 301/14 - V.n.b.; VG München, Urteil vom 19. April 2011 – M 17 K 10.30973 –, juris Rn. 18; VG München, Urteil vom 23. November 2010 – M 17 K 09.50444 –, juris Rn. 17; VG Stade, Urteil vom 2. April 2008 – 6 A 530/07; VG Arnsberg, Urteil vom 28. Juni 2007 – 7 K 2689/05.A –, juris Rn. 26). Nach den Erfahrungen des Auswärtigen Amtes sind selbst Bedrohungen in Nepal durch politische Gruppierungen stets örtlich beschränkt, so dass Fluchtmöglichkeiten in andere der 75 Distrikte und auch in die Hauptstadt bestehen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 15. Juli 2009, Nr. 4). Nur in wenigen Ausnahmefällen gibt es distriktübergreifende Bedrohungen, wobei diese Personen in der Regel von den von Menschenrechtsorganisationen und der EU angebotenen Schutzmechanismen profitieren können (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Braunschweig vom 30. Oktober 2008, Frage 5). Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen bieten sog. "Safe Houses" für verschiedene Personengruppen in den Distrikten an (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 15. Juli 2009, Nr. 4). Auch nach der Einschätzung des UNHCR steht bedrohten Personen in den größeren Städten Nepals im Regelfall eine inländische Fluchtalternative offen. Die Aufenthaltsermittlung einer Person in Nepal ist außerdem nach den vorliegenden Erkenntnissen überaus schwierig. Es gibt kein Meldesystem und Personen sind meist nur an ihrer sog. "permanenten Adresse", meist dem Herkunftsort der Großfamilie, registriert, da sie dort ihren Staatsangehörigkeitsausweis beantragt haben. Wenn die gesuchte Person nicht auch unter der permanenten Adresse wohnhaft ist, ist es ohne weitere Hinweise praktisch aussichtslos, den Aufenthaltsort zu ermitteln (Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Kathmandu, Merkblatt zur Rechtsberatung und Rechtsverfolgung in Zivil- und Handelssachen in Nepal, Juni 2011). [...]

41 Dem Kläger droht nach seinem Vorbringen ersichtlich auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen könnte. [...]

46 Danach ist der Kläger unter anderem wegen der schweren Niereninsuffizienz auf regelmäßige Dialyse angewiesen.

47 Nach dem bisherigen Vorbringen und unter Berücksichtigung der Auskunftsklage ist nicht ersichtlich, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Nepal eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben droht.

48 Das Gesundheitssystem in Nepal gliedert sich in einen staatlichen, einen öffentlichen (durch nichtstaatliche Organisationen, kirchliche Einrichtungen und Entwicklungshilfe-Organisationen abgedeckten) und einen privaten Sektor. In den größeren Städten, insbesondere in Kathmandu, gibt es staatliche wie private Krankenhäuser und vereinzelt selbstständig praktizierende Ärzte. In Dörfern und abgelegenen Regionen findet man nur sogenannte Gesundheitsstationen, die oft ein großes Gebiet, das zumeist nur zu Fuß erreichbar ist, abdecken und allenfalls eine rudimentäre Basisversorgung der Bevölkerung gewährleisten können. Die medizinische Versorgung im Land ist insgesamt als nicht ausreichend zu bewerten. In Kathmandu selbst verbessert sich zunehmend das diagnostische und medizinische Angebot. Die allgemeine Medikamentenversorgung ist als gut einzustufen. Da es in Nepal keine Krankenversicherung gibt, sind die Kosten für medizinische Behandlungen, Operationen und Medikamente von dem Patienten selbst zu tragen. Kostenlose Behandlungsmöglichkeiten gibt es nur geringfügig in wenigen staatlichen Krankenhäusern (z.B. für Tuberkulose-Behandlungen in speziellen Therapiezentren), nicht jedoch für Laboruntersuchungen und Medikamente. Staatliche oder caritative Einrichtungen, die unterstützend tätig werden könnten, sind nicht oder nicht ausreichend vorhanden (vgl.: Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, Gutachten vom 12. Februar 2009 an das VG Aachen; Deutsche Botschaft in Kathmandu, Auskünfte vom 14. Dezember 2008 an das VG Aachen und vom 12. Oktober 2004 an das Bundesamt, sowie Auskünfte vom 21. Dezember 2004, vom 22. Dezember 2004, vom 27. Juni 2005 und vom 8. November 2005; vgl. zu den sog. Gesundheitsstationen (Health-Stations): Beuthner, Medizin auch für Arme - gesundheitliche Erstversorgung in Nepal, Bericht vom 11. August 2009 (http://www.dw-world.de/dw/article/0 3460717,00.html); Sabriti/ Karki/Maharjan/Beuthner, Gesundheitsfürsorge in Nepal: Hoffnung für die Armen (http://www.dw-world.de/popups/popup_pdf/ 0,,3145017,00.pdf); dazu VG Aachen, Urteil vom 8. Oktober 2009 - 5 K 1266/08.A -).

