VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 12.05.2005 - A 8 K 10682/05 - asyl.net: M7057
https://www.asyl.net/rsdb/M7057
Leitsatz:

Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 8 AufenthG für früheren Kämpfer der PKK; keine Gefahr der Folter oder unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Strafverfahren in der Türkei mehr.

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Terrorismus, PKK, ERNK, KADEK, Anerkennungsrichtlinie, Gruppenverfolgung, Kämpfer (ehemalige), Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen, Beihilfe, Nachfluchtgründe, Situation bei Rückkehr, Folter, Menschenrechtswidrige Behandlung, Politische Entwicklung, Todesstrafe, Amnestie, Strafverfahren
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8 S. 2; RL 2004/83/EG Art. 12; AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 8 AufenthG für früheren Kämpfer der PKK; keine Gefahr der Folter oder unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Strafverfahren in der Türkei mehr.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Asylgewährung und Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Von diesen Grundsätzen ausgehend hat der Kläger zwar ausführlich und detailliert seinen politischen Werdegang dargelegt, der ihn nach verbrachter Jugend im Bundesgebiet zunächst zum militanten PKK-Kämpfer und nach einer erlittenen Beinverletzung im Jahre 1994 zum logistischen und strategischen, von irakischem Boden agierenden Unterstützer und Helfer der PKK im bewaffneten Kampf gegen die türkischen Einheiten werden ließ. Diese Angaben erscheinen dem Gericht im Kern glaubhaft. Hierbei kann als wahr unterstellt werden, dass der Kläger auf den im Jahre 2001 oder 2002 entstandenen und im Jahre 2002 in MED-TV ausgestrahlten Aufnahmen auf der von ihm vorgelegten Videokassette zu sehen und erkennen ist, die zwei Einheiten der PKK in den irakischen Bergen zeigt, die sich begrüßen.

Auf dieser Grundlage erscheint auch die Einschätzung des Klägers nicht fern liegend, dass er den türkischen Behörden namentlich bekannt geworden sei und hieran anknüpfende Sanktionen im Falle der Rückkehr in sein Heimatland zu gewärtigen habe. Das Gericht kann auch den Inhalt der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten eidesstattlichen Versicherung des Cousins des Klägers in Bezug auf die darin enthaltenen Tatsachenbehauptungen als wahr unterstellen, wonach dieser bei einem Besuch in der Türkei von einer Anti-Terror-Einheit in Gewahrsam genommen und nach dem Verbleib des Klägers befragt worden sei und der Kläger hierbei als Terrorist bezeichnet wurde, welcher der PKK angehöre.

Denn auch unter Zugrundelegung dieses Vorbringens scheitert die Gewährung von Flüchtlingsschutz an der Ausschlussklausel des § 60 Abs. 8 AufenthG, wie das erkennende Gericht bereits im Beschluss vom 20.04.2005 (a.a.O.) dargelegt hat. An der diesbezüglichen Einschätzung hat sich nichts geändert, weshalb nach nochmaliger Prüfung auf die früheren Ausführungen Bezug genommen werden kann.

Es ist nochmals darauf hinzuweisen, dass der Kläger durch sein jahrelanges Tätigwerden - sei es von türkischem bzw. von irakischem Boden aus, sei es als Angehöriger einer kämpfenden Einheit, sei es dass er die kämpfenden Einheiten durch seine Tätigkeit als Funker informiert und damit logistisch und strategisch unterstützt hat - den bewaffneten Kampf der PKK als einer terroristischen und gewaltbereiten Vereinigung aktiv unterstützt hat und sich dadurch hat Handlungen zuschulden kommen lassen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinigten Nationen zuwiderlaufen (§ 60 Abs. 8 Satz 2 Variante 3 AufenthG). Damit findet die Bestimmung des § 60 Abs. 1 AufenthG keine Anwendung. Dies entspricht auch der Intention der Ausschlussklauseln des Art. 12 der Richtlinie 2004/83 des Rates vom 29.04.2004 (Abl. L 304/12) über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie). Wie bereits im Eilverfahren ausgeführt, genügt es nach deren Art. 12 Abs. 3 für den Ausschluss des internationalen Schutzes, dass der Kläger zu Handlungen im Sinne des Art. 12 Abs. 2 der RL angestiftet hat oder an deren Beteiligung in anderer Weise beteiligt war, was vorliegend der Fall ist. Ob der Betreffende wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Personenvereinigung und der hierfür entwickelten Aktivitäten im Rahmen des § 129 StGB strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann, ist demgegenüber für den Ausschluss der Schutzgewährung nicht entscheidend.

Diese Einschätzung gilt auch dann, wenn man für die Anwendung der Bestimmung des § 60 Abs. 8 AufenthG verlangt, dass über das betreffende Verhalten im Ausland hinaus von dem Ausländer weiterhin Gefahren ausgehen, wie sie sich in seinem früheren Verhalten manifestiert haben. Denn hierfür sprechen regelmäßig frühere Aktivitäten für eine terroristische Vereinigung (vgl. zur Vorgängerbestimmung, OVG Rheinland-Pfalz, Inf. AuslR 2003, S. 254 ff). Das Gericht vermochte trotz des Bekenntnisses des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu seiner (nunmehr) gewaltverneinenden Gesinnung nicht die Überzeugung zu gewinnen, dass er sich tatsächlich endgültig aus diesem Umfeld gelöst hat.

