VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 18.11.2021 - 25 K 193.17 A - asyl.net: M30482
https://www.asyl.net/rsdb/m30482
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für geschiedene Frau aus dem Irak und ihre Tochter:

1. Geschiedene Frauen sind im Irak erheblichen sozialen und wirtschaftlichen Problemen ausgesetzt, die jedoch nicht ohne weiteres die Schwelle zu flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungshandlungen überschreiten.

2. Aufgrund der Diskriminierung alleinstehender und geschiedener Frauen ist auch im Falle einer gut ausgebildeten geschiedenen Frau nicht davon auszugehen, dass sie in der Lage sein wird, im Irak ein wirtschaftliches Existenzminimum zu erwirtschaften.

3. Ähnliches gilt für eine junge erwachsene alleinstehende Frau, die den Großteil ihres Lebens in Deutschland verbracht hat.

4. Ein Leben in einem Flüchtlingscamp ist alleinstehenden Frauen nicht zumutbar, weil sie dort dem beachtlichen Risiko von Gewalt ausgesetzt wären.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Frauen, Existenzgrundlage, alleinstehende Frauen, geschiedene Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Diskriminierung, Unterbringung, Sicherung des Lebensunterhalts,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 3 Abs. 1, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

Etwas anderes ergibt sich aus nicht aus dem Umstand, dass die Klägerin mittlerweile geschieden ist. Es spricht zur Überzeugung des Gerichts auf Grundlage der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse betreffend Irak derzeit nichts dafür, dass der Klägerin aufgrund dieses Umstandes eine Verfolgung i.S.d. § 3a AsylG durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure drohen würde. Dabei geht das Gericht davon aus, dass geschiedene Frauen im Irak erheblichen sozialen und wirtschaftlichen Problemen ausgesetzt sind, die jedoch nicht ohne weiteres [die] Schwelle zu flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG überschreiten.

Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Frauen sind im Alltag Diskriminierungen ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichem Leben im Irak verhindern. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft und insbesondere unter Binnenflüchtlingen hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken.

Andererseits ist von maßgebender Bedeutung, dass Ehescheidungen, auch seitens der Frau, im Irak weit verbreitet sind. Zwischen 2004 und 2014 wurden im Irak ca. 2,6 Millionen Ehen geschlossen und gleichzeitig ca. 517.000 Scheidungsanträge eingereicht, davon 70% von Frauen (vgl. Finnish Immigration Service - MIGRI - Overview of the status of women living without a safety net in Iraq, vom 22. Mai 2018, S. 41 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - BFA -, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Irak - Scheidung, Situation geschiedener Frauen, vom 1. Oktober 2018, S. 13 m.w.N.). Das gesellschaftliche Klima gegenüber Geschiedenen ist nicht offen repressiv. [...]

Hiervon ausgehend spricht nichts dafür, dass die Klägerin zu 1 im Falle ihrer Rückkehr aufgrund ihrer Ehescheidung der Gefahr von Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a Abs. 1 AsylG ausgesetzt wäre. [...]

3. Allerdings haben die Klägerinnen zu 1 und 3 jeweils Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. [...]

Nach diesen Maßstäben ist im vorliegenden Fall bei der gebotenen Einzelfallbewertung von dem Vorliegen eines Ausnahmefalls auszugehen, in dem die Sicherung des existentiellen Lebensunterhalts der Klägerinnen zu 1 und 3 bei einer Rückkehr in den Irak nicht gewährleistet erscheint.

Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen ergibt sich, dass die humanitäre Lage Im Irak weiterhin prekär ist, auch wenn die Weltbank in der zweiten Jahreshälfte 2019 eine breite wirtschaftliche Erholung festgestellt hat (vgl. EASO, Iraq - Key socio-economic indicators for Baghdad, Basra and Erbil, September 2020, S. 36). Durch fallende Ölpreise und die grassierende COVID-19-Pandemie ist die wirtschaftliche Erholung allerdings aktuell wieder gefährdet (vgl. EASO. Iraq - Key socio-economic indicators for Baghdad, Basra and Erbil. September 2020, S. 37). Im Irak benötigten zuletzt insgesamt ca. 4,1 Millionen Menschen humanitäre Hilfe, einschließlich Binnenvertriebener, Rückkehrer, Flüchtlingen aus Syrien und anderen Ländern (vgl. UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2020. November 2019, S. 5). Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. [...]

Soweit die Klägerinnen in den Irak zurückkehren müssten, wäre die Sicherung ihres existentiellen Lebensunterhalts angesichts der dortigen Versorgungs- und allgemeinen wirtschaftlichen Lage nicht gewährleistet. Weder die Klägerin zu 1 noch die gerade 18-jährige Klägerin zu 3 könnten ihren eigenen den Lebensunterhalt gewährleisten. Eine auskömmliche Erwerbstätigkeit der Klägerin zu 1 erscheint unrealistisch. Zwar hat die Klägerin eine … Ausbildung abgeschlossen und im Irak vor ihrer Ausreise als … gearbeitet. Aufgrund der in den vergangenen Jahren festzustellenden Verschlechterungen der Situation alleinstehender oder gar geschiedener Frauen und den ihnen drohenden vielfältigen Diskriminierungen, nicht zuletzt beim Zugang zu Erwerbstätigkeit (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, a.a.O., S. 13; EASO, Country Guidance: Iraq, Common analysis and guidance note, Januar 2021, S. 104 f.).

Ähnlichen Hindernissen in Bezug auf eine Erwerbstätigkeit wäre die Klägerin zu 3 ausgesetzt. In ihrem Falle kommt hinzu, dass die Klägerin den Großteil ihres Lebens in Deutschland zugebracht, im Gegensatz zu ihrer Mutter weder im Irak gearbeitet noch eine Berufsausbildung absolviert hat und zudem nur noch über eingeschränkte Kenntnisse der arabischen Sprache verfügt.

Schließlich könnten die Klägerinnen auch nicht auf Unterstützung durch die Ursprungsfamilie der Klägerin zu 1 zurückgreifen. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen unter 1. Bezug genommen. Auch wenn nicht von der Gefahr konkreter körperlicher Übergriffe infolge des Verhaltens der Klägerin zu 1 gerechnet werden muss, sprechen doch erhebliche Gründe für die Annahme, dass die Klägerin zu 1 - und mit ihr die Klägerin zu 3 - vom Familienverbund abgelehnt wird und von dieser Seite keine hinreichende Unterstützung mehr erhalten wird. Mit einer Unterstützung seitens des früheren Ehemannes der Klägerin zu 1 ist angesichts der Ehescheidung ebenfalls nicht zu rechnen. [...]

Ein Leben in einem Flüchtlingscamp wäre den Klägerinnen zu 1 und 3 nicht zuzumuten, da die Klägerinnen dort dem beachtlichen Risiko von Gewalt ausgesetzt wären (EASO, Country Guidance: Iraq, Common analysis and guidance note, Januar 2021, S. 104). Die Klägerinnen sähen sich daher im Falle einer Rückkehr in den Irak einer Situation existenzieller Not gegenüber. [...]