OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.02.2021 - OVG 3 S 8/21, OVG 3 M 10/21 - asyl.net: M29462
https://www.asyl.net/rsdb/m29462
Leitsatz:

Anwendbares Recht beim Kindernachzug zu drittstaatsangehörigen Familienmitgliedern von EU-Staatsangehörigen:

1. Beim Kindernachzug zu drittstaatsangehörigen Familienmitgliedern von EU-Staatsangehörigen ist nicht das Freizügigkeitsrecht, sondern das Aufenthaltsrecht anwendbar.

2. Erhöhte Anforderungen an die Integrationsfähigkeit beim Nachzug älterer Kindern (ab 16 Jahre) sind auch mit dem Unionsrecht vereinbar.

(Leitsätze der Reaktion)

Schlagwörter: Kindernachzug, EU-Staatsangehörige, Drittstaatsangehörige, Familienangehörige, freizügigkeitsberechtigt, Unionsbürgerrichtlinie, anwendbares Recht,
Normen: FreizügG/EU § 11 Abs. 9, AufenthG § 32 Abs. 1 Nr. 7, GG Art. 6, RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

3 Gemäß § 11 Abs. 9 FreizügG/EU richtet sich der Familiennachzug zu einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ohne selbst Unionsbürger zu sein, nicht nach dem Freizügigkeitsgesetz, sondern nach dem Aufenthaltsgesetz. Hier sind die Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes zum Familiennachzug zu Inhabern einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU entsprechend anzuwenden, § 11 Abs. 9 Satz 2 FreizügG/EU.

4 Soweit die Vorgängerregelung in § 4a Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU a. F., der die aktuelle Fassung in § 11 Abs. 9 FreizügG/EU im Wesentlichen entspricht, u.a. wegen der in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG geforderten Inländergleichbehandlung zum Teil als unionsrechtswidrig angesehen worden ist (vgl. Tewocht, in: BeckOK Ausländerrecht, § 4a FreizügG/EU Rn. 5b; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, § 4a FreizügG/EU Rn. 86f.), muss dies einer Klärung im Hauptsacheverfahren überlassen bleiben und kann jedenfalls nicht zur Bejahung eines die Hauptsache vorwegnehmenden Anordnungsanspruches führen. 5 Wendet man – wie in § 11 Abs. 9 Satz 2 FreizügG/EU gefordert – das die Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes zum Familiennachzug zu Inhabern einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU entsprechend an, lässt sich ein Anordnungsanspruch entgegen dem angegriffenen Beschluss nicht unter Hinweis auf § 32 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG bejahen. Danach ist dem minderjährigen ledigen Kind eines allein sorgeberechtigten ausländischen Elternteils, der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU besitzt, zwar eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. [...]

6 An der Vorschrift bestehen im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG keine Zweifel. Der Gesetzgeber hat seinen Gestaltungsspielraum nicht überschritten, indem er für ältere Kinder, die das 16. Lebensjahr bereits vollendet haben, zusätzliche Anforderungen hinsichtlich ihrer Integration stellt, wenn sie nicht gemeinsam mit dem allein sorgeberechtigten Elternteil oder ihren Eltern in das Bundesgebiet einreisen, weil das Elternteil bzw. die Eltern bereits seit längerem im Bundesgebiet leben. [...]

7 Auch im Hinblick auf Unionsrecht begegnet die Regelung keinen durchgreifenden Bedenken. Sie ist insbesondere mit der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vereinbar. Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 3 der Familienzusammenführungsrichtlinie lässt es ausdrücklich zu, dass ein Mitgliedstaat von Kindern, die älter als 12 Jahre sind und unabhängig vom Rest der Familie einreisen, Integrationsmaßnahmen verlangt. Hierzu zählen auch besondere Sprachkenntnisse (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. September 2017 – OVG 11 B 16.16 – juris Rn. 32 ff.). [...]