Es kann auch dahinstehen, ob der Kläger als vorverfolgt anzusehen ist und ihm bei einer Einreise in die Türkei individuelle oder sonstige politische Verfolgung droht. Denn es ist davon auszugehen, dass der Kläger auch unter Zugrundelegung eines herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes unter dem Gesichtspunkt der Vorverfolgung in diesem Falle hinreichend sicher ist vor Folter (§ 60 Abs. 2 AufenthG), der Todesstrafe (§ 60 Abs. 3 AufenthG) und unmenschlicher Behandlung (§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK; vgl. BVerwG, Urteil vom 15.04.1997 - 9 C 19.96 -).

Ausweislich der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 19.05.2004, Kommission der Europäischen Gemeinschaft v. 06.10.2004) hat die Türkei in den Jahren 2001 bis 2004 umfangreiche Reformen durchgeführt, die in engem Zusammenhang mit dem Ziel des Beginns von EU-Beitrittsverhandlungen stehen, aber erklärtermaßen auch einer weiteren Demokratisierung zum Wohle ihrer Bürger dienen. Zur Verbesserung der Effizienz des Justizwesens wurden neue Fachgerichte geschaffen und durch Änderung von Rechtsvorschriften die Rechte der Verteidigung verbessert. Mit Gesetz Nr. 5190 vom 16.06.2004 (in Kraft getreten am 30.06.2004) wurden die Staatssicherheitsgerichte abgeschafft und einige ihrer Zuständigkeiten den neu geschaffenen regionalen "Gerichten für Schwere Strafsachen" übertragen. Diese wenden die gleichen Verfahrensregeln an wie die anderen "Gerichte für Schwere Strafsachen", abgesehen davon, dass erstere ihre Rechtsprechung über ein umfassenderes geographisches Gebiet ausüben und dass bei ihnen der zulässige Zeitraum zwischen Verhaftung und Anklage höchstens 48 statt 24 Stunden beträgt. Ferner wurde das Amt des Generalstaatsanwalts für Staatssicherheitsgerichte abgeschafft. Strafverdächtige genießen vor den "Gerichten für Schwere Strafsachen" auf beiden Ebenen identische Rechte, darunter das Recht auf einen Anwalt unmittelbar nach der Verhaftung. Durch die Reform wurde die volle Anwendbarkeit der türkischen Strafprozessordnung auch in diesen Verfahren sichergestellt. Die Todesstrafe wurde gemäß dem Protokoll Nr. 13 zur Europäischen Menschenrechtskonvention vollständig abgeschafft. Am 11.10.2004 hat Staatspräsident Sezer das am 26.09.2004 durch das türkische Parlament beschlossene neue Strafgesetz (Gesetz Nr. 5237) unterzeichnet, das am 01.04.2005 in Kraft tritt (hierzu auch Auskunft des Auswärtigen Amts vom 27.10.2004 an das VG Sigmaringen). Im Zuge des neuen Strafgesetzbuches wurden bereits Inhaftierte aus der Haft entlassen. Schätzungen zufolge kamen etwa ein Siebtel der derzeit Inhaftierten aufgrund von Strafmilderungen im neuen Strafgesetzbuch frei. Zu den vorzeitig Freigelassenen zählen auch mehrere wegen herausragender oder einfacher Mitgliedschaft in einer illegalen Vereinigung (Art. 168 türkStGB a.F.) Verurteilte. Art. 8 Antiterrorgesetz (Propaganda gegen die unteilbare Einheit des Staates) wurde abgeschafft. Nach dieser Norm wurden häufig kritische Meinungsäußerungen zur Kurdenfrage strafrechtlich sanktioniert. Die Verfahren für die Untersuchungshaft wurden an europäische Standards angeglichen. Die Lage in Bezug auf die freie Meinungsäußerung hat sich erheblich verbessert. Die Regierung hat auch eine Reform des Parteien- und Wahlgesetzes beschlossen sowie Parteischließungen und Politikverbote erschwert. Es wurden weitere Anstrengungen unternommen, um stärker gegen Folter und Misshandlung vorzugehen (vgl. auch § 94 türkStGB n.F.). Die Behörden verfolgen gegenüber der Folter eine "Null-Toleranz-Politik" und in einer Reihe von Folterfällen wurden die Beschuldigten bestraft (vgl. auch BAFl., März 2004, Kamil Taylan, Gutachten vom 26.06.2004 an das VG Frankfurt (Oder)). Die Türkei ist den wichtigsten internationalen und europäischen Übereinkommen beigetreten und hat das Prinzip des Vorrangs dieser internationalen Menschenrechtsübereinkommen vor dem nationalen Recht in der Verfassung verankert. Der Parlamentsausschuss für Menschenrechte spricht Missstände im Land deutlich an und schlägt Lösungsansätze vor. Menschenrechtsorganisationen berichten übereinstimmend, dass ihre Arbeit seit der Regierung unter Ministerpräsident Erdogan wesentlich einfacher, frei von ständiger Observierung und häufig sogar von konstruktiver Zusammenarbeit geprägt sei.