VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 09.08.2021 - 2 A 77/18 (Asylmagazin 12/2021, S. 428 ff.) - asyl.net: M30055
https://www.asyl.net/rsdb/m30055
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für bisexuelle Person aus dem Iran:

1. Bisexuelle und homosexuelle Personen bilden im Iran eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.

2. Aus der niederländischen Originalfassung der EuGH Entscheidung X,Y,Z (Urteil vom 07.11.2013 - C-199/12; C-200/12; C-201/12 (Asylmagazin 12/2013) - asyl.net: M21260) geht hervor, dass bei Prüfung eines Asylantrags die „Diskretion“ bei der sexuellen Orientierung weder unterstellt noch prognostisch vermutet werden darf und dass daraus auch keine Schlüsse gezogen werden dürfen. Inwiefern die betroffene Person ihre sexuelle Orientierung bisher ausgelebt hat, sowohl im Herkunfts- als auch im Aufnahmeland, ist daher nicht maßgeblich für die Annahme einer Verfolgungsgefahr.

3. Die sexuelle Orientierung ist ein zwingend bedeutsamer Bestandteil der menschlichen Identität, weshalb bei einer nur zurückhaltend ausgelebten Sexualität nicht ohne weiteres auf ein fehlendes oder geringes Bedürfnis geschlossen werden darf. Dies gilt umso mehr, wenn Betroffene in einem gesellschaftlichen Umfeld aufwachsen, in dem Sexualität tabuisiert wird. Wie viel Platz Sexualität und Partnerschaft im Leben eines Menschen einnehmen, ist individuell unterschiedlich und kann sich je nach Lebensphase verändern.

4. Die Entscheidung, wie eine Person ihre sexuelle Orientierung ausleben möchte und ob sie sich offen zu ihr bekennen möchte oder nicht, ist eine höchstpersönliche, deren Bewertung dem Gericht entzogen ist.

5. Zudem schützt das diskrete Ausleben der eigenen sexuellen Orientierung nicht sicher vor Verfolgung. Im Iran würde bereits das Aufkommen eines entsprechenden Verdachts zu Verfolgungshandlungen führen. Auch handelt es sich bei der sexuellen Orientierung um ein Merkmal, das Betroffene für das gesamte Leben prägt und begleitet, sodass es zu vielen Situationen kommen kann, in denen die sexuelle Orientierung Betroffener von ihrem Umfeld bemerkt werden könnte.

(Leitsätze der Redaktion; Anm.: die deutsche Übersetzung der in Bezug genommenen EuGH-Entscheidung wurde inzwischen korrigiert: Urteil vom 07.11.2013 - C-199/12; C-200/12; C-201/12 X,Y,Z gg. Niederlande (Asylmagazin 12/2013) - asyl.net: M21260)

Siehe auch:

Schlagwörter: Iran, bisexuell, homosexuell, Homosexualität, Verfolgungshandlung, Verfolgungsgrund, soziale Gruppe, Strafbarkeit, sexuelle Orientierung, Ausleben, Diskretion, Diskretionsgebot, unverhältnismäßige oder diskriminierende Bestrafung, Geheimhaltung, geschlechtsspezifische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

25 Der Kläger ist unverfolgt aus dem Iran ausgereist, dennoch droht ihm in seinem Herkunftsland Verfolgung aufgrund seiner sexuellen Orientierung.

26 Bisexuelle und schwule Männer bilden im Iran eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. [...]

28 Die iranische Gesellschaft ist heteronormativ geprägt in einem Maße, dass abweichende sexuelle Orientierungen für die Mehrheitsgesellschaft keine alternative Lebensweise bilden, sondern schon im allgemeinen Sprachgebrauch häufig nur als Beleidigung vorkommen und ansonsten totgeschwiegen werden (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 23). [...]

29 Zudem tätigen die iranischen Behörden regelmäßig Aussagen, die Menschen aufgrund ihrer abweichenden sexuellen Orientierung erniedrigen und entmenschlichen (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 16). [...]

