OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 18.03.2021 - 8 LB 97/20 (Asylmagazin 9/2021, S. 346 ff.) - asyl.net: M29586
https://www.asyl.net/rsdb/m29586
Leitsatz:

Passbeschaffung für subsidiär Schutzberechtigte aus Eritrea grundsätzlich zumutbar:

"1. Subsidiär Schutzberechtigten ist es grundsätzlich nicht i.S.v. § 5 Abs. 1 AufenthV unzumutbar, sich bei den Auslandsvertretungen ihres Herkunftslandes um die Ausstellung eines Nationalpasses zu bemühen.

2. Eritreischen Staatsangehörigen ist es ohne Hinzutreten weiterer Umstände grundsätzlich zumutbar, sich um einen Nationalpass zu bemühen und die von der eritreischen Auslandsvertretung in diesem Zusammen­hang geforderte Aufbausteuer in Höhe von 2 % zu zahlen sowie die sog. Reueerklärung, die von allen illegal ausgereisten eritreischen Staatsangehörigen im dienstfähigen Alter für die Inanspruchnahme konsularischer Dienstleistungen gefordert wird, zu unterzeichnen.

3. Allein die Erlangung des sog. Diaspora-Status führt nicht zum Widerruf des subsidiären Schutzstatus und steht damit der Zumutbarkeit der Beantragung eines eritreischen Nationalpasses nicht entgegen."

(Amtliche Leitsätze)

 

Anmerkung:

• Corinna Ujkašević: »Was ist Eritreer*innen zumutbar?« Anmerkung zur Entscheidung des OVG Niedersachsen, Asylmagazin 9/2021, S. 349–350.

Schlagwörter: subsidiärer Schutz, Eritrea, Nationaldienst, Reiseausweis für Ausländer, Nationalpass, Passbeschaffung, Reueerklärung, Gewissensentscheidung, Diasporasteuer, staatsbürgerliche Pflicht, Gewissensfreiheit,
Normen: AufenthV § 5, AsylG § 4
Auszüge:

[...]

23 Der Bescheid des Beklagten vom 9. April 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, denn er hat keinen Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer. [...]

26 3. Jedoch kann der Kläger einen eritreischen Pass auf zumutbare Weise erlangen. [...]

31 aa) Der Zumutbarkeit der Passbeantragung steht nicht entgegen, dass das Bundesamt dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuerkannt hat.

32 Subsidiär Schutzberechtigten ist es grundsätzlich zumutbar, sich bei den Auslandsvertretungen des Herkunftsstaates um die Ausstellung eines Nationalpasses zu bemühen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 17.5.2016, NVwZ-RR 2016, 678, juris Rn. 5; Bayerischer VGH, Beschl. v. 17.10.2018 - 19 ZB 15.428 -, NVwZ-RR 2019, 484, juris Rn. 6 ff.; VG Gießen, Urt. v. 28.7.2016 - 6 K 3108/15.GI -, juris Rn. 17). Ihre Rechtsstellung in Bezug auf die Erlangung von Reisedokumenten ist anders geregelt als die der Flüchtlinge. [...]

33 Eine Unzumutbarkeit der Passbeantragung bei der eritreischen Auslandsvertretung folgt nicht unter Berücksichtigung der in § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG enthaltenen Wertung. Danach erlöschen die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft - beziehungsweise sie werden seit Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes - Asylverfahrensrichtlinie - zum 20.7.2015 vom Bundesamt widerrufen (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 72 AsylG Rn. 1) -, wenn der Ausländer sich freiwillig durch Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses oder durch sonstige Handlungen erneut dem Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt. Jedoch ist § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG vorliegend weder direkt noch analog anwendbar. Dem steht bereits der eindeutige Wortlaut entgegen, wonach die Regelung ausschließlich für anerkannte Asylberechtigte und Flüchtlinge gilt. [...]

34 Angesichts der grundsätzlich unterschiedlichen Schutzrichtung von Flüchtlingsschutz und subsidiärem Schutz ist es ohne Hinzutreten besonderer Umstände nicht angängig, das "Verfolgungsschicksal" eines subsidiär Schutzberechtigten bei wertender Betrachtung als im materiellen Kern und vom Ergebnis her mit demjenigen eines Flüchtlings vergleichbar und die Passbeantragung bei dem Konsulat des die Gefahr des ernsthaften Schadens verursachenden Staats als unzumutbar anzusehen (so Bayerischer VGH, Urt. v. 18.1.2011 - 19 B 10.2157 -, AuAS 2011, 40, juris Rn. 31; Beschl. v. 17.10.2018 - 19 ZB 15.428 -, NVwZ-RR 2019, 484, juris Rn. 12; VG Köln, Urt. v. 4.12.2019 - 5 K 7317/18 -, Asylmagazin 2020, 49, juris Rn. 31 ff.; VG Aachen, Urt. v. 10.6.2020 - 4 K 2580/18 -, juris Rn. 32 ff.). [...]

