Rechtsprechungsübersicht: Rechtsschutz gegen coronabedingte Aussetzung von Dublin-Überstellungen

Die während der Corona-Pandemie durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) verfügten Aussetzungen von Dublin-Überstellungen führen dazu, dass Betroffene Verzögerungen bei der Durchführung ihres Asylverfahrens in Kauf nehmen müssen. Das BAMF geht davon aus, dass die Aussetzungen zur Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist führen und Betroffene weiterhin in den jeweils zuständigen Mitgliedsstaaten überstellt werden können. Verwaltungsgerichte entscheiden hierzu jedoch anders.

Am 18.3.2020 teilte das BAMF den Verwaltungsgerichten in Deutschland mit, dass alle Dublin-Überstellungen vorläufig von Amts wegen ausgesetzt würden, da sie angesichts der durch die Corona-Pandemie bedingten Grenzschließungen und Reiseverbote nicht vertretbar seien (siehe asyl.net Meldung vom 23.3.2020). Dies sollte allerdings laut Auffassung des BAMF nicht dazu führen, dass die Zuständigkeit für die Durchführung der betroffenen Asylverfahren durch Ablauf der Überstellungsfrist auf Deutschland übergeht. Vielmehr solle die Überstellungsfrist während der Aussetzung lediglich unterbrochen werden. Das BAMF bezog sich dabei auf § 80 Abs. 4 VwGO, wonach eine Behörde die Vollziehung eines Verwaltungsakts, der trotz eines Rechtsbehelfs vollziehbar bleibt, aussetzen kann. Dies ist bei "Dublin-Bescheiden" der Fall, weil Klagen gegen diese Entscheidungen keine aufschiebende Wirkung haben. Zudem beruft sich das BAMF auf Art. 27 Abs. 4 der Dublin-III-Verordnung, der es den Mitgliedstaaten ermöglicht, die Aussetzung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs vorzusehen.

Nach einem BMI-Erlass vom 12.6.2020 sollten Dublin-Überstellungen ab dem 15.6.2020 stufenweise wieder durchgeführt werden. Das BAMF widerrief daraufhin in den letzten Wochen schrittweise die zuvor angeordneten Aussetzungen. Bisher wurden Widerrufe für die Länder Niederlande, Tschechische Republik, Frankreich, Belgien, Schweiz, Österreich, Schweden, Finnland und Italien versendet. Österreich hat dieser Praxis bereits widersprochen und in einem Schreiben an das BAMF in einem Einzelfall eine Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist abgelehnt, da es dafür keine Rechtsgrundlage in der Dublin-III-Verordnung gebe (siehe hierzu ProAsyl, Meldungen vom 15.6.,18.6., 2.7., 15.7. und 22.7.2020, abrufbar bei proasyl.de unter „Newsticker Coronavirus“).

Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass Verwaltungsgerichte einerseits darüber zu entscheiden hatten, ob Betroffene während der Aussetzung überhaupt Rechtsschutz erlangen können; andererseits, ob die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung im Einklang mit der Dublin-III-Verordnung steht und sich somit auf den Ablauf der Dublin-Überstellungsfrist auswirkt.

Rechtsschutz während der Aussetzung

Gerichte entschieden darüber, ob Betroffene überhaupt Rechtsschutz erlangen können, wenn die Behörde die Vollziehung der Überstellungsentscheidung im Hinblick auf die Corona-Pandemie „bis auf weiteres“ ausgesetzt hat und diese Entscheidung noch nicht widerrufen wurde. Dem liegt die Frage zugrunde, ob ein Rechtsschutzbedürfnis besteht, wenn die Überstellung aufgrund der behördlichen Aussetzung ohnehin nicht durchgeführt werden kann.

Rechtsschutzbedürfnis verneint

Das VG Gießen (M28530) geht davon aus, dass in diesem Fall kein Rechtsschutzbedürfnis vorliegt. Die Betroffenen hatten argumentiert, dass sich ein Rechtsschutzbedürfnis daraus ergebe, dass Betroffenen mit einer gerichtlichen Aussetzungsentscheidung mehr Rechte zustünden als mit einer behördlichen Aussetzungsentscheidung. Beispielsweise sei die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nach § 61 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AsylG zu erlauben, wenn der Asylantrag als unzulässig abgelehnt wird, das Verwaltungsgericht aber die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat. Dies sei bei einer behördlichen Aussetzungsentscheidung nicht der Fall. Diese Argumentation lehnte das Gericht jedoch ab und verwies darauf, dass der Erwerb dieser Rechte rein hypothetisch sei, da für die Erlaubnis noch weitere Voraussetzungen vorliegen müssten, zu denen nichts vorgetragen worden sei. Zudem stelle die Corona-Pandemie einen vertretbaren Grund für die Aussetzungsentscheidung dar, welcher den der Dublin-III-Verordnung inhärenten Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedsstaats nicht missbräuchlich verkenne.

