VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 17.05.2006 - 11 A 2380/05 - asyl.net: M8421
https://www.asyl.net/rsdb/M8421
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, Aufenthaltsdauer, Integration, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Privatleben, Situation bei Rückkehr, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Zumutbarkeit
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; EMRK Art. 8; AufenthG § 5 Abs. 1; AufenthG § 5 Abs. 2; AufenthG § 5 Abs. 3 2. Hs.
Auszüge:

Die Kläger haben einen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen aus humanitären Gründen gem. § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG.

Ihre Ausreise ist nämlich aus rechtlichen Gründen unmöglich. Denn mit Rücksicht auf ihren langen Aufenthalt und die damit verbundene Integration der Kläger folgt aus Art. 8 EMRK ein rechtliches Ausreisehindernis.

Nach Abs. 1 der genannten Vorschrift wird u.a. das Privatleben geschützt. Abs. 2 ermöglicht aber Eingriffe u.a. dann, wenn dies gesetzlich vorgesehen und für die öffentliche Ordnung notwendig ist, wobei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist.

Grundsätzlich ist es hierbei das Recht der Vertragsstaaten, über den Aufenthalt fremder Staatsangehöriger zu entscheiden. Die Regelungen des AufenthG begründen hiernach zulässige Schranken des Aufenthaltsbestimmungsrechts eines Ausländers. Sie dienen u.a. der Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Nach § 4 AufenthG ist es deshalb grundsätzlich erforderlich, einen Aufenthaltstitel zu besitzen. Dabei ist in den Bestimmungen des AufenthG im Einzelnen geregelt, unter welchen Voraussetzungen diese erteilt werden können. Dem steht es grundsätzlich entgegen, allein durch den faktischen Aufenthalt mit der hiermit häufig verbundenen Integration in die deutschen Lebensverhältnisse ein Bleiberecht zu begründen.

Ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens lässt sich angesichts dieser Regelungskompetenz der Vertragsstaaten mithin nicht schon allein mit dem Argument bejahen, ein Ausländer halte sich bereits seit geraumer Zeit im Vertragsstaat auf und wolle dort sein Leben führen (EGMR, Urteil vom 7. Oktober 2004 - 33743/03 - [Dragan u.a. ./. Deutschland], NVwZ 2005, 1043 <1045>; Urteil vom 16. September 2004 - 11103/03 - [Ghiban ./. Deutschland], NVwZ 2005, 1046). Eingriffsqualität in Bezug auf Art. 8 Abs. 1 EMRK kommt einer aufenthaltsrechtlichen Entscheidung grundsätzlich vielmehr nur dann zu, wenn der Ausländer ein Privatleben, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiert ist, bei realistischer Betrachtung nur noch im Aufenthaltsstaat als Vertragsstaat der EMRK führen kann, also faktisch zum Inländer geworden ist. Ob eine solche Fallkonstellation für einen Ausländer in Deutschland vorliegt, hängt zum einen von der Integration des Ausländers in Deutschland, zum anderen von seiner Möglichkeit zur Reintegration in seinem Heimatland ab (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 11. April 2006 - 10 ME 58/06 -, Beschluss vom 18. April 2006 - 1 PA 64/06 -; OVG Koblenz, Beschluss vom 24. Februar 2006 - 7 B 10020/06.OVG -; VGH Kassel, Beschluss vom 15. Februar 2006 - 7 TG 106/06 - InfAuslR 2006, 217 <218>).