35 Wollte man die Unzumutbarkeit allein auf einen Vergleich von Flüchtlingseigenschaft und subsidiärem Schutzstatus stützen und hierbei in Bezug auf einzelne Tatbestandsmerkmale (hier den Verfolgungsgrund) eine Angleichung der Rechtsfolgen vornehmen, würde dies der eindeutigen gesetzlichen Regelung und dem darin zum Ausdruck gebrachten Willen zuwiderlaufen, Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte gerade im Hinblick auf die Ausstellung von Reiseausweisen für Ausländer nicht gleich zu behandeln. Die Unterschiede zwischen Art. 25 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie und § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG einerseits und Art. 25 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie und § 73b AsylG andererseits würden so verwischt. Das Gericht ist daher der Ansicht, dass auch in dem Falle, dass der drohende ernsthafte Schaden im Sinne des § 4 AsylG auf eine Bedrohung durch staatliche Behörden zurückgeht, eine Unzumutbarkeit i.S.d. § 5 Abs. 1 AufenthV nur besteht, wenn weitere Umstände, wie etwa die begründete Furcht der Gefährdung der im Heimatland lebenden Verwandten (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 17.10.2018 - 19 ZB 15.428 -, NVwZ-RR 2019, 484, juris Rn. 12), hinzutreten. Daran fehlt es hier.

36 bb) Die vom Kläger im Verwaltungsverfahren geltend gemachte Befürchtung, ein Vorsprechen bei der eritreischen Botschaft könne zu Repressalien gegenüber seinen in Eritrea lebenden Familienangehörigen führen, ist nach der aktuellen Erkenntnislage unbegründet. [...]

37 cc) Eine Unzumutbarkeit für den Kläger, sich um die Ausstellung eines eritreischen Nationalpasses zu bemühen, folgt ferner nicht aus dem Erfordernis der Zahlung einer Aufbausteuer von 2 %. Die Bezahlung dieser Steuer ist zwar notwendige Voraussetzung für die Inanspruchnahme konsularischer Leistungen der zuständigen eritreischen Auslandsvertretungen durch Auslandseritreer (DSP-groep Amsterdam, Tilburg University, The 2 % Tax, Juni 2017, insbesondere S. 83 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Reflexverfolgung, Rückkehr und "Diaspora-Steuer", 30.9.2018, S. 7 f.; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 60; ACCORD, Anfragebeantwortung: Möglichkeit der Ausstellung von amtlichen Dokumenten durch Botschaften, 28.5.2020; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 9.12.2020 i. d. F. v. 25.1.2021, S. 27 f.). Sie ist dem Kläger aber zumutbar.

38 Nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 2 und Nr. 4 AufenthV gelten insbesondere die Erfüllung zumutbarer staatbürgerlichen Pflichten und die Zahlung der vom Herkunftsstaat allgemein festgelegten Gebühren für die behördlichen Maßnahmen als zumutbar. Als staatsbürgerliche Pflicht in diesem Sinne ist nach dem ausdrücklichen Willen des Verordnungsgebers beispielsweise die Zahlung von Steuern und Abgaben anzusehen (BR-Drs. 731/04, S. 152). Lediglich auf willkürlicher Grundlage erhobene Gebühren oder die Zahlung von Bestechungsgeldern sollen nicht zumutbar sein (BR-Drs. 731/04, S. 153). [...]

39 Bei der Diaspora-Steuer handelt es sich um eine solche Steuer, deren Zahlung zu den staatsbürgerlichen Pflichten zählt. [...]

40 Die Höhe der zu entrichtenden Steuer lässt sich im Einzelfall zwar nicht ohne Weiteres bestimmen, da beispielsweise einige Gesprächspartner der Tilburg University darüber berichtet haben, dass die Aufbausteuer anhand des Bruttoeinkommens berechnet werde (DSP-groep Amsterdam, Tilburg University, The 2 % Tax, Juni 2017, S. 82), wohingegen Nr. 2 der Proklamation Nr. 67/1995 - Eritrea - von 2 % des Nettoeinkommens spricht. [...]

41 Die unterschiedlichen Angaben zur Höhe der im Einzelfall zu entrichtenden Steuer führen jedoch nicht dazu, dass die Diaspora-Steuer als generell willkürlich und deshalb als unzumutbar anzusehen wäre. [...]