30 Dies führt dazu, dass LGBTI-Personen Aspekte oder manchmal gar große Bereiche ihres Lebens geheim halten müssen (UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 9 – Zusammenfassung, Asylanträge basierend auf sexueller Orientierung und/oder geschlechtlicher Identität, Asylmagazin3/2013, S.70-73). [...]

31 Entgegen weltweiter Kritik wurde der Tatbestand der Todesstrafe für "einvernehmliches gleichgeschlechtliches Sexualverhalten" gem. Art. 233 ff. auch in der Neufassung des Islamischen Strafgesetzbuches von 2013 aufrechterhalten. [...]

32 Nach der Gesetzeslage im Iran drohen Männern unterschiedliche Strafen für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr, je nachdem, ob sie der "aktive" oder der "passive" Teilnehmer sind. Der passiven Person droht die Todesstrafe, aber der aktiven Person droht die gleiche Strafe nur, wenn sie verheiratet ist oder es sich um eine Vergewaltigung handelte. [...]

33 Sicherheitskräfte schikanieren, verhaften und halten Personen fest, die sie verdächtigten, LGBTI zu sein. [...]

34 Eine beträchtliche Anzahl von Lesben, Schwulen und Transgendern berichtet, dass sie aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität verschiedenen Formen von Missbrauch durch ihre  Familienmitglieder ausgesetzt war. [...]

35 Die rechtlichen und medizinischen Praktiken gegenüber der LGBTI-Gemeinschaft sind ebenfalls ein Problem. Homosexualität und Geschlechtsinkonformität werden im Iran als psycho-sexuelle Krankheit und medizinischer Zustand (Geschlechtsidentitätsstörung) betrachtet, der durch eine vom Staat unterstützte Geschlechtsumwandlungschirurgie behandelt wird. Der gesetzliche Rahmen bietet nur die Wahl, entweder eine sogenannte "reparative Therapie" zu machen, um Personen von ihrer gleichgeschlechtlichen Anziehung oder ihrer Geschlechtsabweichung zu "heilen", oder sich einer geschlechtsangleichenden Operation oder Sterilisation zu unterziehen (UN General Assembly: Situation of human rights in the Islamic Republic of Iran; Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in the Islamic Republic of Iran; Note by the Secretary-General, A/74/273, 02.08.2019, S. 15). "Konversionstherapien" beinhalten, neben anderen missbräuchlichen Praktiken, die Verabreichung von Elektroschocks, Hormonen und starken psychoaktiven Medikamenten, selbst gegen Kinder (Amnesty International, Iran: Murder of 20-year old gay man highlights urgent need to protect LGBTI rights, 17.05.2021; Australian Government Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT), Country Information Report Iran, 14.04.2020, S. 53). Laut einem Bericht der Nichtregierungsorganisation 6Rang nahm die Zahl der privaten und halbstaatlichen psychologischen und psychiatrischen Kliniken, die angeblich "korrigierende Behandlungen" oder reparative Therapien von LGBTIPersonen durchführen, im vergangenen Jahr weiter zu. NGOs berichten darüber hinaus, dass die Behörden LGBTI-Personen unter Druck setzen, sich einer geschlechtsangleichenden Operation zu unterziehen (United States Department of State (USDOS), Iran 2019 Human Rights Report, 11.03.2020, S. 51).

