VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 13.04.2021 - 8 K 188/20 - asyl.net: M29575
https://www.asyl.net/rsdb/m29575
Leitsatz:

Kein Wohnberechtigungsschein bei laufendem Asylklageverfahren trotz Feststellung eines Abschiebungsverbots:

Wurde im Asylverfahren das Vorliegen eines Abschiebungsverbots festgestellt, und haben die Betroffenen wegen des laufenden Asylklageverfahrens und der damit einhergehenden Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 1 AufenthG noch keinen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 3 AufenthG erhalten, ist nicht von einem rechtlich verfestigtem Aufenthaltsstatus auszugehen. Es besteht dann kein Anspruch auf Ausstellung eines Wohnberechtigungsscheins nach § 27 WoFG.

(Leitsätze der Redaktion; entgegen VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.07.2013 - 3 S 1514/12 - asyl.net: M21072)

Schlagwörter: Wohnberechtigungsschein, WBS, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltsgestattung, Abschiebungsverbot, Titelerteilungssperre, Asylverfahren,
Normen: WoFG § 27, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 25 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

13 Die zulässige Verpflichtungsklage ist unbegründet. Die Ablehnung des beantragten Verwaltungsakts ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Er hat keinen Anspruch auf Erteilung eines Wohnberechtigungsscheins für sich und seine Familie.

14 Rechtsgrundlage für die Erteilung eines Wohnberechtigungsscheins ist § 5 des Gesetzes zur Sicherung der Zweckbestimmung von Sozialwohnungen (Wohnungsbindungsgesetz – WoBindG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. September 2001 (BGBl. I S. 2404, zuletzt geändert durch Verordnung vom 19. Juni 2020, BGBl. I S. 1328) in Verbindung mit § 27 Abs. 1 bis 5 des Gesetzes über die soziale Wohnraumförderung (Wohnraumförderungsgesetz – WoFG) vom 13. September 2001 (BGBl. I S. 2376, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. November 2019, BGBl. I S. 1626).

15 Gemäß § 5 WoBindG wird die Bescheinigung über die Wohnberechtigung (Wohnberechtigungsschein) in entsprechender Anwendung des § 27 Abs. 1 bis 5 WoFG erteilt. § 27 Abs. 2 Satz 1 WoFG bestimmt, dass der Wohnberechtigungsschein auf Antrag des Wohnungssuchenden für die Dauer eines Jahres erteilt wird. Antragsberechtigt sind gemäß Satz 2 dieser Vorschrift Wohnungssuchende, die sich nicht nur vorübergehend im Geltungsbereich des Wohnraumförderungsgesetzes aufhalten und die rechtlich und tatsächlich in der Lage sind, für sich und ihre Haushaltsangehörigen auf längere Dauer einen Wohnsitz als Mittelpunkt der Lebensführung zu begründen und dabei einen selbstständigen Haushalt zu führen.

16 Die Erteilung eines Wohnberechtigungsscheins an einen Ausländer setzt demnach nicht nur die Prognose voraus, dass dieser faktisch über längere Zeit im Bundesgebiet verbleiben wird, sondern auch, dass er einen rechtlich verfestigten Aufenthaltsstatus besitzt (VG Berlin, Urteil vom 15. Juli 2016 – VG 8 K 57/16 –, juris Rn. 15). [...]

19 Für die Auslegung des Begriffs "auf längere Dauer“ ist § 27 Abs. 2 Satz 1 WoFG zu berücksichtigen, wonach der Wohnberechtigungsschein für die Dauer eines Jahres erteilt wird. Die rechtliche Möglichkeit der Wohnsitznahme in Deutschland muss also jedenfalls für die Dauer eines Jahres gewährleistet sein (VG Berlin, Urteil vom 15. Juli 2016 – VG 8 K 57/16 –, juris Rn. 16; Otte, in: Fischer-Dieskau/Pergande/Schwender, Wohnungsbaurecht, Band 1, Stand: Januar 2015, § 27 WoFG, Anm. 3.2, S. 12).

20 Ein Ausländer ist danach jedenfalls dann rechtlich in der Lage, auf längere Dauer einen Wohnsitz im Bundesgebiet zu begründen, wenn er über einen Aufenthaltstitel im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 2 bis 4, Abs. 2 AufenthG verfügt, der für noch mindestens ein Jahr gültig ist.

21 Eine Erstreckung des Kreises der antragsberechtigten Ausländer auf die Inhaber einer Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 Asylgesetz (AsylG) hat die Kammer verneint (vgl. Urteil vom 15. Juli 2016 – VG 8 K 57/16 – juris Rn. 17 ff.). [...]

22 Der Kläger und seine Familienangehörigen verfügen nicht über Aufenthaltstitel. Vielmehr ist ihr Aufenthalt weiterhin gemäß § 55 Abs. 1 AsylG gestattet, da die Entscheidung über ihren Asylantrag noch nicht unanfechtbar ist. Hieraus können sie, wie dargelegt, indes keine Antragsberechtigung für einen Wohnberechtigungsschein ableiten. Daran ändert auch die bisherige Dauer ihres gestatteten Aufenthalts in Deutschland nichts, zumal allein die bisherige Dauer des Asylverfahrens nichts über dessen weitere Dauer besagt.

