OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 28.04.2021 - 6 Bs 26/21 - asyl.net: M29674
https://www.asyl.net/rsdb/m29674
Leitsatz:

Nachholung des Visumsverfahrens im Irak für einen Vater mehrerer Kinder zumutbar:

1. Eine sogenannte Verfahrensduldung zur Sicherung eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels kommt unter anderem dann in Betracht, wenn die Nachholung des Visumsverfahrens aufgrund einer nach Art. 6 GG schützenswerten familiären Bindung unzumutbar erscheint.

2. Eine Trennungsdauer von unter einem Jahr ist einer Familie mit kleinen Kindern jedenfalls dann zuzumuten, wenn die Notwendigkeit der Nachholung des Visumsverfahrens maßgeblich in den Verantwortungsbereich der antragstellenden Person fällt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Familienzusammenführung, Kindeswohl, Visumsverfahren, Unterbrechung, Zumutbarkeit, Corona-Virus, Nachholung des Visumsverfahrens, Ermessen, Trennung, Schutz von Ehe und Familie,
Normen: GG Art. 6, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2, GG Art. 19 Abs. 4, EMRK Art. 8,
Auszüge:

[...]

9 Der Antragsteller begehrt mit seinem Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen. [...]  Wie sich im Umkehrschluss aus der in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG getroffenen, begrenzten Regelung ergibt, folgt aber allein daraus, dass ein Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geltend macht und diesen im Bundesgebiet durchsetzen will, noch kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, welches im Wege einer Verfahrensduldung zu sichern ist. Eine solche Verfahrensduldung kann nur in Ausnahmefällen zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten sein, wenn z.B. eine Aussetzung der Abschiebung notwendig ist, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Verfahrens aufrechtzuerhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zugutekommen kann (BVerwG, Urt. v. 18.12.2019, 1 C 34.18, BVerwGE 167, 211, juris Rn. 30; VGH München, Beschl. v. 27.11.2018, 19 CE 17.550, KommunalPraxis BY 2019, 64, juris Rn. 30 f.; OVG Lüneburg, Beschl. v. 22.8.2017, 13 ME 213/17, juris Rn. 3; OVG Münster, Beschl. v. 11.1.2016, 17 B 890/15, juris Rn. 6 ff.). Dazu zählt der vom Verwaltungsgericht geprüfte Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug zu anerkannten Flüchtlingen nach §§ 29 Abs. 2 Satz 1, 30 Abs. 1 AufenthG im Ausgangspunkt nicht (so zum Familiennachzug zu Deutschen bereits OVG Lüneburg, Beschl. v. 22.8.2017, a.a.O., Rn. 3).

10 Auch in diesen Fällen kommt eine Verfahrensduldung allerdings in Fällen in Betracht, in denen das Gesetz eine Ausnahme von der Erteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum vorsieht (so zu § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG VGH Mannheim, Beschl. v. 20.9.2018, 11 S 1973/18, InfAuslR 2019, 12, juris Rn. 21; so auch OVG Bautzen, Beschl. v. 3.11.2020, 3 B 262/20, juris Rn. 14) oder eine im Inland bestehende, nach Art. 8 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 6 Abs. 1 GG schützenswerte familiäre Beziehung, insbesondere zu noch minderjährigen Kindern, eine auch nur kurzfristige Unterbrechung der familiären Bindungen durch Ausreise unzumutbar erscheinen lässt (in diesem Sinne OVG Bremen, Beschl. v. 20.5.2020, 2 B 34/20, Asylmagazin 2020, 325, juris Rn. 34; OVG Lüneburg, Beschl. v. 22.8.2017, 13 ME 213/17, juris Rn. 4). [...]

14 Dieser Einwand überzeugt nicht. Die von dem Antragsteller zitierte Rechtsprechung betrifft im Wesentlichen die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Ausländer unter Verweis auf das geltende Aufenthaltsrecht daran gehindert werden kann, seinen ständigen Aufenthalt mit seiner Familie im Bundesgebiet zu nehmen. Vorliegend geht es aber darum, ob der Antragsteller zu diesem Zweck zunächst ein Visumverfahren zu durchlaufen hat. Es bestehen auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Zweifel, dass es mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG grundsätzlich vereinbar ist, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen (BVerfG, Beschl. v. 4.12.2007, 2 BvR 2341/06, InfAuslR 2008, 239, juris Rn. 6). Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen (BVerfG, Beschl. v. 17.5.2011, 2 BvR 1367/10, NVwZ-RR 2011, 585, juris Rn. 15). Etwas anderes gilt nur in Ausnahmefällen, wenn aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles dem Ausländer oder seinen Familienangehörigen auch eine nur vorübergehende Trennung nicht zuzumuten ist (so bei Vorhandensein betreuungsbedürftiger Haushaltsangehöriger BVerfG, Beschl. v. 17.5.2011, a.a.O., Rn. 19 ff.) oder die Ausreise des Ausländers zu einer nicht absehbaren Trennung von seiner Familie führt (VGH München, Beschl. v. 2.2.2021, 10 C 20.3063, juris Rn. 14). {...]

