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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 11.07.2006 - 1 BvR 293/05 - asyl.net: M8972
https://www.asyl.net/rsdb/M8972
Leitsatz:

Es ist mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, dass Asylbewerber auf Grund von § 7 Abs. 1 Satz 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes Schmerzensgeld nach § 253 Abs. 2 BGB für ihren Lebensunterhalt einsetzen müssen, bevor sie staatliche Leistungen erhalten.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Schmerzensgeld, Verfassungsmäßigkeit, Bedürftigkeit, Anrechnung, Gleichheitsgrundsatz
Normen: AsylbLG § 7 Abs. 1 S. 1; GG Art. 3 Abs. 1; BVerfGG § 78 S. 1; BVerfGG § 95 Abs. 3; BGB § 253 Abs. 2
Auszüge:

Es ist mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, dass Asylbewerber auf Grund von § 7 Abs. 1 Satz 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes Schmerzensgeld nach § 253 Abs. 2 BGB für ihren Lebensunterhalt einsetzen müssen, bevor sie staatliche Leistungen erhalten.

(Amtlicher Leitsatz)

 

B.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG ist mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, soweit danach Leistungsberechtigte eine Entschädigung in Geld für einen Schaden, der nicht Vermögensschaden ist (§ 253 Abs. 2 BGB), für ihren Lebensunterhalt aufbrauchen müssen, bevor sie Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Die auf dieser Vorschrift beruhenden verwaltungsgerichtlichen Urteile können daher keinen Bestand haben.

I. 1. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Dem Gesetzgeber ist damit zwar nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt aber das Grundrecht, wenn er eine Gruppe im Vergleich zu einer anderen Gruppe anders behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (vgl. BVerfGE 112, 368 <401>; stRspr).

2. a) Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Regelung bewirkt, dass Asylbewerber anders behandelt werden als Personen, die Sozialhilfe erhalten. Sie haben Schmerzensgeld für ihren Lebensunterhalt einzusetzen, bevor sie Leistungen auf asylrechtlicher Grundlage erhalten. Für Empfänger von Leistungen der Sozialhilfe gilt dies nicht (siehe oben unter A. I. 2.). Auch innerhalb der Asylbewerber ist die Gruppe, zu der der Beschwerdeführer in dem hier maßgeblichen Zeitraum gehörte, gegenüber solchen Asylbewerbern benachteiligt, auf die nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in der hier maßgeblichen Fassung als so genannte Analogberechtigte das Bundessozialhilferecht entsprechend anzuwenden ist.

b) Asylbewerber werden im Hinblick auf das Schmerzensgeld durch § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG aber auch - soweit ersichtlich - im Vergleich zu allen anderen Personengruppen benachteiligt, die einkommens- und vermögensabhängige staatliche Fürsorgeleistungen erhalten. So bleibt bei der Bestimmung des Umfangs des bei Leistungen der Kriegsopferfürsorge einzusetzenden Einkommens eine Entschädigung nach § 253 Abs. 2 BGB unberücksichtigt (§ 25 d Abs. 4 Satz 2 des Bundesversorgungsgesetzes). Nach § 11 Abs. 3 Nr. 2 SGB II sind bei der Feststellung der Hilfebedürftigkeit des Empfängers von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (vgl. § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB II) Schmerzensgeldleistungen nicht als Einkommen zu berücksichtigen. In allen Fällen, in denen zur Bestimmung der Einkommensgrenze für staatliche Leistungen auf den steuerrechtlichen Begriff des Einkommens verwiesen wird, wie zum Beispiel in § 5 des Eigenheimzulagengesetzes, entfällt die Anrechnung von Schmerzensgeld, weil diese Schadensersatzleistung nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs keiner der Einkommensarten des Einkommenssteuergesetzes zugeordnet wird (vgl. BFHE 175, 439 = BStBl II, 1995, S. 121). Die Vorschriften der Länder über die Gewährung von Leistungen der Graduiertenförderung enthalten die Regelung, von der Anrechnung des Einkommens könne ganz oder teilweise abgesehen werden, wenn und soweit sie eine unbillige Härte bedeuten würde, insbesondere, wenn das Einkommen als Ausgleich für einen Schaden erworben worden ist, der nicht Vermögensschaden ist (vgl. z.B. § 5 Abs. 2 der Graduiertenförderungsverordnung Nordrhein-Westfalen vom 17. Juli 1984, GVBl NW 1984, S. 416). Wird im Zusammenhang mit der Stellung des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe festgestellt, ob der Antragsteller unbemittelt ist, ist nach herrschender Meinung Schmerzensgeld als Einkommen oder Vermögen nicht einzusetzen (vgl. Zöller/Philippi, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 115 Rn. 59 m.w.N.).

