OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.01.2005 - 8 A 159/05.A - asyl.net: M6271
https://www.asyl.net/rsdb/M6271
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, HADEP, Berufungszulassungsantrag, Divergenzrüge, Verfolgungsbegriff, Rechtliches Gehör, Überraschungsentscheidung, Urteilsgründe, Erkenntnismittelliste, Beweisantrag, Sachverständigengutachten, Posttraumatische Belastungsstörung, Ausforschungsbeweisantrag, Beweisermittlungsantrag, Amtsermittlungsgrundsatz
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 2; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3; VwGO § 138 Nr. 3; VwGO § 86
Auszüge:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten Abweichung im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG zuzulassen.

Das Verwaltungsgericht ist weder ausdrücklich noch konkludent von der in der Zulassungsschrift zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abgewichen, wonach eine Verfolgung dann eine politische ist, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (So der in der Zulassungsschrift zitierte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 2000 - 2 BvR 752/97 -, EZAR 201 Nr.32, im Anschluss an die Beschlüsse vom 2. Juli 1980 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341, und vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315).

Vielmehr hat es dieses Begriffsverständnis seiner Entscheidung ausdrücklich (vgl. S. 7 des Urteilsabdrucks) zugrundegelegt. Hierzu stehen die in der Zulassungsschrift zitierten Passagen des angefochtenen Urteils nicht in Widerspruch. Sie betreffen nicht die abstrakten Voraussetzungen einer asyl- bzw. abschiebungsrechtlich erheblichen Verfolgung, sondern die einzelfallbezogene Würdigung des geltend gemachten individuellen Verfolgungsgeschehens, das das Verwaltungsgericht aus den auf den Seiten 9 bis 13 im Einzelnen dargelegten Gründen als nicht glaubhaft angesehen hat.

Auch die geltend gemachte Abweichung von der Rechtsprechung des Senats liegt nicht vor.

Entgegen der Darstellung in der Zulassungsschrift hat der Senat in seinem Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A - keinen Grundsatz des Inhalts aufgestellt, dass Sympathisanten der HADEP (generell) in der Türkei verfolgt würden.

Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten Versagung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.

Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Es gebietet nicht, dass sich das Gericht in seinen schriftlichen Entscheidungsgründen mit jeder Einzelheit ausdrücklich und in ausführlicher Breite auseinander setzt. Deshalb müssen, um eine Versagung des rechtlichen Gehörs festzustellen, im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 -, BVerfGE 86, 133 (146) m.w.N.; BVerwG, Beschluss vom 1. Oktober 1993 - 6 P 7.91 NVwZ-RR 1994, 298 f. m.w.N. ). Das zeigen die Kläger nicht auf. Ihr Vorbringen, dem Urteil fehle es an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem - in der Antragsschrift nicht näher bezeichneten - "asylerheblichen Kern" des Vortrags der Kläger, entspricht in Bezug auf den Kläger zu 1. nicht dem Darlegungserfordernis gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG und ist darüber hinaus angesichts des Umfangs der Ausführungen, mit denen das Verwaltungsgenchts dessen Asylvorbringen gewürdigt hat, nicht nachvollziehbar. Auch soweit die Kläger in diesem Zusammenhang darauf verweisen, das Gericht habe sich mit dem Vortrag der Klägerin zu 2. nicht auseinandergesetzt, dringt die Gehörsrüge nicht durch. Die Kläger legen keine Umstände dar, die darauf schließen lassen, dass das Verwaltungsgericht das Vorbringen der Klägerin zu 2. nicht zur Kenntnis genommen oder bei der abschließenden Würdigung nicht mehr im Blick gehabt hätte. Sie wenden sich der Sache nach gegen die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Würdigung des diesbezüglichen Vorbringens als unglaubhaft. Ob das Verwaltungsgericht dem tatsächlichen Vorbringen der Klägerin zu 2. die richtige Bedeutung zugemessen und die richtigen Folgerungen daraus gezogen hat, ist jedoch keine Frage des rechtlichen Gehörs, sondern eine Frage der Tatsachen- und Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 VwGO.