42 Es ist im Übrigen nicht ersichtlich, dass die Aufbausteuer gegen völkerrechtliche Regeln oder gegen deutsches Recht verstoßen würde. Es ist insbesondere weder eine Erhebung der Diaspora-Steuer durch unerlaubte Mittel ersichtlich noch eine völkerrechtswidrige Verwendung der eingenommenen Steuern feststellbar (hierzu ausführlich VG Gießen, Urt. v. 28.7.2015 - 6 K 3108/15.GI -, juris Rn. 23 f.; vgl. auch VG Wiesbaden, Urt. v. 8.6.2020 - 4 K 2002/19.WI -, Asylmagazin 2020, 269, juris Rn. 22).

43 Eine Unzumutbarkeit der Zahlung der Aufbausteuer ergibt sich im Einzelfall des Klägers nicht etwa aus der Höhe der zu zahlenden Steuer. Das gilt zunächst, wenn der Kläger im Einklang mit den überwiegenden Angaben in den Erkenntnismitteln sowie gemäß den Vorgaben in der Proklamation Nr. 67/1995 - Eritrea - die 2-%-Steuer auf das Nettoeinkommen zu leisten hat und der Zeitraum seit der Ausreise des Klägers im Jahr 2012 wegen des unterstellten Bezugs von Sozialleistungen bei der Berechnung unberücksichtigt bleibt. [...]

44 dd) Dass der Kläger gegenüber dem Konsulat eine Reueerklärung ("letter of regret" oder "repentance letter") abzugeben hätte, führt nicht zur Unzumutbarkeit der Erlangung eines Nationalpasses. [...]

45 (1) Aufgrund der im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Tatsachenentscheidung zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel steht fest, dass alle illegal ausgereisten eritreischen Staatsangehörigen im dienstfähigen Alter und entgegen der Auffassung des Beklagten unabhängig davon, ob sie sich dem Wehrdienst entzogen haben oder gar desertiert sind, konsularische Dienstleistungen wie die Ausstellung eines Reise passes nur gegen Abgabe einer sogenannten Reueerklärung in Anspruch nehmen können. [...]

51 (2) Dem Kläger ist es entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts zumutbar, die von der eritreischen Auslandsvertretung geforderte Reueerklärung zu unterzeichnen.

52 Das bloße Erfordernis der Unterzeichnung der Reueerklärung allein ist von vornherein nicht geeignet, eine Unzumutbarkeit der Passbeschaffung zu begründen. Die dem Beklagten mitgeteilte Auffassung der Bundesregierung (vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, E-Mail v. 13.7.2018, M2-20105/56#43, Bl. 64 der Gerichtsakte) ist im Ergebnis zutreffend.

53 Das gilt offensichtlich in den Fällen, in denen die Abgabe tatsächlich erfolgt. [...]

54 Es gilt aber auch, wenn der Betroffene subjektiv nicht bereit ist, die Reueerklärung zu unterschreiben. Der entgegenstehende Wille ist angesichts des bei verständiger Würdigung nicht ernsthaft belastenden Inhalts der Erklärung und des Fehlens objektiv nachteiliger Folgen ihrer Unterzeichnung unbeachtlich. Auch eine grundrechtsfreundliche Auslegung gebietet es nicht, eine Unzumutbarkeit der Passbeantragung aufgrund eines solch entgegenstehenden Willens anzunehmen.

55 Einschlägig ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und nicht etwa das Grundrecht der Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG. Die Gewissensfreiheit schützt allein die Gewissensentscheidung. Eine solche Gewissensentscheidung ist nicht bereits jede relative Entscheidung über die Zweckmäßigkeit menschlichen Verhaltens aufgrund ernsthafter und nachdrücklicher Auffassung von guter politischer Ordnung und Vernunft, sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Nützlichkeit, sondern ausschließlich die ernste sittliche, das heißt an den Kategorien von "Gut" und "Böse" orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, sodass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte. Die Gewissensentscheidung muss also den Charakter eines unabweisbaren, den Ernst eines die ganze Persönlichkeit ergreifenden sittlichen Gebots, einer inneren Warnung vor dem Bösen und eines unmittelbaren Anrufs zum Guten tragen (st. Rspr. BVerfG, Beschl. v. 20.12.1960 - 1 BvL 21/60 -, BVerfGE 12, 45, juris Rn. 30 f.; Urt. v. 13.4.1978 - 2 BvF 1/77 u.a. - BVerfGE 48, 127, juris Rn. 83; v. 26.2.2020 - 2 BvR 2347/15 -, BVerfGE 153, 182, juris Rn. 309; Bethge, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 3. Aufl. 2009, § 158 Rn. 20).