3. Diese unterschiedliche Behandlung ist nicht hinreichend gerechtfertigt. Zwar steht es im sozialpolitischen Ermessen des Gesetzgebers, für Asylbewerber - was mit dem Asylbewerberleistungsgesetz geschehen ist - ein eigenes Konzept zur Sicherung ihres Lebensbedarfs zu entwickeln und dabei auch Regelungen über die Gewährung von Leistungen abweichend vom Recht der Sozialhilfe zu treffen. Insbesondere ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, Art und Umfang von Sozialleistungen an Ausländer grundsätzlich von der voraussichtlichen Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland abhängig zu machen (vgl.BVerfGE 111, 160 <174>; 111, 176 <185>). Die dem Schmerzensgeld eigene Funktion verleiht ihm indes eine Sonderstellung innerhalb der sonstigen Einkommens- und Vermögensarten, der auch in der übrigen Rechtsordnung - soweit ersichtlich - durchweg durch den Ausschluss der Anrechnung auf staatliche Fürsorgeleistungen Rechnung getragen wird (vgl. dazu oben unter B. I. 2. b). Die Gründe, die für das besondere Konzept der Sicherstellung des Lebensbedarfs von Asylbewerbern und ihnen insoweit rechtlich gleichgestellten Ausländern maßgeblich sind, tragen vor diesem Hintergrund die in der Anrechnung von Schmerzensgeld als Einkommen und Vermögen liegende Ungleichbehandlung nicht.

a) Das Schmerzensgeld dient seiner gesetzlichen Funktion nach nicht der Deckung des materiellen Bedarfs, den das Asylbewerberleistungsgesetz im Auge hat. Das Bürgerliche Gesetzbuch gewährt in § 253 Abs. 2 BGB einen Geldleistungsanspruch zur Abdeckung eines Schadens immaterieller Art. Schmerzensgeld dient vor allem - wie auch im Falle der Angehörigen des Beschwerdeführers - dem Ausgleich einer erlittenen oder andauernden Beeinträchtigung der körperlichen und seelischen Integrität, insbesondere auch dem Ausgleich von Erschwernissen, Nachteilen und Leiden, die über den Schadensfall hinaus anhalten und die durch die materielle Schadensersatzleistung nicht abgedeckt sind (vgl. Vieweg, in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth (Hrsg.), JURIS Praxiskommentar BGB, Bd. 2.1, 2. Aufl. 2004, § 253 Rn. 7, 27) und trägt zugleich dem Gedanken Rechnung, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (vgl. BGHZ 18, 149 <154>). Daher kann die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG, soweit es um die Berücksichtigung des Schmerzensgeldes als Einkommen oder Vermögen geht, nicht mit der Erwägung begründet werden, die Leistungen auf der Grundlage dieses Gesetzes verfolgten lediglich das Ziel, dem Asylbewerber für die Übergangszeit der Prüfung seines Antrags den Mindestbedarf an Lebensunterhalt zu sichern. Zwar kann dieses Ziel Regelungen rechtfertigen, die dem Berechtigten den Einsatz aller verfügbaren finanziellen Mittel zur Bestreitung seines Unterhalts abverlangen. Selbst soweit dem Schmerzensgeld Ausgleichsfunktion zukommt, hat es aber gerade nicht die Funktion eines Beitrags zur materiellen Existenzsicherung. Es geht um die Deckung eines Bedarfs, der nicht Gegenstand des Leistungskonzepts des Asylbewerberleistungsgesetzes ist.

b) Auch andere das besondere Konzept des Asylbewerberleistungsgesetzes tragende Gesichtspunkte rechtfertigen § 7 Abs. 1 AsylbLG nicht, soweit die Vorschrift auch Schmerzensgeld erfasst. Es liegt auf der Hand, dass ein Verzicht auf die Berücksichtigung von Schmerzensgeld bei der Gewährung und Bemessung von Leistungen nach diesem Gesetz nicht das Ziel des Gesetzgebers in Frage stellt, den Anreiz zur Einreise von Ausländern aus wirtschaftlichen Gründen zu verringern (vgl. dazu Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie und Senioren des Deutschen Bundestages <13. Ausschuss> vom 24. Mai 1993, BTDrucks 12/5008, S. 13). Schmerzensgeld beruht nicht auf einer Quelle für den Erwerb von Einkommen, die kalkulierbar ist und die zu erschließen vernünftigerweise von Asylbewerbern angestrebt wird. Der Gesetzgeber muss daher nicht den Weg der Anrechnung eines solchen Einkommens oder Vermögens in § 7 AsylbLG wählen, um zu verhindern, dass der Leistungsempfänger über Geldmittel verfügt, mit denen er beispielsweise die Kosten seiner Einschleusung nach Deutschland bezahlen könnte (vgl. dazu Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. im Deutschen Bundestag, BTDrucks 12/4451, S. 8). Schließlich stehen Asylbewerbern Ausgleichsleistungen nach § 253 Abs. 2 BGB zu selten zur Verfügung, als dass der Gesetzgeber, würde er sie bei der Gewährung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht berücksichtigen, sein Ziel gefährden könnte, den Aufwand für den Unterhalt von Asylberechtigten in Deutschland spürbar zu vermindern (vgl. dazu BTDrucks 12/4451, a.a.O., S. 5, 6).

 

C.

I. 1. Die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift führt in der Regel zu ihrer Nichtigkeit (§ 78 Satz 1, § 95 Abs. 3 BVerfGG). Da dem Gesetzgeber hier aber mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen, kommt nur eine Unvereinbarkeitserklärung in Betracht.

2. Für den Erlass einer Neuregelung steht dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 30. Juni 2007 zur Verfügung. Kommt eine fristgerechte Neuregelung nicht zu Stande, so sind ab dem 1. Juli 2007 auf Einkommen oder Vermögen aus einer Entschädigung in Geld für einen Nichtvermögensschaden (§ 253 Abs. 2 BGB) bei Leistungsberechtigten auf Grund des Asylbewerberleistungsgesetzes § 83 Abs. 2 und § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII anzuwenden.