Auch die Rüge, das Verwaltungsgericht habe seine Entscheidung auf Erkenntnismittel gestützt, die nicht ordnungsgemäß und konkret in das Verfahrene ingeführt worden seien, bleibt ohne Erfolg.

Die Zulassungsschrift zeigt nicht auf, dass das Verwaltungsgericht verfahrensfehlerhaft Erkenntnisse gewürdigt hätte, die nicht zuvor in das Verfahren einbezogen worden wären. Die Kläger stellen nicht in Abrede, dass ihren Prozessbevollmächtigten zusammen mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung eine mehrseitige, thematisch gegliederte Erkenntnisliste übersandt worden ist, in der die dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel sowie die Daten und Aktenzeichen der Grundsatzentscheidungen des Senats einzeln bezeichnet waren. Durch die Übersendung einer derart strukturierten Erkenntnisliste sind - ungeachtet der großen Anzahl - sämtliche darin aufgeführten Erkenntnismittel ordnungsgemäß ins Verfahren eingeführt wurden.

Denn die Auflistung ermöglicht dem Prozessbevollmächtigten der Kläger, sich in zumutbarer Weise einen Überblick über die Erkenntnisse zu verschaffen, die für die Meinungsbildung des Gerichts über die Verfolgungssituation in der Türkei maßgeblich sind. Ihr Umfang ist Folge der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur erschöpfenden Aufklärung des asylrechtsrlevanten Sachverhalts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 1993 - 2 BvR 514/93 - a.a.O.; OVG NRW, Beschlüsse vom 4. Juni 1998 - 1 A 2296/98.A -, NVwZ 1999, Beilage- Nr. 1, S. 2 f. und vom 23. Januar 2002 - 21 A 1590/01.A -; Sächs. OVG, Beschluss vom 3. Juli 2002 - 3 B 437/02.A-, Sächs. VBI. 2002, 270; Hess. VGH, Beschluss vom 1. März 2004 - 6 UZ 2532/02.A -, InfAuslR 2004, 262).

Die Kläger benennen auch kein Erkenntnismittel, das das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil zitiert hätte, das jedoch in der Erkenntnismittelliste nicht aufgeführt wäre.

Der Sache nach wenden sich die Kläger auch insoweit gegen die Tatsachen- und Beweiswürdigung des Gerichts, weil sie der Auffassung sind, dass es zur sachgerechten Beurteilung des maßgeblichen Sachverhalts und zur zutreffenden Einschätzung der Verhältnisse in der Türkei der Einholung von Auskünften bedurft hätte. Soweit damit sinngemäß auch die Rüge unzureichender Sachaufklärung geltend gemacht wird, ist eine Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs nicht dargetan. Denn Aufklärungsmängel stellen grundsätzlich ebenfalls keine Versagung rechtlichen Gehörs dar (vgl. BverfG, Beschluss vom 18. Februar 1988 2 BvR 1324/87 -, NVwZ 1988, 523, 524). Das gilt auch insoweit, als der gerichtlichen Aufklärungsverpflichtung ("Ermittlungstiefe") verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 25. September 2001 -12 ZU 2284/01.A -).

Die Zulassungsschrift legt ferner keine Umstände dar, die das angefochtene Urteil als eine unter Versagung des rechtlichen Gehörs zustande gekommene Überraschungsentscheidung erscheinen lassen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör begründet keine Pflicht des Verwaltungsgerichts, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die mögliche Würdigung des Sachverhalts

hinzuweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Einschätzung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Entscheidungsfindung nach Schluss der mündlichen Verhandlung ergibt (vgI.etwa BVerwG, Beschluss vom 11. Mai 1999 - 9 B 1076.98 - ,juris, und Urteil vom 22.April 1986 - 9 C 31.8.85 u.a. -, NVwZ 1986, 928).

Hieran gemessen kann von einer Überraschungsentscheidung keine Rede sein. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass bei Mitgliedern und Sympathisanten der HADEP im Einzelfall zu prüfen ist, ob sie als vermeintliche oder tatsächliche Separatisten in das Blickfeld der Sicherheitskräfte geraten sind, entspricht - wie bereits ausgeführt - der ständigen Rechtsprechung des Senats.