56 Zwar hat der Kläger den Begriff des Gewissens im Zusammenhang mit der Ablehnung der Diaspora-Steuer in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht verwandt und damit möglicherweise zugleich zum Ausdruck bringen wollen, dass auch die Abgabe einer Reueerklärung gegen seine innere Überzeugung verstoßen würde. Hieraus ergibt sich jedoch nicht das Vorliegen einer Gewissensentscheidung im grundrechtlichen Sinne. Es ist nicht erkennbar und nicht vorgetragen, dass es dem Kläger um eine sittliche Pflicht oder um eine Ausrichtung seines Handelns anhand moralischer Werte ginge. Nach seinem Vortrag liefe die Abgabe der Reueerklärung allenfalls seiner Auffassung von guter politischer Ordnung und sozialer Gerechtigkeit zuwider. So hat er ausschließlich seine ablehnende Haltung gegenüber dem eritreischen Staat und der Möglichkeit der Bereinigung der Verhältnisse durch die Beantragung des Diaspora-Status dargestellt. Er hat deutlich gemacht, dass er schlicht nicht gewillt ist, dem eritreischen Staat eine Gegenleistung für die Inanspruchnahme staatlicher Leistungen, die ihm allein aufgrund seiner Staatsangehörigkeit gebührten, zu erbringen. Würde ihn die Reueerklärung hingegen in echte Gewissensnöte bringen, so wäre zudem zu erwarten gewesen, dass er dies vorrangig und bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgetragen hätte.

57 Demgegenüber ist im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung nach § 5 Abs. 1 AufenthV das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG zu berücksichtigen. [...]

58 Nach diesen Maßstäben ist der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zwar betroffen. Nach ihrem reinen Wortlaut enthält die Reueerklärung einerseits ein selbstbelastendes Schuldeingeständnis und andererseits die Erklärung von Reue als solcher. Aus den weiteren Umständen ergibt sich aber, dass Abgabe und Entgegennahme der Erklärung mit einer geringen Ernsthaftigkeitserwartung einhergehen und dass die tatsächlichen Folgen dem Erklärungsinhalt widersprechen. Deswegen ist nicht nur die Belastung durch die Abgabe der Reueerklärung und deren Folgen gering, der Erklärungsinhalt wird auch nicht als kennzeichnend für die Persönlichkeit des Erklärenden verstanden.

59 Soweit der eritreische Staat die Erklärung der Reue als solche verlangt, handelt es sich zwar dem Wortlaut nach um eine die eigene Ehre betreffende Erklärung, die ersichtlich im Widerspruch zur inneren Einstellung des Klägers steht. Sie betrifft dessen vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschützte Ehre und seine Selbstdarstellung gegenüber Dritten indes nur in einem äußert untergeordneten Maße. Die Erklärung, es zu bereuen, den nationalen Pflichten nicht nachgekommen zu sein, ist unter Berücksichtigung der Gesamtumstände bei wertender Betrachtung nicht etwa so zu verstehen, dass hiermit eine echte Reue des Unterzeichnenden bekundet wird. Hierfür spricht bereits, dass eine Vielzahl von Auslandseritreern diese Erklärung freiwillig unterzeichnen, um die mit dem Diaspora-Status verbundenen Vorteile zu erlangen (s. o.). Es ist angesichts der gravierenden Menschenrechtsverletzungen, die hunderttausende Menschen dazu bewegen, ihr Land zu verlassen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 9.12.2020 i. d. F. v. 25.1.2021, S. 5 unter Bezugnahme auf die UN-Sonderberichterstatterin für Eritrea), aber nicht anzunehmen, dass diese Personen ihre Flucht und die damit verbundene Entziehung von der schwer belastenden Dienstpflicht ernsthaft bereuen. Dagegen spricht auch, dass die Situation, in der die Erklärung abgegeben wird, gar keinen Anlass bietet, in eine ernsthafte Reflexion über eigene Schuld oder Verantwortlichkeit für ein vermeintliches Fehlverhalten einzutreten. Die Erklärung dient der Erlangung des Diaspora-Status und ist Vorbedingung für konsularische Dienstleistungen. Sie wird auf einem Formular abgegeben, das ansonsten der Erfassung der persönlichen Daten dient. Weder der eritreische Staat noch ein Dritter, der von der Erklärung Kenntnis erhält, hat Grund zu der Annahme, der Erklärende bekunde ernsthaft Abscheu gegenüber einem vorangegangenen Fehlverhalten. Die mangelnde Ernsthaftigkeit des gesamten Passus wird weiter daran deutlich, dass, wie unten ausgeführt wird, auch die Erklärung, jede Strafe auf sich zu nehmen, eine dem Wortlaut gegenteilige Wirkung hat und das Bestrafungsrisiko senkt. Die Bedeutung der Reueerklärung liegt nach alldem nicht in der im Wortlaut enthaltenen Reue, sondern in dem Akt der Unterschrift, der eine Anerkennung der staatlichen Souveränität und Vorherrschaft Eritreas durch den Unterzeichnenden symbolisiert. Im Passantragsverfahren stellt sie damit eine bloße Formalie dar, mit der der Unterzeichnende zu erkennen geben soll, dass er den eritreischen Staat akzeptiert. [...]