36 All diese Diskriminierungen und Gefahren begründen für Homosexuelle und Bisexuelle im Iran ein Klima der Unterdrückung, Ausgrenzung und Angst. Die sexuelle Ausrichtung einer Person stellt ein Merkmal dar, das im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4a AsylG so bedeutsam für die Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden darf, darauf zu verzichten (EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 03.12.2020 - A 6 K 2552/18 -, juris Rn. 23). Homosexuelle und bisexuelle Männer besitzen im Iran auch eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie in einer Art und Weise von dem vorherrschenden Männlichkeitsideal abweichen, die die umgebende Gesellschaft ganz überwiegend nicht toleriert, und damit als andersartig betrachtet werden (vgl. zu Afghanistan: VG Bremen, Urteil vom 25.02.2020 - 4 K 1174/17 -, juris Rn. 24). Der Europäische Gerichtshof bejaht dieses Merkmal richtigerweise bereits bei Vorliegen strafrechtlicher Bestimmungen, wie hier der Art. 233 ff. IStGB, die spezifisch Homosexuelle betreffen (vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris; ebenso VG Magdeburg, Urteil vom 10.03.2020 - 9 A 294/18 -, juris Rn. 33). Ein Verfolgungsgrund liegt damit vor.

37 Dem Kläger drohen auch gerade wegen seiner Bisexualität (§ 3a Abs. 3 AsylG) Verfolgungshandlungen in Form von Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), gesetzlichen, administrativen, polizeilichen oder justiziellen Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (§ 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG), sowie unverhältnismäßiger oder diskriminierender Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG).

38 Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger auch in Deutschland seine sexuellen Vorlieben im Hinblick auf Männer lediglich im Verborgenen auslebt, sich also nur seinen Sexualpartnern gegenüber als bisexuell offenbart. Dass der Kläger in Deutschland vor Beginn der Coronapandemie und seiner festen Beziehung zu einer Frau bereits sexuell mit anderen Männern verkehrt hat, steht zur Überzeugung der Einzelrichterin fest, insbesondere, da er auf Nachfrage auch spontan in der Lage war, etwa Namen und Berufe der Betreffenden zu nennen. Inwiefern der Kläger seine Bisexualität bisher ausgelebt hat, ob im Herkunftsland oder im Aufnahmeland Deutschland, ist aber nicht maßgeblich für die Annahme einer Verfolgungsgefahr.

39 Die diskrete Lebensweise des Klägers führt zum einen nicht dazu, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung abzulehnen wäre (vgl. VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 03.12.2020 - A 6 K 2552/18 -, juris, Rn. 20).

40 Insbesondere hat der Kläger nicht nur dann mit Verfolgung zu rechnen, wenn ihm die Vornahme homosexueller Handlungen gerichtsfest mit der nach dem Iranischen Strafgesetzbuch erforderlichen Anzahl an Zeugen nachgewiesen werden kann. Denn schon bei Aufkommen eines entsprechenden Verdachts wäre der Kläger voraussichtlich von diskriminierenden und erniedrigenden Untersuchungsmaßnahmen der Polizeibehörden betroffen. Zudem wäre er in dem Fall, wie oben ausgeführt, unabhängig von der Beweislage etwaigen gewalttätigen Übergriffen aus dem privaten Umfeld ausgeliefert, weil der iranische Staat homo- und bisexuellen Personen keinen Schutz bietet (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 14.12.2017 - 4 A 8009/16 -, juris Rn. 33).

41 Ein solcher Verdacht kann auch dann aufkommen, wenn der Kläger sich wie bisher nur heimlich mit anderen Männern zu sexuellen Aktivitäten trifft. Bei seiner sexuellen Orientierung handelt es sich um ein Merkmal, das den Kläger noch für den Rest seines Lebens prägen und begleiten wird, sodass noch viele potenzielle Gelegenheiten bestehen, bei denen der Kläger "enttarnt" werden könnte. Hinzu kommt, dass die Gefahr einer Entdeckung nicht alleine von seinem eigenen Verhalten abhängt. Sofern er auch nur vereinzelt weiterhin sexuelle Kontakte zu Männern unterhält, ist er auch der Gefahr ausgesetzt, durch seine Sexualpartner verraten oder etwa bei der Nutzung einschlägiger Messenger von den Behörden aufgespürt zu werden.

42 Zum anderen ist dem Kläger auch eine Rückkehr in den Iran wegen seiner diskreten Lebensweise nicht eher zuzumuten als jemandem, der etwa an exponierter Stelle in der deutschen LGBTI-Community aktiv ist oder aktuell offen in Partnerschaft mit einem Mann lebt.

