VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 22.04.2021 - 29 K 206/20 (Asylmagazin 3/2022, S. 101) - asyl.net: M29787
https://www.asyl.net/rsdb/m29787
Leitsatz:

Aufenthaltskarte für den vietnamesischen Stiefvater eines deutschen Kindes:

1. Das Aufenthaltsrecht ergibt sich aus Art. 20 AEUV, wenn bei einer sogenannten "Patchworkkonstellation" das Kind mit Unionsbürgerschaft vom drittstaatsangehörigen Familienmitglied in finanzieller, rechtlicher oder affektiver Hinsicht abhängig ist.

2. Die Nachholung des Visumsverfahrens ist dann unzumutbar, wenn der Erteilung des Visums die fehlende Sicherung des Lebensunterhalts und ein Ausweisungsinteresse entgegenstünde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: deutsches Kind, Ausweisungsinteresse, Sicherung des Lebensunterhalts, Visumsverfahren, Patchwork, Vietnam, AEUV, Aufenthaltskarte, EU-Staatsangehörige, Unionsrecht, Unionsbürgerrichtlinie, Unionsbürgerschaft, Kernbestand,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 5 Abs. 2, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1b, AEUV Art. 20, AufenthG § 10 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger steht ein Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV zu. Lebt der schutzbedürftige minderjährige Unionsbürger in einer "Patchwork-Familie", so sind die sich aus den Besonderheiten dieser familiären Lebensgemeinschaft ergebenden Umstände in die Betrachtung einzubeziehen. Dabei kommt es allerdings nicht darauf an, ob zwischen dem Drittstaatsangehörigen, für den das Aufenthaltsrecht beantragt wird, und dem minderjährigen Unionsbürger eine biologische Beziehung besteht; maßgeblich ist vielmehr, ob der Unionsbürger von dem Drittstaatsangehörigen in finanzieller, rechtlicher oder affektiver Hinsicht abhängig ist. Auch ist es von erheblicher Bedeutung, ob ein faktischer Zwang zur Ausreise den minderjährigen Unionsbürger an der Fortführung eines bestehenden Kontakts zu einem leiblichen Vater oder einer leiblichen Mutter hindert, der bzw. die außerhalb der "Patchwork-Farnilie" lebt. Schließlich ist zu berücksichtigten, wer das Sorgerecht für den minderjährigen Unionsbürger innehat und ausübt (BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - BVerwG 1 C 15.12 -, BVerwGE 147, 278 = juris Rn. 33 unter Berufung auf EuGH, Urteil vom 6. Dezember 2012 – C-356/11 - Rn. 51, 55).

Die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger, seinem leiblichen Kind und der Kindesmutter steht spätestens seit der Eheschließung mit letzterer außer Frage. Aber auch das deutsche Stiefkind lebt nach der Erklärung seines leiblichen Vaters vom 22. Oktober 2019 ganz überwiegend in diesem Familienverband, so dass schon allein deswegen von einer affektiven Abhängigkeit auszugehen ist. Hinzu kommt eine wirtschaftliche Abhängigkeit, da nach den dargelegten Beschäftigungs- und Einkommensverhältnissen der Kläger den wesentlichen Beitrag zum Familieneinkommen leistet. Schließlich besteht nach der genannten Erklärung des Vaters des Stiefkindes ein regelmäßiger Kontakt zwischen diesen; dass dieser "manchmal" in Begleitung der Kindesmutter erfolgt, zeigt auf, dass diese Kontaktausübung einverständlich erfolgt, da die Kindesmutter weder eine durchgängige Beaufsichtigung noch eine Kontaktvermeidung zwischen ihr und dem Kindesvater für erforderlich hält.

Das Nachholen des Visumsverfahrens ist dem Kläger schon allein wegen des Alters seines leiblichen Kindes nicht zuzumuten. Ungeachtet dessen steht der Zumutbarkeit die unabsehbare Länge des Visumsverfahrens entgegen. Dabei kann hier offen bleiben, ob das Nachholen grundsätzlich unzumutbar ist oder ob im Falle eines eindeutig erscheinenden Erteilungsanspruches von einem kurzen, verlässlich zu begrenzenden Zeitraum ausgegangen werden kann (BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 a.a.O. Rn. 35 unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 a.a.O.). Vorliegend entfiele zwar mit der Ausreise des Klägers die Erteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG, doch hat er hinsichtlich des deutschen Kindes keinen Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Zwecke des Familiennachzuges aus nationalem Recht, und einem Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Zwecke des Familiennachzuges zu seiner Ehefrau und seinem leiblichen Kind könnte gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG die fehlende Sicherung des Lebensunterhaltes entgegenstehen. Das bislang von der Ehefrau aus einer Teilzeitbeschäftigung erzielte Einkommen reicht für die Sicherung auch seines Lebensunterhaltes nicht aus, und das von ihm bislang erzielte Einkommen dürfte nach der gerichtsbekannten Entscheidungspraxis im Falle der mit der zwischenzeitlichen Ausreise verbundenen Beendigung der Arbeitsverhältnisse keine Berücksichtigung finden. Jedenfalls steht der Visumserteilung ungeachtet der rechtskräftigen Aufhebung der Ausweisung weiterhin gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.v. § 54 Abs. 1 Nr. 1 b AufenthG entgegen. Ob von diesen Regelerteilungsvoraussetzungen im Hinblick auf das Recht aus Art. 20 AEUV abgesehen werden müsste oder sich unmittelbar aus diesem nicht nur ein Recht auf Verbleib, sondern auch auf Wiederkehr ergibt, erscheint mangels entsprechender Rechtspraxis als zu ungewiss, um den Kläger darauf verweisen zu können. [...]