VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 03.02.2021 - 3 A 84/18 - asyl.net: M29427
https://www.asyl.net/rsdb/M29427
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für politisch aktives Paar aus Kolumbien:

Politisch aktiven Personen in Kolumbien steht im Einzelfall kein staatlicher Schutz und keine interne Schutzalternative zur Verfügung, wenn die verfolgenden Akteure über entsprechende Machtstrukturen verfügen. Vorliegend handelt es sich um ein politisch investigativ journalistisch tätiges Paar, deren Berichterstattung den Interessen eines Ex-Senators widersprach. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Kolumbien, Korruption, Journalist, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, Schutzbereitschaft, interner Schutz, politische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e
Auszüge:

[...]

29 Nach dem detailreichen und widerspruchsfreien Vortrag insbesondere des Klägers zu 1.) bestand infolge ihrer Tätigkeit als politisch investigative Journalisten unmittelbar bevorstehend Gefahr für ihr Leben infolge ihrer politischen Tätigkeit. Dabei steht die Tätigkeit des Klägers zu 1.) zwar eindeutig im Vordergrund. Jedoch ist auch die Klägerin zu 2.) unmittelbar bedroht worden, so dass ihr ein eigener Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf Anerkennung als Asylberechtigte zusteht.

30 Die von beiden Klägern übereinstimmend und emotional betroffen vorgetragenen telefonischen und schriftlichen Bedrohungen entsprechen zur Überzeugung des Gerichts der Wahrheit. Auch ohne dass die Kläger konkret an Leib oder Leben angegriffen worden wären, muss davon ausgegangen werden, dass ein solcher Angriff mit möglicherweise tödlichen Folgen für die Kläger unmittelbar bevorgestanden hat. Der Kläger hat, bestätigt durch das Vorbringen seiner Frau in der mündlichen Verhandlung, eindringlich vorgetragen, dass er im Rahmen seiner Stiftung ... nicht nur landesweit über einen youtube-Kanal juristische Beratung vorgenommen, sondern auch politische Informationen an die Öffentlichkeit weiter gegeben hat. Er hat in seiner Eigenschaft als investigativ tätiger Journalist auf politische Missstände, insbesondere Korruption aufmerksam gemacht. Die die persönliche Bedrohung auslösende Berichterstattung war diejenige über ein Minenprojekt in der Nähe seiner Heimatstadt, das die Trinkwasserversorgung der Stadt hätte gefährden können. Durch seine Berichterstattung ist die Bevölkerung der Stadt auf das Projekt aufmerksam geworden und ist dagegen auf die Straße gegangen. Dadurch wurde das Projekt bis heute verhindert. Mentor dieses Projekts, möglicherweise auch persönlicher Nutznießer, war und ist der ehemalige kolumbianische Senator H.. Infolge der Berichterstattung erhielten die Kläger sodann die telefonischen und schriftlichen Bedrohungen sowie Angriffe über die sozialen Medien. All dies haben die Kläger im Einzelnen nachvollziehbar und widerspruchsfrei und damit überzeugend vorgetragen. Auch den Zusammenhang der Bedrohung mit der Berichterstattung nimmt das Gericht mit den Klägern an. Es gab keine andere Veranlassung für die Drohung mit dem Tode, sollte man nicht mit der berichterstattenden Tätigkeit aufhören, als die Meldungen über das geplante, aber vor der Öffentlichkeit geheim gehaltene Minenprojekt. Die sehr detaillierten Schilderungen der Kläger decken sich mit den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln. Danach kommt es gerade auch in der Heimatregion der Kläger, der Provinz Valle del Cauca, immer wieder neben Kämpfen um Drogenanbaugebiete auch und gerade zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um bestimmte Minenprojekte (OHCR, Situation of human rights in Colombia, vom 08.05.2020 S. 3; HRW World Report 2020, S. 1, 3; KAS Länderbericht Kolumbien, 2/2019, S. 3).