23 Eine im Sinne der Antragsberechtigung für einen Wohnberechtigungsschein zu verstehende rechtliche Billigung des Aufenthalts des Klägers und seiner Familienangehörigen folgt auch nicht aus der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG durch das Bundesamt. Daraus ergibt sich weder unmittelbar noch ohne Weiteres, dass ein längerfristiger Aufenthalt in Deutschland rechtlich gebilligt würde. Die Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots durch das Bundesamt begründet zunächst lediglich das an den Staat gerichtete Verbot, den Ausländer in sein Herkunftsland abzuschieben. [...]

25 Die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG hat nicht zur Folge, dass der Aufenthalt als erlaubt gilt, und vermittelt auch keinen unbedingten Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Gemäß § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll dem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt. [...]

26 Zwar ist bei einer Soll-Regelung wie § 25 Abs. 3 AufenthG die Entscheidung der Verwaltung insoweit gebunden, als bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen die Rechtsfolge regelmäßig vorgezeichnet ist. In atypischen Ausnahmefällen, die gerade nicht in abschließender Weise durch den Gesetzgeber vollumfänglich ausformuliert sind, ist jedoch ein Rechtsfolgenermessen eröffnet (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2016 – BVerwG 1 C 23/15 –, juris Rn. 21). Bei Vorliegen eines der in § 25 Abs. 3 Satz 2 und 3 AufenthG aufgeführten Versagungsgründe darf auch bei Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt werden. In diesen Fällen missbilligt der Gesetzgeber einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland.

27 Die Entscheidung über aufenthaltsrechtliche Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz und damit auch über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG weist § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG den Ausländerbehörden zu. Zuständige Ausländerbehörde ist nach § 2 Abs. 4 des Allgemeinen Gesetzes zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin in Verbindung mit Nr. 36 der Anlage hierzu (Zuständigkeitskatalog Ordnungsaufgaben) das Landesamt für Einwanderung. Die Ausländerbehörde hat zu würdigen, ob ein atypischer Ausnahmefall vorliegt, in dem trotz Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Es ist nicht Aufgabe der Wohnungsämter, zu prüfen und zu entscheiden, ob eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG zu erteilen ist. Die aufenthaltsrechtliche Prüfung erfordert entsprechende Rechts- und Tatsachenkenntnisse. Sie kann erst nach Sichtung jedenfalls der Ausländerakte einschließlich der darin enthaltenen Dokumente aus dem Asylverfahren unter Beteiligung des Ausländers getroffen werden und ist unter Umständen mit komplexen Bewertungen sowie einer Ermessensentscheidung verbunden. Sie kann nicht im Rahmen des Massenverfahrens der Erteilung von Wohnberechtigungsscheinen vom Wohnungsamt antizipiert werden. § 27 Abs. 2 Satz 2 WoFG verlangt nicht, dass die Wohnungsämter in Zweifelsfällen eine derartige aufenthaltsrechtliche Prüfung vornehmen müssen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Beurteilung der Berechtigung zu einem längerfristigen Aufenthalt auf Grundlage des Dokuments erfolgen soll, das dem Ausländer auch im Übrigen zum Nachweis seines Aufenthaltsstatus im Rechtsverkehr dient. Dies ist in der Regel der Aufenthaltstitel.

28 Daraus, dass der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im Fall einer wegen eines dauerhaften rechtlichen Abschiebehindernisses aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geduldeten Ausländerin eine rechtliche Verfestigung des Aufenthaltsstatus angenommen hat (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juli 2013 – VGH 3 S 1514/12 –, juris Rn. 32 ff. zu einer im hier betroffenen Punkt wie § 27 Abs. 2 Satz 2 WoFG formulierten Landesnorm), kann der Kläger nichts herleiten. Die Kammer teilt nicht die der Entscheidung zu Grunde liegende Auffassung, dass bereits in einem dauerhaften rechtlichen Abschiebungshindernis eine rechtliche Billigung des Aufenthalts zu sehen sei.

29 Auch insoweit gilt, dass die nach § 27 Abs. 2 Satz 2 WoFG erforderliche rechtliche Billigung des Aufenthalts nicht bereits aus dem Vorliegen eines dauerhaften rechtlichen Abschiebungshindernisses folgt, sondern erst durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG eintritt (vgl. VG Berlin, Urteil vom 15. Juli 2016 – VG 8 K 57.16 –, juris Rn. 22; Beschluss vom 27. März 2015 – VG 7 K 236.14 –, juris Rn. 5). Die Unmöglichkeit der Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen führt gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zur Aussetzung der Abschiebung (Duldung). Diese dokumentiert das Abschiebungshindernis, ist aber nicht gleichbedeutend mit der rechtlichen Billigung eines längerfristigen Aufenthalts im Bundesgebiet. Das Aufenthaltsgesetz trifft differenzierte Regelungen über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an Ausländer, die nicht abgeschoben werden dürfen oder können. [...]