49 Nach dem Bericht von MedCOI Medical Country of Origin Information vom 30. Januar 2019 hat die nepalesische Regierung im Jahr 2010 ein Hilfsprogramm für im Einzelnen aufgelistete chronische Erkrankungen, die eine lebenslange Behandlung erfordern, wie chronische Nierenerkrankungen und Herzerkrankungen, ins Leben gerufen. Im Jahr 2016 gab es in Nepal bereits 42 Dialysezentren (eine Zunahme von 223 % seit 2010) und 36 Nephrologen, von denen zwölf auch Transplantationen vornehmen. Die Hälfte der Dialysezentren liegen in Kathmandu, obwohl dort seinerzeit nur 14,5 % der nepalesischen Bevölkerung lebte. (https://www.researchgate.net/publication /323201758_Free_dialysis_in_Nepal_Logistical_challenges_explored_Free_dialysis_in_Nepal). Im April 2017 ließ das nepalesische Gesundheitsministerium elf weitere Zentren für die Durchführung kostenfreier Dialysen zu. Im Rahmen des Hilfsprogramms konnten Patienten mit Nierenerkrankungen zunächst 208 für sie kostenfreie Dialysebehandlungen nutzen. Seit 2016 werden Dialysebehandlungen in unbegrenzter Zahl kostenfrei angeboten (Himalayan Times, Kidney Dialysis is completely free now, November 2016, thehimalayantimes.com/kithmandu/kidney-dialysis-completely-free-now/). Seit 2017 sind auch Nierentransplantationen in Nepal für diejenigen kostenfrei, die sie nicht bezahlen können (Kathmandu Post, Free of cost kidney transplant service from mid april: Health minister Thapa, 19. March 2017, kathmandupost.ekantipur.com/news/2017-03-09/free-of-cost-kidney-transplant-service-from-midapril-health-minister-thapa.html). Darüber hinaus wurden Regelungen zu Lebendspenden getroffen (https://globalpressjournal.com/asia/nepal/prevalence-kidney-disease-rises-nepal-proposal-seeks-helptransplant-patients/.)

50 Damit wäre für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Nepal die Fortsetzung der Dialyse mit den erforderlichen Behandlungen möglich und finanzierbar. Falls irgendwann erforderlich könnte sogar eine kostenlose Nierentransplantation durchgeführt werden. Der Kläger hat bislang nicht vorgetragen, dass eine Transplantation in absehbarer Zeit erforderlich oder beabsichtigt ist. Auch wenn sich die Behandlungsmöglichkeiten in den städtischen Bereichen, insbesondere in Kathmandu, konzentrieren, müsste sich der Kläger bei einer Rückkehr nach Nepal dort oder in einer der größeren Städte niederlassen, um die ausreichende medizinische Behandlung seiner Erkrankung zu gewährleisten und die Reisekosten gering zu halten. [...]