Hinweis auf internationale Entscheidung: EGMR verurteilt Polen wegen Zurückweisungen an der Grenze nach Belarus

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 23.7.2020 entschieden, dass die polnische Grenzpolizei bei der Zurückweisung von Asylsuchenden nach Belarus gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen hat. Dabei war zwischen den Beteiligten strittig, ob die Betroffenen überhaupt den Wunsch geäußert hatten, in Polen einen Asylantrag stellen zu wollen.

Zur Entscheidung M. K. u. a. gg. Polen; EGMR, Urteil vom 23.7.2020, Nr. 40503/17, 42902/17, 43643/17 (Art. 3 EMRK, Art. 4 EMRK-Protokoll Nr. 4, Art. 13 EMRK, Art. 34 EMRK)

Zum Sachverhalt

Die Entscheidung betrifft mehrere russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit, die zwischen 2016 und 2017 mehrfach – im Fall des  Beschwerdeführenden M. K. sogar öfter als dreißigmal – versuchten, an den polnisch-belarussischen Grenzübergängen Terespol und Czeremca-Polowce nach Polen einzureisen. An der Grenze brachten sie gegenüber der Grenzpolizei vor, in Belarus keinen Zugang zu einem angemessenen Asylverfahren zu haben. Zudem gaben sie an, dass ihnen bei einer möglichen Rückführung in die Russische Föderation Folter oder andere Formen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung drohten. Die polnische Grenzpolizei verweigerte den Beschwerdeführenden die Einreise nach Polen und schob sie nach Belarus zurück. Nach den Angaben der Grenzpolizei hatten die Beschwerdeführenden kein Asylbegehren geäußert. Nach erneuten Versuchen der Grenzüberquerung wurden die Asylanträge einiger Betroffener an die polnische Behörden weitergeleitet.

Zu den Entscheidungsgründen

Der Gerichtshof folgte dem Vortrag der Beschwerdeführenden, an der Grenze den Wunsch geäußert zu
haben, einen Asylantrag stellen zu wollen. Er verweist in diesem Zusammenhang auf zahlreiche Berichte nationaler Menschenrechtsinstitutionen, NGOs und der Medien, wonach die Entgegennahme von Asylanträgen durch die polnische Grenzpolizei routinemäßig verweigert werde. Diese Praxis sei auch in Entscheidungen des obersten polnischen Verwaltungsgerichts dokumentiert, welches im fraglichen Zeitraum ebenfalls Unregelmäßigkeiten im Verfahren bei der Befragung von Personen an der betroffenen Grenze festgestellt hatte. Auch hätten die Beschwerdeführenden die Grenzübertrittsversuche durch die Vorlage zahlreicher Dokumente zu ihren Asylanträgen belegen können. Insofern schenkte der Gerichtshof der Argumentation der polnischen Regierung keinen Glauben.

Der Gerichtshof stellte fest, dass aufgrund der Verweigerung eines Verfahrens, in dem die Anträge der Beschwerdeführenden auf internationalen Schutz geprüft werden konnten, die Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK bestanden hätte (Verbot der Folter sowie der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung). Durch die Zurückweisung der Betroffenen hätte die Gefahr der Kettenabschiebung in die Russische Föderation bestanden. Polen hätte prüfen müssen, ob die Asylanträge der Betroffenen von den belarussischen Behörden ernsthaft geprüft würden und ob eine mögliche Rückführung in die Russische Föderation einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellen könnte. Die Beschwerdeführenden seien dem tatsächlichen Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Folter ausgesetzt gewesen. Zudem hätte Polen den Betroffenen den Verbleib im Bereich der polnischen Gerichtsbarkeit erlauben müssen, um eine ordnungsgemäße Prüfung der Anträge durch eine zuständige inländische Behörde zu ermöglichen. Dies gelte unabhängig davon, ob die Betroffenen Dokumente bei sich gehabt hätten, die sie zum Überschreiten der polnischen Grenze berechtigt hätten.

Der EGMR stellte zudem eine Verletzung des Verbots der Kollektivausweisung nach Art. 4 EMRK- Protokoll Nr. 4 fest. Während des Grenzverfahrens seien die Erklärungen der Beschwerdeführenden bezüglich ihres Wunsches, internationalen Schutz zu beantragen, missachtet worden. Es sei zwar für jede Person eine Einzelentscheidung ergangen. In diesen seien aber die jeweils individuell vorgebrachten Fluchtgründe nicht richtig wiedergegeben worden. Einigen Betroffenen sei auch nicht gestattet worden, rechtlichen Beistand zu konsultieren oder der persönliche Zugang zu diesem sei verhindert worden, obwohl Anwält*innen an der Grenzkontrollstelle gewesen seien und gefordert hätten, ihre Mandant*innen zu treffen.

Die Betroffenen hätten sich zudem gesetzeskonform verhalten, indem sie versuchten, die Grenze auf legale Weise über einen offiziellen Grenzkontrollpunkt zu überqueren. Die Missachtung der individuellen Verfolgungsgründe sei somit nicht auf ihr eigenes Verhalten zurückzuführen.

Das Vorgehen der polnischen Grenzpolizei bestätige sich auch in unabhängigen Berichten über die Situation an den Kontrollpunkten. Die hier behandelten Fälle seien Beispiele einer umfassenderen staatlichen Politik der Einreiseverweigerung für Personen, die versuchten, über Belarus einzureisen. Die Berichte würden eine durchgängige Praxis beschreiben, nach der an der Grenze nur sehr kurze Interviews geführt würden, bei denen die Aussagen der Betroffenen zur Begründung ihrer Asylanträge missachtet würden. Diese würden lediglich in sehr kurzen offiziellen Notizen falsch wiedergegeben, um die Asylsuchenden als Wirtschaftsmigrant*innen ablehnen zu können.

Der Gerichtshof kam hier somit zu einem anderen Ergebnis als in der erst im März diesen Jahres gefällten Entscheidung Asady u. a. gg. die Slowakei (asyl.net: M28254) zur Zurückweisung afghanischer Schutzsuchender an der slowakisch-ukrainischen Grenze. In dem Verfahren war ebenfalls strittig gewesen, ob den Betroffenen individuell Gelegenheit zur Stellung von Asylanträgen gegeben wurde. Hier hatte der EGMR jedoch entschieden, dass keine Beweise dafür vorlägen, dass die Asylgesuche der Betroffenen ignoriert worden seien.

Zudem stellte der Gerichtshof auch eine Verletzung des Rechts auf wirksame Beschwerde aus Art. 13 EMRK in Verbindung mit Art. 3 EMRK und Art. 4 des EMRK-Protokolls Nr. 4 fest. Es fehle ein Rechtsbehelf mit automatisch aufschiebender Wirkung.

Zuletzt sei Polen auch nicht seinen Verpflichtungen nach Art. 34 EMRK nachgekommen, die wirksame Ausübung der EMRK nicht zu behindern. Denn es habe die vom EGMR nach Art. 39 der Verfahrensordnung EGMR aufgegebenen einstweiligen Maßnahmen nur mit erheblicher Verzögerung oder gar nicht erfüllt.

Der Gerichtshof sprach den Beschwerdeführenden Entschädigungen zu.


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