30 Es ist dem Landesgesetzgeber unbenommen, den Kreis der für einen Wohnberechtigungsschein Antragsberechtigten zu erweitern. Das gemäß Art. 125a Abs. 1 GG als Bundesrecht fortgeltende Wohnraumförderungsgesetz kann durch Landesrecht ersetzt werden. Ohne gesetzliche Regelung stellt sich die an der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg orientierte Verwaltungspraxis des Beklagten, einen Wohnberechtigungsschein im Einzelfall auch an Geduldete zu erteilen, denen ein dauerhaftes rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zur Seite steht (Mitteilung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt Nr. 1/2014), aus den vorgenannten Gründen aber als rechtswidrige Begünstigung dar. Ein Anspruch ebenfalls rechtswidrig begünstigt zu werden, kann daraus nicht hergeleitet werden. Art. 3 Abs. 1 GG gewährt keinen Anspruch auf Gleichheit im Unrecht (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Februar 1993 – BVerwG 8 C 20/92 –, juris Rn. 14 m.w.N.).

31 Mit dem Innehaben einer Ausbildungsduldung (§ 60a Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 60c AufenthG) ist die Situation des Klägers und seiner Familienangehörigen nicht vergleichbar. Aufgrund der gesetzlichen Konzeption der Ausbildungsduldung (vgl. hierzu VG Berlin, Urteile vom 25. Juni 2019 – VG 8 K 202/18 –, juris Rn. 38 ff., vom 1. August 2019 – VG 8 K 162/19 –, juris Rn. 26 ff. und vom 24. Januar 2021 – VG 8 K 81/20 –, juris Rn. 26 ff.) ist nicht zweifelhaft, dass der Aufenthalt von Inhabern solcher Duldungen rechtlich gebilligt wird. Insbesondere werden vor deren Ausstellung die Ausschlussgründe nach § 60c Abs. 2 AufenthG geprüft. Die erforderliche Dauerhaftigkeit des Aufenthaltsrechts kann der Gültigkeitsdauer der Ausbildungsduldung entnommen werden.

32 Der Umstand, dass die Kinder des Klägers inzwischen unter die Regelung des § 25a AufenthG (Aufenthaltsgewährung bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden) fallen mögen, führt ebenfalls zu keiner anderen Bewertung. Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ist danach ebenfalls als Sollvorschrift mit einer Reihe von Voraussetzungen (§ 25a Abs. 1 Nr. 1 bis 5 AufenthG) sowie Ausschlussgründen (§ 25a Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 AufenthG) ausgestaltet. Auch hier obliegt die Entscheidung über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis der Ausländerbehörde und kann nicht vom Wohnungsamt antizipiert werden. Erst mit der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis wird der Aufenthalt rechtlich gebilligt.

33 Es mag schließlich zutreffen, dass der Kläger und seine Familienangehörigen nur wegen des noch nicht abgeschlossenen Asylklageverfahrens bisher nicht in Besitz von Aufenthaltserlaubnissen gelangt sind. Nach § 10 Abs. 1 AufenthG kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, vor dem bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens ein Aufenthaltstitel außer in den Fällen eines gesetzlichen Anspruchs nur mit Zustimmung der obersten Landesbehörde und nur dann erteilt werden, wenn wichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland es erfordern (sogenannte Titelerteilungssperre). [...]

34 Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 12. Juli 2016 – BVerwG 1 C 23/15 –, juris und vom 17. Dezember 2015 – BVerwG 1 C 31/14 – juris) ist damit auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG ausgeschlossen, wenn zwar die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG durch das Bundesamt, nicht aber die Entscheidung über den Asylantrag (§ 13 Abs. 1, 2 Satz 1 AsylG) bestandskräftig geworden ist. Dies führt dazu, dass Asylantragsteller mit durch das Bundesamt festgestelltem Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG, die gegen die Ablehnung ihres Asylantrags gerichtlich vorgehen und damit ihr Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG wahrnehmen, anders behandelt werden als solche Asylantragsteller mit Abschiebungsschutz, die dies nicht tun. Während Erstere während eines unter Umständen Jahre dauernden asylrechtlichen Klageverfahrens weiterhin nur über eine Aufenthaltsgestattung verfügen, soll Letzteren eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt werden.

35 Es handelt sich indes um eine aufenthaltsrechtliche Differenzierung, die sich nur mittelbar auf den Zugang zu der Wohnungsbindung unterliegendem Wohnraum auswirkt. Die Antragsberechtigung für einen Wohnberechtigungsschein knüpft zulässigerweise an die rechtliche Billigung eines längerfristigen Aufenthalts an, die sich nach dem Aufenthaltsrecht bestimmt. Soweit der Kläger meint, dass der Status der Aufenthaltsgestattung der Situation seiner Familie nicht gerecht wird, ist er – auch in Ansehung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 10 Abs. 1 AufenthG – auf ein aufenthaltsrechtliches Verfahren zu verweisen. [...]