VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 07.08.2020 - 8 L 996/20 - asyl.net: M29614
https://www.asyl.net/rsdb/m29614
Leitsatz:

Begriff der Berufsausbildung im Assoziationsrecht:

"1. Der Begriff der Berufsausbildung in Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 ist weit zu verstehen. Letztlich erfasst der unionsrechtliche Begriff der Berufsausbildung jede Form der Ausbildung, die auf eine Qualifikation für einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Beschäftigung vorbereitet oder die die besondere Befähigung zur Ausübung eines solchen Berufes oder einer solchen Beschäftigung verleiht, und zwar unabhängig vom Alter und vom Ausbildungsniveau der Schüler und Studenten und selbst dann, wenn der Lehrplan auch allgemeinbildenden Unterricht enthält.

2. Die Ausbildung zum Fitnessfachwirt stellt eine Berufsausbildung im Sinne des Art. 7 Satz 2 ARB 1/80, auch wenn für diese keine Rechtsverordnung nach § 53 Abs. 1 BBiG ergangen ist.

3. Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 erfasst Kinder auch nach Vollendung des 21. Lebensjahres; ein ordnungsgemäßer Wohnsitz im Bundesgebiet ist nicht erforderlich. Es genügt, dass ein Elternteil, der türkischer Arbeitnehmer ist oder war, im Zeitpunkt des Abschlusses der Berufsausbildung drei Jahre seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz im Bundesgebiet hatte.

4. Bei dem Begriff des ordnungsgemäßen Wohnsitzes (Art. 7 Satz 1 ARB 1/80) handelt es sich um einen unionsrechtlichen Begriff, der nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs einheitlich auszulegen ist, um dessen homogene Anwendung in den Mitgliedstaaten sicherzustellen.

5. Für das dem ordnungsgemäßen Wohnsitz zugrundeliegende unionsrechtliche Aufenthaltsrecht ist es erforderlich, dass der Familienangehörige in Deutschland eine gesicherte und nicht nur vorläufige Rechtsstellung innehat; das kann aufgrund der Weiterentwicklung des nationalen Aufenthaltsrecht auch Zeiten einer Duldung erfassen.

6. Es spricht Vieles dafür, dass zumindest in den Fällen, in denen die Weitererteilung der Duldung oder ein entsprechender Aufenthalt während und nach einem Duldungszeitraum nicht mehr einseitig von der Ausländerbehörde zu Fall gebracht werden kann, es mithin allein vom Verhalten des Ausländers abhängt, von einem unionsrechtlichen Aufenthaltsrecht auszugehen ist. Das kann etwa Fälle eines "Duldungs­vergleichs" nach einer Ausweisung betreffen, aber auch Fälle der Ausbildungsduldung nach §§ 60c, 19d Abs. 1a AufenthG. In solchen Fällen eines Aufenthaltsrechts "zweiter Klasse" besteht kein unionsrechtlich relevanter Unterschied zu befristet erteilten Aufenthaltserlaubnissen, bei denen die Verlängerung auch stets vom weiteren Vorliegen des Aufenthaltszwecks abhängt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Berufsausbildung, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Duldung, Aufenthaltstitel, Türkischer Arbeitnehmer,
Normen: ARB 1/80 Art. 7 S. 2,
Auszüge:

[...]

Der unionsrechtliche Begriff der Berufsausbildung ist weit zu verstehen (OVG Koblenz, Urteil vom 11. Juni 1999 - 10 A 12674/98 -, in: juris (Rn. 20)).

Er umfasst mindestens sämtliche berufsqualifizierenden Ausbildungsgänge von der Lehre bis zum Hochschulstudium (Ziffer 4.9.3. AAH-ARB 1/80 (Seite 63); zum Hochschulstudium: EuGH, Urteile vom 19. November 1998 - C 210/97 (Akman) -, Rn. 28, und vom 5. Oktober 1994 - C-355/93 (Eroglu) -, Rn. 3, 16 ff., jeweils unter: curia.eu).

Letztlich erfasst der unionsrechtliche Begriff der Berufsausbildung jede Form der Ausbildung, die auf eine Qualifikation für einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Beschäftigung vorbereitet oder die die besondere Befähigung zur Ausübung eines solchen Berufes oder einer solchen Beschäftigung verleiht, und zwar unabhängig vom Alter und vom Ausbildungsniveau der Schüler und Studenten und selbst dann, wenn der Lehrplan auch allgemeinbildenden Unterricht enthält (EuGH, Urteil vom 30. Mai 1989 - Rs. 242/87 (KOM ./. Rat) -, unter: curia.eu (Rn. 24, 25); [...]

Nach § 53 Abs. 1 BBiG kann das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie oder mit dem sonst zuständigen Fachministerium nach Anhörung des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung durch Rechtsverordnung, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf, Abschlüsse der höherqualifizierenden Berufsbildung anerkennen und hierfür Prüfungsregelungen erlassen. Bei Bestehen solcher Rechtsverordnungen liegt ein berufsqualifizierender Ausbildungsgang vor. Ein solcher besteht für den Fitnessfachwirt indes nicht. Allerdings dürfen nach § 54 Abs. 1 BBiG die zuständigen Stellen Fortbildungsprüfungsregelungen erlassen, sofern für einen Fortbildungsabschluss weder eine Fortbildungsordnung noch eine Anpassungsfortbildungsordnung erlassen worden ist. Von dieser Möglichkeit haben verschiedene Industrie- und Handelskammern als die zuständige Stelle unter Bezug auf § 42a HwO besondere Rechtsvorschriften zum/zur Fitnessfachwirt / Fitnessfachwirtin erlassen (so etwa unter dem 12. November 2008 die IHK des Saarlandes). [...]

Weitere Anforderungen stellt Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 daneben nicht auf. Ausdrücklich wird lediglich gefordert, dass ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war. Die Ordnungsgemäßheit des Wohnsitzes im Bundesgebiet für das Kind, welches die Berufsausbildung im Bundesgebiet abgeschlossen hat, fordert Satz 2 des Art. 7 ARB 1/80 hingegen nicht. Auf diese Voraussetzung wird ausdrücklich nur in Satz 1 des Art. 7 ARB 1/80 für die Familienangehörigen des dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Staatsangehörigen abgestellt. Daraus ist im Umkehrschluss - wie bei der für Satz 2 nicht erforderlichen Zuzugsgenehmigung - zu folgern, dass es nicht darauf ankommt, ob der Antragsteller, der nach seiner Ausweisungsverfügung aufgrund des im gerichtlichen Verfahren - 22 K 5216/13 - am 2. Oktober 2014 geschlossenen, so genannten "Duldungsvergleichs" lediglich über Duldungen verfügte und damit auch über einen ordnungsgemäßen Wohnsitz im Bundesgebiet. [...]