31 Auch die Person des Exsenators I. ist nach dem überzeugenden Vorbringen der Kläger einerseits und nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln andererseits bekannt. Sie fügt sich in das von den Klägern geschilderte Bild eines korrupten und skrupellosen Politikers. Die Kläger schilderten in mündlicher Verhandlung zahlreichen Medienberichte über, aber auch von Prozessen gegen diesen Politiker. Zu letzteren legten sie eine Prozessliste der beim Obersten Gerichtshof gegen I. anhängigen Verfahren vor. Die Berichte bringen I. immer wieder in Verbindung mit Paramilitärs einerseits und Drogenclans andererseits. Der Kläger zu 1.) schilderte darüber hinaus – emotional sichtlich betroffen, aber ohne zu übertreiben – die Ermordung eines befreundeten politischen Mitstreiters in der Vergangenheit, die mit der Person des I. in Verbindung zu bringen gewesen ist. Zu einer strafrechtlichen Verfolgung ist es seinerzeit jedoch nicht gekommen. Über die Kontakte des I. mit Paramilitärs und Drogenclans berichtet auch die spanische Wikipediaseite (https.//es.wikipedia.org/wiki/Luis Arenas I.).

32 Diese Verfolgung hatte einen politischen Anknüpfungspunkt. Gemäß §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 b Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist unter dem Begriff der politischen Verfolgung insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Die Berichterstattung des Klägers und seiner Stiftung beruhte auf dieser Grundhaltung. Sie war auf Transparenz der politischen Entscheidungsprozesse und gegen die allfällige Korruption auf staatlicher Ebene gerichtet. Sie unterminierte damit die Einflussmöglichkeiten des politisch tätigen Ex-Senators I. und das von ihm unterstützte Minenvorhaben. Anders als die Beklagte meint, ist das Verfolgungsmotiv ebenso wenig wie die Berichterstattung des Klägers unpolitisch und von persönlichen Motiven gelenkt. Sie ist politisch.

33 Eine Gefahr für Leib, Leben oder Gesundheit der Kläger stand unmittelbar bevor. Die Drohungen gewannen nach den auch insoweit überzeugenden klägerischen Angaben immer mehr an Intensität und es war den Klägern nicht zuzumuten, abzuwarten, bis ihnen tatsächlich etwas zustieß. Bei lebensnaher Betrachtung handelt es sich nicht um eine bloße Vermutung, sondern in Anbetracht der Gesamtumstände um eine naheliegende Gefahr.

34 Da die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, setzt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft weiter voraus (§ 3 c Nr. 3 AsylG), dass der kolumbianische Staat in der Lage und willens ist, i.S.d. § 3 d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Dies ist für die Heimatregion der Kläger nicht der Fall. [...]

36 Unbestritten ist, dass der kolumbianische Staat über entsprechende Schutzgesetze gegen Übergriffe Dritter verfügt. Ebenso unbestritten und durch die Erkenntnislage belegt ist aber auch, dass der kolumbianische Staat in Gebieten, in denen es nach dem Rückzug der Farc-Rebellen infolge des Friedensabkommens 2016 zu Territorial- und Streitereien um Drogen und Rohstoffe gekommen ist, kaum effektive Präsenz auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zeigt. Er ist in den Bereichen der Strafverfolgung in diesen Gebieten quasi nicht existent (vgl. USDOS, Trafficking in Persons Report vom 25.06.2020, S. 1 f.; USDOS, Colombia 2019 Human Rights Report, S. 18; OHCR, Situation of human rights in Colombia, vom 08.05.2020 S. 3; BFA, Länderbericht Kolumbien vom 25.10.2018. S. 7, 11). Zu diesen Gebieten gehört die Provinz Valle del Cauca, die Heimatregion der Kläger. Hier ringen bekanntermaßen bewaffnete organisierte Gruppen um Einfluss und finden Übergriffe auf die dortige Bevölkerung statt, ohne das der Staat dagegen wirksamen Schutz bietet.