Ein Gehörsverstoß liegt auch nicht deshalb vor, weil das Verwaltungsgericht dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsbeweisantrag, ein Sachverständigengutachten dazu einzuholen, dass die Klägerin zu 2. an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide und im Falle eine Rückkehr in die Türkei eine erhebliche Verschlimmerung ihrer Krankheit drohe, nicht entsprochen hat. Die Rüge, die Ablehnung des Beweisantrages stelle einen Gehörsverstoß dar, weil sie im Prozessrecht keine Stütze finde, ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht ist dem Beweisantrag deshalb nicht nachgegangen, weil es keine Anhaltspunkte für das Vorliegen der behaupteten und unter Beweis gestellten posttraumatischen Belastungsstörung sah. Bei sachgerechter Würdigung zielt die vom Verwaltungsgericht gegebene Begründung mithin darauf, dass es sich um einen unzulässigen Ausforschungsbeweis handelt.

Allerdings ist mit Blick auf die vom Verwaltungsgericht formulierten Anforderungen an ein psychiatrisches Gutachten, durch das einem Asylbewerber das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung bescheinigt wird, klarstellend festzuhalten, dass diesen im vorliegenden Klageverfahren keine Beweisführungslast trifft. Wie in jedem verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist es ungeachtet der dem Kläger obliegenden Mitwirkungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz VwGO) grundsätzlich auch im asylrechtlichen Klageverfahren - für Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes sowie für Klageverfahren nach erfolglosen Folge - bzw. Wiederaufgreifensanträgen mag Abweichendes gelten - Sache des Gerichts, den Sachverhalt - soweit erforderlich - von Amts wegen aufzuklären (§ 86 Abs. 1 VwGO) und im Rahmen seiner Überzeugungsbildung alle Umstände zu würdigen (§ 108 Abs. 1 VwGO) (vgl. BVerwG, Urteil vom 29: Juni 1999 - 9 C 36.98-, BVerwGE 109, 174, 177).

Das gilt, da das Gesetz keine abweichende Regelung trifft, auch in Bezug auf die Tatsachen, die die Annahme eines Abschiebungshindernisses i.S. v. § 60 Abs. 7 AufenthG begründen können, Hiernach gibt eine ärztliche Bescheinigung, durch die dem Asylbewerber eine psychische Erkrankung attestiert wird, dem Verwaltungsgericht nicht erst dann Anlass zur weiteren Sachaufklärung, wenn sie in jeder Hinsicht den an ein zur Beweisführung geeignetes Sachverständigengutachten zu stellenden Anforderungen, vgl. zu den wissenschaftlichen Anforderungen an ein vom Gericht eingeholtes Glaubwürdigkeitsgutachten: BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 -, BGHSt45, 164 = NJW 1999, 2746, genügt. Das Verwaltungsgericht kann sogar schon dann gehalten sein, den Sachverhalt unter Inanspruchnahme ärztlichen Sachverstandes weiter aufzuklären, wenn zwar keine ärztliche Bescheinigung vorliegt, sich die Annahme einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung aber dennoch aufgrund besonderer Einzelfallumstände aufdrängt (vgI. zur Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens im asylrechtlichen Verfahren: BVerwG, Beschluss vom 18. Juli 2001 - 1 B 118.01 -, DVBI. 2002, 53; OVG NRW, Beschlüsse vom 30. März 2001 - 8 A 5585/99.A -, NVwZ 2001, Beilage Nr. I 9, 109 und vom 23. November 2004 - 8 A 2299/04.A -).

Fehlen derartige, für das Gericht erkennbare Umstände, kann die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung Anlass geben, das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses in Betracht zu ziehen. Voraussetzung hierfür ist, dass die Bescheinigung substantiiert und in für das Gericht nachvollziehbarer Weise ernstliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer psychischen Erkrankung aufzeigt, die bei dem Betroffenen gesundheitliche Beeinträchtigungen der von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorausgesetzten Schwere, nicht etwa bloße Befindlichkeitsstörungen, verursacht bzw. im Falle der Rückkehr in das Heimatland verursachen wird.

Dies zugrunde gelegt ergeben sich aus den ärztlichen Bescheinigungen vom 18. Oktober 2004 und vom 5. November 2004 keine hinreichenden Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses.