Abschiebungsverbot für jungen Mann aus Somalia:
1. Auch wenn sich die humanitäre Lage in Somalia durch die Corona-Pandemie, Überflutungen sowie die Heuschreckenplage weiter verschärft hat, ist nicht von einem generellen Abschiebungsverbot auszugehen.
2. Ein Abschiebungsverbot ist jedoch dann festzustellen, wenn die betroffene Person Somalia schon vor längerer Zeit verlassen hat, nicht auf familiäre Unterstützung zurückgreifen kann und auch sonst keine besonderen Kenntnisse oder Fähigkeiten vorliegen, die die Existenzsicherung in Somalia erleichtern würden.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Diesen überzeugenden Feststellungen, die sich mit der vorliegenden Erkenntnislage decken, schließt sich die Einzelrichterin an und macht sich diese zu eigen.
Im Fall des Klägers ist jedoch aufgrund besondere individueller Umstände ausnahmsweise davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr nach Somalia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein würde, da das Gericht davon überzeugt ist, dass sich die ohnehin schwierige Situation in Somalia für den Kläger aufgrund seiner individuellen Situation derart zuspitzen würde, dass die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegen.
Denn die ohnehin schon schwierige wirtschaftliche Lage in Somalia dürfte sich noch weiter verschärft haben, da sich das Land aktuell einer dreifachen Bedrohung (sog. "Triple Threat") durch die Folgen der weltweiten COVID-19 Pandemie, Überflutungen und einer Heuschreckenplage ausgesetzt sieht, die eine ernsthafte Herausforderung für die Gewährleistung der Grundversorgung in Somalia darstellen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia vom 18.04.2021, S. 22).
Auch wenn das Ausreisedatum sich nicht mehr genau rekonstruieren lässt, so befand sich der Kläger nachweislich bereits im September 2012 in Norwegen und hat Somalia somit vor über 9 Jahren verlassen. Nach seiner langen Abwesenheit verfügt der Kläger ebenso wenig über aktuelle Kenntnisse der Strukturen in Somalia wie über Netzwerke, die zum dortigen Überleben von besonderer Bedeutung sind. Der Kläger hat auch keine besonderen Kenntnisse oder Fähigkeiten, welche ihm das überleben in Somalia erleichtern könnten. Die Berichterstatterin glaubt dem Kläger, dass sein Vater schon vor längerer Zeit verstorben ist und er keine Familienangehörigen mehr in Somalia hat, die ihn unterstützen könnten. Vielmehr hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung überzeugend und glaubhaft geschildert, dass seine Familie in den Jemen geflohen ist und er sie finanziell unterstützt hat, bis der Kontakt zu ihnen abgebrochen ist. Vor diesem Hintergrund glaubt die Berichterstatterin dem Kläger, dass er in Somalia kein familiäres Netzwerk hat, bei dem er zumindest vorübergehend Unterkunft und Unterstützung finden könnte. Auch ist seine Familie selbst auf Unterstützung durch den Kläger angewiesen und kann ihn nicht finanziell unterstützen.
Bei lebensnaher Betrachtung ist daher davon auszugehen, dass sich der Kläger im Falle einer Rückführung nach Somalia nur in einem Flüchtlingslager unterkommen könnte, in denen aber schlechte Zustände herrschen. Die dortigen (Binnen-)Flüchtlinge werden von allerlei nichtstaatlichen - aber auch staatlichen - Stellen ausgenutzt und missbraucht. Schläge, Vergewaltigungen, Abzweigung von Nahrungsmittelhilfen, Bewegungseinschränkung und Diskriminierung aufgrund von Clanzugehörigkeit sind an der Tagesordnung; es kommt auch zu Vertreibungen und sexueller Gewalt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 12. Mai 2021, S. 164). Die Zahl der Binnenvertriebenen in Süd- und Zentralsomalia beträgt etwa 2,6 Millionen; viele von ihnen sind akut von Nahrungsmittelknappheit bedroht (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia vom 12. Mai 2021, S. 163). Rückkehrer aus dem Ausland konkurrieren mit dieser großen Zahl an intern Vertriebenen um die ohnehin nicht ausreichenden Ressourcen des Landes. Wenn eine Person in einem Gebiet weder über eine Kernfamilie noch über Verwandte verfügt, wird sie sich in einem IDP-Lager wiederfinden; eine erfolgreiche Reintegration hängt also in erheblichem Maße von den lokalen Beziehungen der rückkehrenden Person ab, da verfügbare Jobs mitunter nur über das Clan-Netzwerk vergeben werden (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 17. September 2019, S. 117). Die Situation dürfte sich durch die Covid-19-Pandemie und die drohende Heuschreckenplage weiter verschärfen (FSNAU, SOMALIA Food Security Outlook, June 2020 to January 2020). Vor diesem Hintergrund liegen nach Überzeugung des Gerichts in der Person des Klägers im konkreten Einzelfall besondere Umstände vor, die es ihm nicht ermöglichen, in Somalia, speziell auch in Mogadischu. wo die Abschiebung endet, das Existenzminimum für sich zu sichern. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ihm dies in anderen Landesteilen Somalias gelingen könnte und dass er zumutbar in diese Landesteile weiterreisen könnte. Die Ortschaft ... in der Region Jubbada Dhexe (Middle Jubba), aus welcher die Mutter des Klägers stammt, ist immer noch von Al Shabaab beherrscht (vgl. BFA. Länderinformation der Staatendokumentation vom 21.10.2021. S. 30) und der Kläger hat seinen glaubhaften Angaben zufolge dort auch kein soziales Netzwerk mehr. [...]