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Zitieren als:
BGH, Urteil vom 18.05.2006 - III ZR 183/05 - asyl.net: M8466
https://www.asyl.net/rsdb/M8466
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Schadensersatz, Amtshaftung, immaterieller Schaden, Schmerzensgeld, Bindungswirkung, Sicherungshaft, Ausreisepflicht, Aufenthaltsgestattung, Erlöschen, Ablehnungsbescheid, Zustellung, Verfahrensmangel, Sachaufklärungspflicht, Haftrichter, Willkür, Verschulden
Normen: EMRK Art. 5 Abs. 5; AuslG § 57 Abs. 2; AufenthG § 62 Abs. 2; AsylVfG § 55 Abs. 1; AsylVfG § 67 Abs. 1 Nr. 6; BGB § 253 Abs. 2
Auszüge:

1. Beide Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, dass dem Kläger wegen der gegen ihn zu Unrecht verhängten Abschiebungshaft für den Zeitraum vom 27. Februar bis zum 10. März 2004 der geltend gemachte Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens gemäß Art. 5 Abs. 5 MRK zusteht.

2. Nach dieser Bestimmung hat jede Person, die unter Verletzung des Art. 5 MRK von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, Anspruch auf Schadensersatz.

3. Dass die Anordnung der Abschiebungshaft rechtswidrig war, steht aufgrund der Rechtskraft des im Beschwerdeverfahren aufgrund des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen ergangenen Beschlusses des Landgerichts Stuttgart mit Bindungswirkung für das vorliegende Verfahren fest. Insoweit gelten die gleichen Grundsätze, die der Senat im Amtshaftungsprozess für die Bindungswirkung der rechtskräftigen Entscheidung einer Strafvollstreckungskammer im Verfahren nach § 109 StVollzG (Senatsurteil BGHZ 161, 33, 34) und für diejenige einer im Verfahren nach §§ 23 ff EGGVG ergangenen Entscheidung des Strafsenats eines Oberlandesgerichts (Senatsurteil vom 17. März 1994 - III ZR 15/93 = NJW 1994, 1950) entwickelt hat. Darüber hinaus steht die sachliche Richtigkeit der Beschwerdeentscheidung des Landgerichts unter den Parteien außer Streit. Die Voraussetzungen für die Anordnung der Abschiebungshaft lagen zum Zeitpunkt der amtsgerichtlichen Entscheidung nicht vor. Die Anordnung der Abschiebungshaft in Form der Sicherungshaft nach § 57 Abs. 2 des seinerzeit geltenden Ausländergesetzes (s. jetzt § 62 Abs. 2 AufenthG) setzte neben der Gefahr der Vereitelung der Abschiebung voraus, dass der betroffene Ausländer ausreisepflichtig war. Die Ausreisepflicht entfällt insbesondere auch durch die gesetzliche Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG). Danach ist einem Ausländer, der (erstmalig) um Asyl nachsucht, zur Durchführung des Asylverfahrens der Aufenthalt im Bundesgebiet gestattet. Die Aufenthaltsgestattung erlischt allerdings nach § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylVfG insbesondere, wenn die Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag unanfechtbar geworden ist. Die Ausreisepflichtigkeit, insbesondere das Vorliegen der Aufenthaltsgestattung und ihr etwaiges Erlöschen, hat der Haftrichter von Amts wegen zu prüfen und festzustellen. Die gesetzliche Aufenthaltsgestattung stellt insoweit nicht nur ein (allein im Ausweisungsverfahren zu überprüfendes) Abschiebungshindernis, sondern auch ein Abschiebungshafthindernis dar (BayObLG NVwZ 1993, 102; OLG Karlsruhe NVwZ 1993, 811, 812; OLG Naumburg FGPrax 2000, 211), das folglich im Abschiebungshaftverfahren zu prüfen ist und dessen Vorliegen die Abschiebungshaft rechtswidrig macht. Im vorliegenden Fall war die Aufenthaltsgestattung nicht gemäß § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylVfG erloschen. Denn der Bescheid des Bundesamtes über die Ablehnung seines Asylantrags war mangels ordnungsgemäßer Zustellung noch nicht bestandskräftig geworden.

4. Diese - schon auf der Grundlage des einfachen nationalen Rechts festzustellende - Rechtswidrigkeit begründete hier zugleich einen Verstoß gegen Art. 5 MRK.

a) Die Begriffe "rechtmäßig" und "auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise" in Art. 5 Abs. 1 MRK verweisen auf das innerstaatliche Recht und begründen die Verpflichtung, dessen materielle und prozessuale Regeln einzuhalten (EGMR NJW 2000, 2888 Rn. 44 [Fall Douiyeb]). Allerdings ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anerkannt, dass eine Freiheitsentziehung grundsätzlich rechtmäßig ist, wenn sie aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung stattfindet. Die spätere Feststellung eines Irrtums des Richters bei seiner Entscheidung muss nicht im nachhinein zwangsläufig die Rechtmäßigkeit der inzwischen erlittenen Freiheitsentziehung berühren. Auch im Hinblick auf einzelne Verfahrensfehler wie etwa den Verstoß gegen bestimmte Zuständigkeits- oder Formvorschriften oder bei versehentlich unterlaufenen Schreibfehlern hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Konventionsverstoß verneint (vgl. etwa EGMR NJW 2000, 2888 Rn. 52; EuGRZ 1979, 650, 655 Rn. 48 ff). Es ist nämlich nicht Sinn und Zweck des Art. 5 MRK, einen Staat für die Verletzung gegebenenfalls noch so wichtiger Formvorschriften zu "bestrafen", sondern es geht um die Behebung eines infolge der Rechtsverletzung eingetretenen Schadens (Herzog, AÖR 86 [1961], 194, 236; OLG Köln NVwZ 1997, 518). In ähnlichem Sinne kann im nationalen deutschen Amtshaftungsrecht der verfahrensfehlerhaft handelnden Behörde unter bestimmten Voraussetzungen der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens zugute kommen (vgl. Staudinger/Wurm BGB 13. Bearb. 2002, § 839 Rn. 238 ff).

b) Der hier in Rede stehende Formfehler einer unwirksamen Zustellung des Bescheides hatte indessen die unmittelbare materiell-rechtliche Konsequenz, dass die Aufenthaltsgestattung des Klägers fortbestand. Damit fehlte es für die Anordnung der Abschiebungshaft sowohl an einer verfahrensmäßigen als auch an einer materiell-rechtlichen Grundlage. Dies bedeutet, dass gerade der Kernbereich des in Art. 5 MRK garantierten Rechts auf Freiheit tangiert war. Der abweichenden Auffassung des OLG Köln (aaO), das eine Konventionswidrigkeit in einem gleich liegenden Fall verneint hat, kann daher nicht gefolgt werden.

5. Der Anspruch aus Art. 5 Abs. 5 MRK setzt weiterhin kein Verschulden voraus, sondern ist bereits bei objektivem Verstoß gegen die von der Konvention und vom innerstaatlichen Recht aufgestellten Voraussetzungen der Inhaftierung gegeben. Es handelt sich um einen Fall der Gefährdungshaftung (Senatsurteil BGHZ 45, 58, 65).

6. Inhaltlich umfasst der zu leistende Schadensersatz auch den immateriellen Schaden (§ 253 Abs. 2 BGB).