VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 25.03.2021 - 3 A 2387/17 - asyl.net: M29729
https://www.asyl.net/rsdb/m29729-1
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für georgische Frau aus yezidischer Familie wegen familiärer Verfolgung:

Der als Yezidin geborenen Klägerin ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da ihr aufgrund der Heirat mit einem Christen Übergriffe durch ihre Familie drohen und der georgische Staat keinen ausreichenden Schutz gegen häusliche Gewalt in yezidischen Familien bietet.

(Leitsätze der Redaktion; Anm.: Das Gericht beschäftigt sich ausführlich mit der Schutzfähigkeit georgischer Behörden bei häuslicher Gewalt, insbes. bei yezidischen Personen)

Schlagwörter: Georgien, Yeziden, Endogamie, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Apostasie, familiäre Verfolgung, häusliche Gewalt, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3d, AsylG § 3c Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat Georgien bereits vorverfolgt verlassen, §§ 3, 3b AsylG.

Die Klägerin ist in Georgien von nichtstaatlichen Akteuren i. S. d. § 3c Nr. 3 AsylG verletzt und mit dem Tod bedroht worden. Bei diesen Akteuren handelt es sich um die yezidische Familie der Klägerin einerseits und die von dieser Familie instrumentalisierten Helfer andererseits. Die Familie der Klägerin verfügt in der yezidischen Gemeinschaft Georgiens über einigen Einfluss und finanzielle Mittel. Sie unterhält zudem Verbindungen ins kriminelle Milieu und staatlichen Stellen. [...]

Die Yeziden betrachten eine Ehe außerhalb ihrer Glaubensgemeinschaft als Apostasie. Auf die Frage, ob die Klägerin sich tatsächlich vom yezidischen Glauben abgewandt hat, kommt es daher nicht an. Denn für eine Verfolgung nach den §§ 3 ff. AsylG kommt es nicht darauf an, ob in der Person des Verfolgten tatsächlich einen der Verfolgungsgründe (§ 3b AsylG) verwirklicht ist, sondern ob diese Eigenschaft ihm von seinen Verfolgern zugeschrieben wird. [...]

Der georgische Staat ist auch heute noch nicht ausreichend willens und in der Lage, der Klägerin Schutz im Sinne von § 3d AsylG zu gewähren. Zwar ist Georgien zahlreichen internationalen Abkommen zum Schutz der Menschen- und Frauenrechte beigetreten und die Bereitschaft, gegen Gewalt innerhalb von Familien vorzugehen, hat zugenommen. Fälle häuslicher Gewalt werden von der Gesellschaft und den Behörden indes weiterhin meist als interne Familienangelegenheit betrachtet (Auswärtiges Amt, Seite 11). Gesetzliche Regelungen gegen Diskriminierung von Frauen und gegen die weit verbreitete häusliche Gewalt werden noch nicht ausreichend angewandt (Auswärtiges Amt Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Georgien, Stand November 2020. Seite 12).

Bei der hier in Rede stehende Verfolgung durch die yezidische Familie der Klägerin handelt es sich zudem nicht um eine gewöhnliche innerfamiliäre Angelegenheit, sondern um einen Konflikt, der partikular für die yezidische Religionsgemeinschaft ist. Die Yeziden sind in der georgischen Gesellschaft isoliert. Zwar werden sie nicht vom Staat verfolgt oder allgemein benachteiligt. Aufgrund der oben aufgeführten religiösen Vorstellungen befinden sich die Yeziden in Georgien - ähnlich wie in anderen Staaten - indes in einer Art selbstgewählter gesellschaftlicher Isolation, in der sie einerseits Angehörige des georgischen Staates sind und mit diesem wirtschaftlich und politisch interagieren, andererseits aber nur über begrenzte soziale Verbindungen zur sonstigen georgischen Bevölkerung unterhalten. lnneryezidische familiäre oder religiöse Angelegenheiten werden insofern von der georgischen Gesellschaft mehr noch als sonstige innerfamiliäre Angelegenheiten als Sache der Familie bzw. der yezidischen Gesellschaft wahrgenommen. Soweit sich in den letzten Jahren die allgemeine Bereitschaft des georgischen Staates gegen Gewalt innerhalb von Familien vorzugehen erhöht hat, ist diese Entwicklung noch nicht so weit fortgeschritten, dass auch die Grenze zur abgeschotteten yezidsichen Religionsgemeinschaft überschritten ist, um ausreichende Schutzwilligkeit zu demonstrieren.

Die Entscheidung selbstständig tragend fehlt es den georgischen Sicherheitsbehörden zudem an der Effektivität, um der Klägerin im vorliegenden Fall wirksam Schutz zu bieten. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn staatliche Stellen geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat, § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG. Dabei muss die Qualität des Schutzes weder absolut sein, daher der Ausländer muss nicht mit absoluter Sicherheit vor Verfolgung geschützt werden, noch muss das Schutzniveau zwingend dem Schutzniveau im Aufnahmestaat entsprechen.

Zwar hat es auch bezüglich der Effektivität der Strafverfolgung in den vergangenen Jahren in Georgien Verbesserungen gegeben, eine allgemeine Bestechlichkeit von Polizisten ist nicht mehr zu verzeichnen. Die Politik übt aber weiterhin einen informellen Einfluss auf die Justiz aus. In ihrer Rolle als Hüter von Regeln werden die Sicherheitsbehörden öffentlich als zurückhaltend, aber auch als untätig oder wenig effektiv wahrgenommen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Georgien, Stand November 2020, Seite 12). Insgesamt wächst die Polizei in Georgien weiterhin in ihre neuen Aufgaben hinein. Gesellschaftliche Vorbehalte, fehlende Ausbildung und Sensibilisierung sind weiterhin ein Problem, werden jedoch Schritt für Schritt angegangen. Im Jahr 2015 hat die georgische Polizei 1.152 Ermittlungsverfahren wegen häuslicher Gewalt eingeleitet (US State Departement, Georgia 2015 Human Rights Report, Seite 36). Dies entspricht in etwa einem Verfahren auf 3.000 Einwohner. Im selben Jahr wurden in der Bundesrepublik allein 127.000 individuelle Opfer partnerschaftlicher Gewalt polizeilich erfasst (Bundeskriminalamt, Partnerschaftsgewalt - Kriminalstatistische Auswertung - Berichtsjahr 2015, Seite 4). Dies entspricht etwa einem polizeilich erfassten Opfer auf 600 Einwohner. Gerade vor dem Hintergrund der in der georgischen Gesellschaft weiten Verbreitung von häuslicher Gewalt zeigen diese Zahlen, dass eine Strafverfolgung in Georgien zwar existiert, die allermeisten Fälle häuslicher Gewalt aber von den Ermittlungsbehörden nicht einmal erfasst werden. Die Effektivität der Strafverfolgung bleibt damit nicht nur hinter jener in Deutschland zurück, sondern erweist sich als insgesamt unzulänglich, um die Klägerin in ausreichendem Maße vor einer Verfolgung durch ihre Familie zu schützen. [...]