VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 05.03.2021 - 13 K 6587/17.A - asyl.net: M29444
https://www.asyl.net/rsdb/M29444
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für irakischen Mann, der sich der Zwangsrekrutierung durch den IS entzogen hat:

1. Jungen irakischen Männern, die sich der Zwangsrekrutierung durch den Islamischen Staat (IS) entzogen haben, ist nicht die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Da es sich bei jungen Männern nicht um eine soziale Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG handelt, fehlt es in diesen Fällen an einem flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund.

2. Der IS ist insbesondere in der Region um Mosul weiterhin im Untergrund aktiv, so dass Personen, die durch den IS als Verräter angesehen werden, die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung droht. Einer Person, die vor der Ausreise durch den IS misshandelt wurde und die sich der Zwangsrekrutierung durch den IS widersetzt hat, ist demnach der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen.

(Leitsätze der Redaktion; ob in Fällen von Zwangsrekrutierungen durch nichtstaatliche Akteure von dem Vorliegen eines Verfolgungsgrunds nach § 3b AsylG ausgegangen werden kann, ist umstritten, zustimmend z.B. für den afghanischen Kontext VG Karlsruhe, Urteil vom 31.08.2020 - A 12 K 815/18 - asyl.net: M29078, ablehnend für Personen aus dem Sinai VG Bremen, Urteil vom 08.05.2019 - 1 K 3059/17 - asyl.net: M27667).

Schlagwörter: Irak, Sunniten, Islamischer Staat, Mosul, Zwangsrekrutierung, Vorverfolgung, Verfolgungsgrund, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 4, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen Vorgaben ist das Bundesamt nicht zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Selbst wenn man den Vortrag des Klägers – der IS habe versucht ihn zu rekrutieren und bei Rückkehr in den Irak werde er verfolgt, weil er sich dem Rekrutierungsdruck nicht hingegeben, sondern das Land verlassen habe – als wahr unterstellt, kann hieraus keine Verpflichtung der Beklagten abgeleitet werden, ihn als Flüchtling im Sinne des § 3 AslyG anzuerkennen. Aus diesem Verfolgungsschicksal ergibt sich – auch bei Wahrunterstellung – kein Verfolgungsgrund im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 AsylG. Die versuchte aber im Ergebnis gescheiterte Zwangsrekrutierung und die daran anknüpfende Bedrohung des Klägers erfolgte nicht aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Zwar sind junge Männer, welche der IS vornehmlich versucht hat, zu rekrutieren – nach dem allgemeinen Sprachgebrauch eine "Gruppe". Für Qualifikation als bestimmte soziale Gruppe im Sinne der vorgenannten Vorschrift fehlt es jedoch schon an dem Merkmal der deutlich abgegrenzten Identität. Junge Männer werden von der sie umgebenden Gesellschaft nicht als andersartig betrachtet.

Die Klage ist jedoch mit ihrem ersten Hilfsantrag begründet. Der Kläger hat einen Anspruch gegenüber der Beklagten auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 2 AufenthG. [...]

Ausgehend hiervon ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger bei Rückkehr in den Irak eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht.

Für den Kläger streitet die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95 EU. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger — der nicht bereit war, für den IS zu arbeiten — von dem IS entführt und misshandelt wurde und damit vor seiner Ausreise aus dem Irak einen ernsthaften Schaden erlitten hat. Das Gericht hält den Vortrag des Klägers für glaubhaft. Er hat sein Verfolgungsschicksal im Rahmen der mündlichen Verhandlung unter größter erkennbarer innerer Anteilnahme geschildert und einen äußert glaubwürdigen Eindruck vermittelt.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sind keine stichhaltigen Gründe ersichtlich, die dagegen sprechen, dass eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung des Klägers — welcher in den Augen des IS nach der im Ergebnis erfolglos gebliebenen Zwangsrekrutierung ein Verräter ist — durch den IS — wie sie ihm bereits widerfahren ist – noch immer beachtlich wahrscheinlich ist. Zwar nimmt die Kammer an, dass der IS im Irak inzwischen in der Fläche besiegt wurde. Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse muss jedoch davon ausgegangen werden, dass der IS insbesondere auch in Mosul, der Herkunftsregion des Klägers, noch im Untergrund aktiv ist, sodass die hieraus für den Kläger individuell resultierende Gefahr, dass der IS ihn bei Rückkehr auffinden und für seinen "Verrat" bestrafen wird, auch nicht dauerhaft beseitigt ist. [...]