Nach der Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts (a.a.O.; s. auch VGH Kassel a.a.O.; wohl auch VGH Mannheim, Beschluss vom 2. November 2005 - 1 S 3023/04, lnfAuslR 2006, 70 <71>), der die Kammer folgt, kann unter Berücksichtigung der oben zitierten Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und den obigen grundsätzlichen Ausführungen allerdings von einer erfolgreichen Integration des Ausländers in aller Regel nicht ausgegangen werden, wenn er sich in der Zeit vor der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis nicht rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten hat. Sein Status ist dann so ungesichert, dass er nicht schutzwürdig darauf vertrauen kann, in der Bundesrepublik Deutschland verbleiben zu dürfen. Eine andere Betrachtung würde im gewaltengeteilten Staat (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) auch die den Ausländerbehörden bzw. den Verwaltungsgerichten zugewiesenen Kompetenzen, die im Vollzug und der Auslegung von Rechtsvorschriften bestehen, überschreiten. Es würde ohne - die von Art. 8 EMRK grds. respektierte - gesetzgeberische Erklärung oder politische Entscheidung der obersten Landesbehörden im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern (§ 23 AufenthG) der Verbleib größerer Personengruppen, die die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht erfüllen, ermöglicht. Dass es solcher politischer Entscheidungen bedarf, zeigt zudem der Umstand, dass diese Stellen durch hinreichend eindeutige Kriterien bestimmen müssten, welche der betroffenen Ausländer ein Aufenthaltsrecht erhalten.

Etwas anderes kann deshalb nur in besonderen atypischen Konstellationen gelten, wenn sich auf Grund der Umstände des Einzelfalles ganz ausnahmsweise ergibt, dass der Ausländer trotzdem faktisch zum Inländer geworden ist und deshalb jede andere Entscheidung als die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht mehr verständlich wäre. Anderenfalls würde auch ein nicht hinzunehmender Wertungswiderspruch zu der Regelung des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG eintreten, wonach selbst die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis außerhalb der gesetzlichen Vorgaben nur in Sonderkonstellationen zulässig ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 2000 - 1 C 14/00 - InfAuslR 2001, 72 <74>).

Bei der Prüfung, ob ein atypischer Sonderfall vorliegt sind im Anschluss an die Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts (a.a.O.; vgl, auch OVG Koblenz a.a.O. und VGH Kassel a.a.O.) vor allem folgende Kriterien zu berücksichtigen, die grundsätzlich sämtlich für einen Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland sprechen müssen: Gesichtspunkte für die Integration des Ausländers in Deutschland sind eine zumindest mehrjährige Dauer des Aufenthalts in Deutschland, gute deutsche Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in der Innehabung eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, in einem festen Wohnsitz, einer Sicherstellung des ausreichenden Lebensunterhalts einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel und dem Fehlen von Straffälligkeit zum Ausdruck kommt. Die Frage einer möglichen Reintegration im Heimatland bemisst sich nach Kriterien wie der Kenntnis der dortigen Sprache, der Existenz dort lebender Angehöriger sowie sonstiger Bindungen an das Heimatland. Ein atypischer Sonderfall kommt dabei eher in Fällen in Betracht, in denen der Aufenthalt des Ausländers in der Vergangenheit zumindest zeitweise rechtmäßig gewesen ist (vgl. EGMR, Urteil vom 16. Juni 2005 - 60654/00 [Sisojeva./.Lettland], InfAuslR 2005, 349). Darin können - je nach Dauer und Zweck des erlaubten Aufenthalts - an die zu Gunsten des Ausländers sprechenden o.g. Gesichtspunkte in gewissem Umfang geringere Anforderungen gestellt werden, müssen aber auch dann noch ganz erheblich überwiegen.

Sofern es im Hinblick auf möglicherweise fehlende Pässe, die Einreise ohne Visum oder die vollständige Sicherung des Lebensunterhalts an der Erfüllung der allgemeiner Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG fehlen sollte, hätte die Beklagte hiervon gem. § 5 Abs. 3 2. Halbsatz AufenthG abzusehen. Weil es sich bei den Klägern um sogenannte faktische Inländer handelt, wäre ihnen die (nachträgliche) Erfüllung dieser Voraussetzungen unzumutbar, so dass insoweit eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen wäre (vgl. auch Nr. 5.3.3, 25.5.2.5 der Vorl. Nds. VV-AufenthG).