61 Das darüber hinaus in der Reueerklärung enthaltene Eingeständnis, den nationalen Pflichten nicht nachgekommen zu sein, und eine eventuell hierfür verhängte angemessene Strafe zu akzeptieren, führt zu keiner anderen Einschätzung. Auch insoweit ist dem Kläger die Abgabe der Erklärung im Passantragsverfahren vor der eritreischen Auslandsvertretung zumutbar.

62 Mit dem in der Reueerklärung enthaltenen Geständnis gibt der Kläger weder eine unwahre Erklärung ab, noch schafft er die Grundlage für eine Bestrafung. Aus der Sicht des eritreischen Staates hat sich der Kläger durch die illegale Ausreise seinen nationalen Verpflichtungen entzogen (s. o.). Sowohl die illegale Ausreise als auch die Entziehung vom Nationaldienst stellen nach eritreischem Recht Straftaten dar, wobei zumindest letztere von den eritreischen Behörden auch tatsächlich geahndet wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 9.12.2020 i. d. F. vom 25.1.2021, S. 14, 21 f.). Hierbei handelt es sich jedoch nicht um verborgene Straftaten, die dem eritreischen Staat durch die Unterzeichnung der Reueerklärung erstmals zur Kenntnis gebracht würden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass dem eritreischen Staat durchaus bekannt ist, dass der Kläger das Land auf illegalem Weg verlassen hat und damit für den Nationaldienst nicht zur Verfügung steht. [...] Der Kläger muss daher bereits unabhängig von der Abgabe der Reueerklärung eine Inhaftierung auf unbestimmte Zeit ohne rechtsstaatliches Verfahren und unter widrigen Bedingungen gerade wegen der Nichterfüllung der nationalen Pflichten befürchten, weshalb ihm das Bundesamt den subsidiären Schutzstatus zuerkannt hat (vgl. zudem Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 9.12.2020 i.d.F. vom 25.1.2021, S. 20). Von einem Einverständnis des Betroffenen macht der eritreische Staat die Bestrafung offensichtlich nicht abhängig. Vor diesem Hintergrund erhöht die Abgabe der Reueerklärung das Risiko einer Strafverfolgung gegenüber dem in Eritrea allgemein bestehenden Risiko der willkürlichen Inhaftierung nicht.

63 Vielmehr reduziert die Abgabe der Reueerklärung entgegen dem durch ihren Wortlaut begründeten Anschein die Wahrscheinlichkeit einer Bestrafung. Der Kläger kann hierdurch unter Umständen den Diaspora-Status erlangen und damit grundsätzlich seine Rechtsposition verbessern. Obwohl die Strafverfolgung in Eritrea von Willkür geprägt ist und der Diaspora-Status keine sichere Gewähr dafür bietet, von einer Strafverfolgung verschont zu bleiben, kann dessen Erlangung nach aktueller Erkenntnislage auch insoweit als vorteilhaft angesehen werden und die Gefahr einer Inhaftierung unter unwürdigen Bedingungen (vgl. oben) reduzieren. [...]

64 Aus dem Vorstehenden ergibt sich auch, dass es sich bei dieser Erklärung nicht um eine Selbstbezichtigung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts handelt, wonach ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen, unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar ist (BVerfG, Beschl. v. 13.1.1981 - 1 BvR 116/77 -, BVerfGE 56, 37, juris Rn. 26; Beschl. v. 9.5.2004 - 2 BvR 480/04 -, wistra 2004, 383, juris Rn. 2; v. 6.9.2016 - 2 BvR 890/16 -, JZ 2016, 1113, juris Rn. 35 f.). Anders als in den vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen zu Selbstbezichtigungen entscheidet der Kläger selbst, ob er die Reueerklärung gegenüber der eritreischen Auslandsvertretung abgibt, um so einen Nationalpass zu erlangen, oder ob er hierauf verzichtet. Eine imperative Verpflichtung zur Unterzeichnung der Reueerklärung existiert gerade nicht. [...]