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VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 02.12.2024 - 6 K 2464/22.A - asyl.net: M33105
https://www.asyl.net/rsdb/m33105
Leitsatz:

Abschiebungsverbot wegen akuter Gefahr des Suizids: 

Die Feststellung eines Abschiebungsverbotes kann in einem atypischen Fall die gesamte Familie umfassen, wenn bei der erkrankten Person die Vorstellung der eigenen Abschiebung oder die Abschiebung von Familienmitgliedern eine akute Gefahr von Suizidalität auslöst. 

(Leitsatz der Redaktion) 

Schlagwörter: psychische Erkrankung, Retraumatisierung, Posttraumatische Belastungsstörung, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Russische Föderation, Tschetschenien, Suizidgefahr,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung steht es aufgrund der im Schriftsatz der Verfahrensbevollmächtigten der Kläger vom 3. Juli 2024 sorgfältig herausgearbeiteten Zeitschiene in Verbindung mit den mit Schriftsatz vom 22. November 2024 eingereichten (und aktualisierten) fachärztlichen Bescheinigungen zur Überzeugung des erkennenden Einzelrichters fest, dass eine Abschiebung des Klägers zu 1. - oder gar der gesamten Familie - bei diesem zeitnah und akut die Gefahr eines Suizids auslösen kann. Mit dem Vortrag und den fachärztlichen Bescheinigungen begegnen die Kläger den Bedenken des Bundesamts im angefochtenen Bescheid zur ordnungsgemäßen Exploration des Klägers zu 1. [...] und den Kausalzusammenhängen zwischen erlittenen Traumata und den nunmehr behandlungsbedürftigen Folgen der Traumatisierung überzeugend. Aus der Bescheinigung vom ... 2024 ergibt sich, dass es von ... 2020 bis ... 2023 psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlungen mit insgesamt 25 Sitzungen gab, womit die vom Bundesamt geäußerten Bedenken an einer ausreichenden Exploration des Klägers zu 1. ausgeräumt sein dürften. Weiter heißt es in der Bescheinigung vom ... 2024 wie folgt: "... Bei Konfrontation mit den Ereignissen in Tschetschenien kommt es auch heute noch zu Flashbacks, Dissoziationen, innerer Unruhe und Anspannung. Aufgrund der bevorstehenden Verhandlung kommt es aktuell zu einer krisenhaften Zuspitzung mit ausgeprägtem depressiven Syndrom und Angstzuständen. Im Vordergrund stehen Ängste, ins Heimatland abgeschoben zu werden und dort erneut der Verfolgung ausgesetzt zu sein. Da es schon jetzt zu einer Dekompensation mit ausgeprägter depressiver Symptomatik (gekommen ist), ist bei einer Rückführung ins Heimatland mit einer weiteren wesentlichen Verschlechterung der Symptomatik, auch mit einer weiteren Retraumatisierung (durch die) Fluchtgeschichte zu rechnen. Eine lebensbedrohliche Zuspitzung mit suizidalen Gedanken ist zu befürchten". Der erkennende Richter hat in der mündlichen Verhandlung selbst beobachten können, wie sehr die informatorische Befragung des Klägers zu 1. diesen belastete und deutlich wahrnehmbare körperliche Reaktionen bei ihm auslöste, die sich während der Unterbrechung der mündlichen Verhandlung schließlich Bahn brachen (Emesis, Hyperhidrose und Tremor).

Die Feststellung des Abschiebungsverbots umfasst in diesem untypischen Fall auch die gesamte Familie, weil eine Abschiebung der Ehefrau und der Kinder beim Kläger zu 1. auch wenn er selbst aufgrund eines festgestellten Abschiebungsverbots (nur) zu seinen Gunsten nicht abgeschoben werden könnte, dieselbe kritische suizidale Situation auslösen wird. [...]