37 Bestätigt wird dies durch die vom Kläger zu 1.) in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Auskunftsschreiben des kolumbianischen Innenministeriums, an deren Echtheit zu zweifeln das Gericht keinerlei Anhalt hat. Der Kläger hat in seiner Eigenschaft als Vorstand der Stiftung ... beim Innenministerium nachgefragt, ob er konkret und ob soziale Führer generell unter staatlichen Schutz gestellt werden könnten. Er erhielt darauf die schriftliche Antwort, dass dies mangels staatlicher Kapazitäten nicht möglich sei. Darüber hinaus ergibt sich aus den vorgelegten Unterlagen, dass in den umkämpften Regionen selbst Personen, denen ein solcher Schutz gewährt worden ist, getötet worden sind.

38 Schließlich steht den Klägern interner Schutz i. S. v. § 3 e Abs. 1 AsylG nicht zur Seite, so dass ihre Ansprüche nicht nach dieser Norm ausgeschlossen sind. [...]

42 Ein solch interner Schutz steht kolumbianischen Staatsangehörigen nach der Rechtsprechung der Kammer grundsätzlich in den kolumbianischen Großstädten zur Verfügung, die nicht zu dem Einflussbereich der zwischen der Guerilla und der Regierung umstrittenen Gebieten Kolumbiens gehören. Sämtliche dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel berichten von gezielten Übergriffen von Banden und Guerilleros auf die Zivilbevölkerung lediglich in den nach Rückzug der Farc-Rebellen umkämpften Regionen Kolumbiens. Hierzu gehört insbesondere die Hauptstadt Bogota nicht. Deshalb geht das Gericht grundsätzlich davon aus, dass kolumbianischen Staatsangehörigen etwa in Bogota, aber auch in jeder anderen kolumbianischen Großstadt, die nicht in den umstrittenen Gebieten liegen eine Wohnsitznahme möglich und zumutbar ist. Auf jeden Fall finden die Kläger hier effektiven Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG (vgl. zuletzt Urteil vom13.10.2020 - 3 A 304/18 -; ebenso VG Braunschweig, Urteil vom 09.07.2019 - 3 A 187/19 -).

43 Die Kläger können indes nicht auf diese Möglichkeit verwiesen werden. Sie wären in keiner kolumbianischen Großstadt sicher. Die Besonderheit ihres Falles liegt darin begründet, dass ihr Verfolger, der Ex-Senator I., einerseits ein staatsnaher Politiker ist, der der regierenden Demokratischen Partei des Präsidenten Duque angehört, andererseits aber über gute Kontakte zur nationalen Polizei ebenso wie zu Paramilitärs und Drogenclans unterhält. Der Verfolger der Kläger ist daher nicht nur in deren Heimatregion, sondern über Partei und Staatsapparat in ganz Kolumbien gut vernetzt und in der Lage, überall Einfluss auszuüben. Ist bei einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure dieser Akteur mit dem Staat verbunden und arbeitet sogar mit den Behörden zusammen, kann von einem Verfolgten vernünftigerweise nicht erwartet werden, internen Schutz in Anspruch zu nehmen (vgl. Marx, a.a.O., § 3e Rn. 18). Hinzu kommt die landesweite Bekanntheit des Klägers zu 1.). Der Kläger hat hierzu nachvollziehbar dargelegt, dass er über seinen Youtube-Kanal und die dort betriebene internetgestützte Rechtsberatung in ganz Kolumbien bekannt ist. Sein Gesicht ist ein öffentliches und er selbst, wie er es beschreibt, eine öffentliche Person. Es ist daher davon auszugehen, dass er nicht lange unerkannt bleibt, wenn er sich in einer kolumbianischen Stadt niederlässt. Ist der Kläger zu 1.) erst einmal identifiziert, befindet sich auch die Klägerin zu 2.) in Gefahr neuer und weiterer Verfolgung. Beide Aspekte zusammen (landesweite Einflussmöglichkeiten des Verfolgers und allgemeine Bekanntheit des Verfolgten) rechtfertigen es, hier von der ständigen Rechtsprechung der Kammer und der Annahme interner Schutzmöglichkeiten abzuweichen. [...]