43 Im Gegensatz zur politischen oder religiösen Überzeugung, die sozial geprägte Bereiche darstellen und sich typischerweise in der Kundgabe und Verbreitung bestimmter politischer Positionen bzw. der Vornahme von und Beteiligung an religiösen Riten äußern, betrifft die sexuelle Betätigung die Intimsphäre eines Menschen. Somit darf von einer nur zurückhaltend ausgelebten Sexualität nicht ohne weiteres auf ein fehlendes oder geringes Bedürfnis dazu geschlossen werden, wie es etwa naheläge, wenn ein vorgeblich religiöser Mensch keinerlei Kontakt zu anderen Gläubigen sucht oder ein mutmaßlicher politischer Aktivist kein erkennbares Interesse an regimekritischen Tätigkeiten zeigt. Dies gilt umso mehr, wenn der Betreffende in einem gesellschaftlichen Umfeld wie im Iran aufgewachsen ist und geprägt wurde, in dem jedwede Sexualität ein tabuisiertes Thema und offiziell dem Kontakt zwischen Eheleuten vorbehalten ist und in dem abweichende sexuelle Orientierungen als krankhaft und kriminell geächtet werden. Auch wenn sich die Betroffenen diesen Einflüssen durch ihre Flucht entzogen haben, ist zu erwarten, dass ihre sexuelle Orientierung für sie aufgrund der erlebten Stigmatisierung noch lange ein scham- oder gar schuldbesetztes Thema bleibt (vgl. VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 03.12.2020 - A 6 K 2552/18 -, juris Rn. 19).

44 Angesichts dessen davon sind Prognosen hinsichtlich des zukünftigen Auslebens der sexuellen Neigungen durch eine nach Überzeugung des Gerichts homo- oder bisexuelle Person grundsätzlich problematisch. Sie dürfen jedenfalls nicht entscheidender Maßstab für die Frage der Zumutbarkeit einer Rückkehr ins Herkunftsland sein.

45 Auf Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist anerkannt, dass "bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die zuständigen Behörden von dem Asylbewerber nicht erwarten [können], dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden" (EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris Rn. 76). Dies wird von der deutschen Rechtsprechung bisher weitgehend dahingehend ausgelegt, dass diskretes Verhalten bei der Prüfung eines Asylantrages nicht vom Antragsteller "verlangt" werden (so VG Potsdam, Urteil vom 27.05.2021 - 2 K 3028/18.A -, juris Rn. 35; VG Berlin, Urteil vom 17.08.2020 - 6 K 686.17 A -, juris Rn. 42), er nicht "darauf verwiesen" werden (so BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22.01.2020 - 2 BvR 1807/19 -, juris Rn. 19; VG Würzburg, Urteil vom 15.06.2020 - W 8 K 20.30255 -, juris Rn. 26) oder es ihm nicht "zugemutet" werden (so VG Chemnitz, Urteil vom 18.05.2021 - 4 K 2610/17.A -, juris Rn. 39) dürfe.

46 Dennoch wird in der Regel eine Prognose dahingehend angestellt, in welchem Umfang der Betroffene voraussichtlich seine Neigungen im Herkunftsland ausleben wird, ob im Verborgenen oder äußerlich erkennbar, oftmals orientiert an der bisherigen Risikobereitschaft oder der Lebensweise in Deutschland (so etwa VG München, Urteil vom 08.03.2019 - M 9 K 17.39188 -, juris Rn. 21; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 08.10.2020 - 4 K 945/18 -, juris Rn. 52; VG Berlin, Urteil vom 17.08.2020 - 6 K 686.17 A -, juris Rn. 46). Es wird von den Antragstellern mithin erwartet, dass sie in irgendeiner Form unter Beweis stellen, dass ihnen das Verfolgen ihrer Neigungen wichtig und damit relevanter Bestandteil ihrer Identität ist.

