VG Trier

Merkliste
Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 14.03.2022 - 9 K 2045/21.TR - asyl.net: M30700
https://www.asyl.net/rsdb/m30700
Leitsatz:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hinsichtlich Afghanistans wegen Apostasie:

1. Einer Person, die sich ernsthaft und mit innerer Überzeugung vom Islam abgewandt hat, droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG: Atheist*innen und Apostat*innen unterliegen staatlicher und nichtstaatlicher Verfolgung bis hin zur Todesstrafe.

2. Zwar liegen zu den Auswirkungen der Machtübernahme durch die Taliban auf Apostasie und Konversion noch keine validen Informationen vor, nach lebensnaher Betrachtungsweise ist es jedoch nicht wahrscheinlich, dass sich die Lage unter dem Talibanregime zugunsten von Apostat*innen geändert hat.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Halle, Urteil vom 31.03.2022 - 5 A 110/21 HAL - asyl.net: M30766)

Schlagwörter: Afghanistan, Apostasie, Atheisten, konfessionslos, Konvertiten, Glaubensfreiheit, Taliban, Todesstrafe, Scharia-Recht,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Der Abfall vom muslimischen Glauben führt bei Rückkehr nach Afghanistan zu Verfolgung. Nach der Überzeugung des Gerichts ist nicht nur für vom Islam zum etwa Christentum konvertierte Afghanen, sondern auch für Atheisten und Apostaten davon auszugehen, dass ihre Glaubensausübung staatlichen bzw. vor allem nichtstaatlichen Diskriminierungen durch die eigene Familie oder ihr Wohnumfeld bis hin zur Todesstrafe unterliegt, falls ihr Abfall vom Glauben in Afghanistan bekannt wird. Ein dauerhafter und nachhaltiger staatlicher Verfolgungsschutz ist derzeit nicht gegeben. Nach der islamischen Glaubenslehre wird jede Person, die den Glauben an Gott und den Koran als Gottes Offenbarung ablehnt, als Ungläubiger bezeichnet (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 30. September 2014 - 5 A 193/13 MD -). Eine Konversion vom Islam wird als Apostasie betrachtet und gemäß den Auslegungen des islamischen Rechts durch die Gerichte mit dem Tode bestraft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan vom 15. Juli 2021, S. 9). Zwar sind über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban, im August 2021 auf Apostasie, Blasphemie und Konversion noch keine validen Informationen bekannt (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation - Afghanistan, 28. Januar 2022, S. 114). Das Gericht erachtet es jedoch nach lebensnaher Betrachtungsweise nicht als wahrscheinlich, dass sich die Lage unter dem Talibanregime zugunsten von Apostaten geändert hat.

Das Gericht ist aufgrund des Gesamteindrucks des Klägers in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt. dass sich der Kläger ernsthaft vom muslimischen Glauben abgewandt hat und sein religiöser Einstellungswandel nicht auf bloßen Opportunitätserwägungen beruht. Das Gericht ist in diesem speziellen Einzelfall davon überzeugt, dass der Abfall des Klägers vom muslimischen Glauben mittlerweile dergestalt identitätsprägend ist, dass davon auszugehen ist, dass er seine den Islam ablehnende Weltanschauung bei einer Rückkehr in sein Heimatland leben und praktizieren wird. [...]

Nach dem Eindruck, den das Gericht auf Grund der mündlichen Verhandlung von dem Kläger gewonnen hat, hat er sich ernsthaft und mit innerer Überzeugung vom Islam abgewandt. Wie es hierzu kam und welchen Prozess der Kläger dafür durchlaufen hat, konnte er glaubhaft und überzeugend darlegen. Das Gericht ist insbesondere davon überzeugt, dass der Kläger sich weiterhin mit religiösen Themen, Riten und philosophischen Fragen auseinandersetzt und das tiefe Bedürfnis hat, seine Meinung zu diesen auch frei zu äußern. Er wird seine Grundhaltung bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht verbergen können.  [...]

Für das Gericht bestehen nach alledem keinerlei Zweifel daran, dass der Kläger über einen längeren Prozess hinweg aus einer festen, ernstgemeinten inneren Überzeugung sich vom muslimischen Glauben abgewandt hat und sein Leben danach ausrichtet. [...]