16 a) Insoweit geht das Beschwerdegericht davon aus, dass das Visumverfahren des Antragstellers jedenfalls innerhalb eines Zeitraumes von deutlich unter einem Jahr abgeschlossen werden kann. Das Visumverfahren des Antragstellers im Jahr 2018 hat insgesamt weniger als ein halbes Jahr in Anspruch genommen. Zwar kann es nach den Angaben auf der Homepage des Generalkonsulats in Erbil zu verlängerten Wartezeiten aufgrund der vorherigen, coronabedingten Schließung des Konsulats kommen ("Due to the closure of the Consulate General caused by the spread of the Corona Virus longer waiting times might occur", abrufbar unter visa.vfsglobal.com/irq/en/deu/news/national-visa, zuletzt abgerufen am 28.4.2021). Aktuell sind aber wieder Termine für Anträge auf Familiennachzug für Juli 2021 buchbar (https://irak.diplo.de/iq-de/vertretungen/generalkonsulat1?openAccordionId=item-2373086-2-panel, zuletzt abgerufen am 28.4.2021), so dass auch im Vergleich zum Jahr 2018 nicht von erheblich längeren Verfahrenslaufzeiten auszugehen ist. [...]

18 In die Prüfung der Zumutbarkeit sind zwar mit einem besonderen Gewicht die möglichen Folgen einer auch nur vorübergehenden Trennung für die Kinder des Ausländers einzubeziehen, insbesondere wenn es sich um sehr kleine Kinder handelt, die den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung nicht begreifen können und diese als endgültigen Verlust erfahren (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.1.2006, 2 BvR 1935/05, NVwZ 2006, 682, juris Rn. 22). Anderseits ist aber auch zu berücksichtigen, ob der Ausländer das Visumverfahren ohne rechtfertigenden Grund umgegangen hat und der Trennungszeitraum im Falle der Nachholung des Visumverfahrens daher maßgeblich in seinen Verantwortungsbereich fällt (VGH München, Beschl. v. 19.6.2018, 10 CE 18.993 u.a., juris Rn. 5).

19 Gemessen daran wiegen die Interessen des Antragstellers und seiner Familie an seinem vorübergehenden Verbleib im Bundesgebiet nicht besonders schwer. Der Antragteller legt weder mit der Antragsnoch mit der Beschwerdebegründung konkret dar, aus welchen Gründen eine solche Trennung unzumutbare Folgen für seine Kinder oder seine Ehefrau haben könnte. Dafür ist auch sonst nichts ersichtlich. Die Kinder des Antragstellers sind, wie vom Verwaltungsgericht bereits ausgeführt, nicht mehr so klein - sein jüngster Sohn ist 6 Jahre alt -, dass ihnen die vorübergehende Abwesenheit ihres Vaters nicht verständlich gemacht werden könnte. Das Verwaltungsgericht hat zudem zutreffend darauf verwiesen, dass der Antragsteller bereits im Dezember 2018 seine Familie verlassen hat, um sich um seinen jüngsten Bruder im Irak zu kümmern. Aus welchen Gründen seine Familie nunmehr eine vorübergehende Abwesenheit des Antragstellers nicht mehr verkraften könnte, erschließt sich dem Beschwerdegericht nicht. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt auch die pauschale und - soweit ersichtlich - maßgeblich auf den Erklärungen der Kindesmutter beruhende Mitteilung des Jugendamtes vom 25. März 2021, wonach im Sinne des Kindeswohls die Familie nicht getrennt werden sollte und eine gemeinsame Unterbringung befürwortet werde, keine andere Bewertung.

20 Darüber hinaus liegt hier schon die Notwendigkeit einer erneuten Trennung ausschließlich im Verantwortungsbereich des Antragstellers. Es hätte an ihm gelegen, sich während seines etwa eineinhalbjährigen Aufenthalts im Irak um ein Visum zur (erneuten) Familienzusammenführung zu bemühen, ohne dass damit im Ergebnis überhaupt eine über den selbst gewählten Abwesenheitszeitraum hinausgehende Trennung von seiner Familie verbunden gewesen wäre. Der Antragsteller hat im Übrigen auch nicht vorgetragen, dass er sich zumindest nach seiner Rückkehr um einen Termin bei dem Generalkonsulat in Erbil bemüht hätte, um den Zeitraum einer Trennung im Falle einer Ausreise zum Zwecke der Nachholung des Visumverfahrens möglichst kurz zu halten. [...]