47 Die sexuelle Orientierung ist aber zwingend bedeutsamer Bestandteil der Identität eines Menschen. Dies würde man auch einer heterosexuellen Person nicht absprechen, selbst wenn diese seit Jahren ohne Partner oder sexuelle Kontakte lebt. Wie viel Platz Sexualität und Partnerschaft im Leben eines Menschen einnehmen, ist individuell unterschiedlich und kann sich jederzeit massiv verändern, wenn der Betreffende eine Person kennen lernt, zu der er sich hingezogen fühlt (ähnlich VG Chemnitz, Urteil vom 18.05.2021 - 4 K 2610/17.A -, juris Rn. 30). Selbst wenn das bisherige ungebundene Dasein für denjenigen bis zu dem Zeitpunkt akzeptabel oder sogar erfüllt gewesen sein mag, kann sich sodann von einem Tag auf den anderen das Bedürfnis einstellen, mit dieser Person sein Leben zu verbringen oder etwa eine Familie zu gründen. Unter dieser Prämisse darf ein Geflüchteter nicht in ein Land zurückgeschickt werden, in dem ihm das offene Zusammenleben mit einem frei gewählten Partner der Gefahr staatlicher Verfolgung aussetzen würde.

48 Auch der Europäische Gerichtshof hat in der Originalfassung des Urteils vom 07.11.2013 (C-199/12 bis C-201/12) bei wörtlicher Übersetzung tatsächlich ausgeführt, "bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft könnten die zuständigen Behörden vernünftigerweise [bzw. billigerweise] nicht erwarten, dass der Asylbewerber, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden, im Herkunftsland seine Homosexualität geheim hält oder seine sexuelle Orientierung nur zurückhaltend zum Ausdruck bringt," (niederländische Originalfassung einzusehen unter:https://eur-lex.europa.eu/legal-content/NL/ALL/? uri=CELEX%3A62012CJ0199; vgl. Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD), Korrektur zweier Übersetzungsfehler im Urteil ECLI:EU:C:2013:720, 18.05.2021). Der Einschub "von dem Asylbewerber" (vgl. juris a. a. O.) anstatt "vernünftigerweise" bzw. "billigerweise" ist eine Veränderung des Urteilstextes in der deutschen Übersetzung, die den Sinn der Aussage verändert. Es muss angenommen werden, dass der Gerichtshof nicht nur ausschließen wollte, dass die Behörden ein solches Verhalten vom Betroffenen verlangen oder fordern (i.S.v. etwas "von jemandem" erwarten), sondern klarstellen, dass sie eine solche Diskretion auch nicht – etwa aufgrund einer bisher sexuell zurückhaltenden Lebensweise – unterstellen oder prognostisch vermuten und daraus Schlüsse ziehen dürfen. Diese Annahme wird bestätigt durch die Begründung des Urteils, in der der Gerichtshof ausführt, "dass [der Betroffene] die Gefahr dadurch vermeiden könnte, dass er beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung größere Zurückhaltung übt als eine heterosexuelle Person, ist insoweit unbeachtlich".

49 Schon weil die Einzelrichterin also davon überzeugt ist, dass der Kläger tatsächlich bisexuell ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine dauerhafte und erzwungene Unterdrückung seiner Neigungen im Iran für ihn zumutbar wäre. Die Entscheidung, wie jemand seine sexuelle Orientierung auslebt und insbesondere, ob er sich offen zu seiner sexuellen Orientierung bekennen möchte oder nicht, ist eine höchstpersönliche, deren Bewertung dem Gericht entzogen ist. Der Kläger hat ein berechtigtes Interesse an der Bewahrung dieser Freiheit einschließlich der freien Wahl des richtigen Zeitpunkts für ein "Outing". 50 Eine innerstaatliche Fluchtalternative i.S.v. § 3e Abs. 1 AsylG ist nicht gegeben, denn die oben dargestellte Situation für Homo- und Bisexuelle gilt im gesamten Iran. [...]