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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 27.01.2006 - 1 B 89.05 - asyl.net: M8121
https://www.asyl.net/rsdb/M8121
Leitsatz:

Das Berufungsgericht muss vom Kläger aufgeführte Gutachten, die gegen seine Einschätzung (hier: Rechtsprechung des BayVGH zur Gefährdung von Apostaten im Iran) sprechen, zur Kenntnis nehmen.

 

Schlagwörter: Verfahrensrecht, Verfahrensmangel, rechtliches Gehör, Gutachten, Beweismittel, Iran, Apostasie, Konversion, nichtstaatliche Verfolgung
Normen: VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3; GG Art. 103 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Das Berufungsgericht muss vom Kläger aufgeführte Gutachten, die gegen seine Einschätzung (hier: Rechtsprechung des BayVGH zur Gefährdung von Apostaten im Iran) sprechen, zur Kenntnis nehmen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Beschwerde hat mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg. Der Kläger rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsgericht hat wesentliches Vorbringen des Klägers nicht in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen und erwogen.

Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Gerichte das Vorbringen der Beteiligten, wie es Art. 103 Abs. 1 GG vorschreibt, zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Etwas anderes gilt aber, wenn besondere Umstände deutlich ergeben, dass das Gericht bestimmtes Vorbringen nicht berücksichtigt hat (st Rspr, vgl. etwa BVerfGE 86, 133, 145 f.). Das ist hier der Fall.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat auf die Ankündigung des Berufungsgerichts, möglicherweise im Beschlusswege nach § 130 a VwGO zu entscheiden, in dem von der Beschwerde zitierten Schriftsatz vom 1. März 2005 ausgeführt, aus den vorliegenden Auskünften ergebe sich eine "massive Gefährdung" von Apostaten im Iran. Er hat sich insbesondere auf die in der Anlage zur Stellungnahme des UNHCR übersandte Stellungnahme von Prof. Dr. S. von der Universität Zürich bezogen, aus der sich ergebe, dass Apostasie mit dem Tode bedroht werde. Prof. Dr. S. hat in seinem für die Schweizerische Asylrekurskommission am 28. März 2003 erstatteten Gutachten, das dem Berufungsgericht vorlag, unter anderem ausgeführt:

"Nicht nur gemäß der schiitischen Auslegung des Islams sondern für alle Moslems ist der Konvertit ein Ketzer, der für seine Apostasie mit dem Tod bestraft werden muss. Die Rückschaffung von Herrn ... in den Iran ist mit dem Vollzug des Todesurteils gegen ihn gleichzusetzen."

Die Beschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht dieses Vorbringen des Klägers sowie die von ihr zitierte Stellungnahme des Prof. Dr. S. nicht zur Kenntnis genommen hat. Entsprechendes gilt für die vom Prozessbevollmächtigten in dem bereits genannten Schriftsatz vom 1. März 2005 zitierten Aussagen im erstatteten Gutachten des Deutschen Orient-Instituts, wonach Apostaten ungeachtet der Regelung im staatlichen Recht regelmäßig andere Formen der Bestrafung zu gewärtigen hätten (vgl. insbesondere S. 2 des erstatteten Gutachtens). Das Berufungsgericht erwähnt die Stellungnahme von Prof. Dr. S. überhaupt nicht und die Ausführungen des Deutschen Orient-Instituts nur insoweit, als es um die Gewährleistung des religiösen Existenzminimums für Apostaten im Iran geht (BA S. 7). Im Rahmen seiner Würdigung der Verfolgungsgefahr wegen der Apostasie beschränkt sich das Berufungsgericht auf die Aussage, dass es an seiner ständigen Rechtsprechung festhalte, wonach der Abfall vom islamischen Glauben im Iran kein Straftatbestand sei, sondern als religiöses und gesellschaftliches Fehlverhalten anzusehen sei, dass jedoch erst bei einer über den bloßen Besuch öffentlicher Gottesdienste hinausgehenden, öffentlichkeitswirksamen religiösen Betätigung oder bei missionierender Tätigkeit eine Gefährdung durch Dritte befürchten lasse (BA S. 5 bis 6). Das Berufungsgericht verletzt das rechtliche Gehör des Klägers, indem es diese Feststellungen ohne Einbeziehung der erwähnten Stellungnahmen von Prof. Dr. S. und des Deutschen Orient-Instituts trifft.