Auch das VG Aachen (M28626) geht davon aus, dass in dieser Konstellation kein Rechtsschutzbedürfnis vorliege. Ob die Aussetzungsentscheidung zur Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist führe, müsse im Hauptsacheverfahren geklärt werden. Genauso argumentiert auch das VG Berlin (M28628). Es führt zudem - ähnlich wie das VG Gießen - aus, dass sich das Rechtsschutzbedürfnis auch nicht daraus ergebe, dass Betroffene mit einer gerichtlichen Aussetzungsentscheidung mehr Rechte erwerben können als mit einer behördlichen, wenn diese Rechte nur vage und mittelbar in Aussicht stünden.

Rechtsschutzbedürfnis bejaht

Einige andere Gerichte nehmen hingegen das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses an. Das VG Arnsberg (M28399) geht davon aus, dass Schutzsuchende von Gesetzes wegen die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung der behördlichen Entscheidung haben, ohne dass dabei die Gefahr eines plötzlichen Vollzugs bestehen dürfe. Eine Abschiebung dürfe nach § 34a Abs. 2 S. 2 AsylG ohnehin nicht durchgeführt werden, bevor eine gerichtliche Entscheidung getroffen worden sei. Deshalb bestehe ein Rechtsschutzbedürfnis trotz der behördlichen Aussetzung.

Auch das VG Kassel (M28595) geht vom Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses aus. Die gerichtliche Anordnung versetze Betroffene in eine vorteilhaftere Rechtsposition. Nach einem Widerruf durch die Behörde wäre ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO verfristet und gleichwertiger Rechtsschutz nicht mehr zu erlangen. Obwohl auch ein Gerichtsbeschluss jederzeit nach § 80 Abs. 7 VwGO von Amts wegen geändert werden kann und deshalb keinen gesicherten Abschiebungsschutz bis zum in § 80b VwGO festgelegten Zeitpunkt biete, finde dies in einem festgelegten Verfahren mit bestimmten Verfahrensgarantien statt, wie einer Anhörungspflicht der Betroffenen. Beziehe sich die behördliche Aussetzungsentscheidung zudem nur auf die aktuelle Lage in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, werde Betroffenen, die aus anderen Gründen Rechtsschutz begehren, dieser abgeschnitten bzw. unzumutbar erschwert.

Rechtsschutz nach Widerruf der Aussetzung

Nach dem Widerruf der Aussetzungsentscheidungen gewährten alle Verwaltungsgerichte in den uns vorliegenden Entscheidungen Rechtsschutz.

Das VG Schleswig-Holstein (M28449) geht davon aus, dass die Aussetzungsanordnung nicht zur Unterbrechung der Dublin-Überstellungsfrist führe. Die behördliche Aussetzung sei nicht mit Unionsrecht vereinbar, da sie nicht der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes, wie es Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO für eine behördliche Aussetzung voraussetze, sondern ausschließlich der vorübergehenden allgemein fehlenden Möglichkeit der Überstellung diene. Für eine von dem Abschluss eines konkreten Rechtsmittels losgelöste Aussetzung für den Fall einer allgemein fehlenden Möglichkeit der Überstellung bestehe keine Rechtsgrundlage in der Dublin-III-Verordnung.

Dieser Auffassung schlossen sich auch das VG Potsdam (M28627), das VG Berlin (M28629) und das VG Aachen (M28575 ) an. Das VG Aachen begründet dies zusätzlich damit, dass das Risiko der Unmöglichkeit der Überstellung in der Risikospähre des ersuchenden Mitgliedsstaats liege.

Ähnlich argumentiert auch das VG Bayreuth (M28630), das davon ausgeht, dass die Vorgehensweise des BAMF, bei Erlass eines Dublin-Bescheids die Auswirkungen der Corona-Pandemie im Zielstaat zu ignorieren, und dies dadurch zu kompensieren, dass im Anschluss die Vollziehung der Abschiebungsanordnung unter Bezug auf die Corona-Pandemie ausgesetzt wird, rechtsmissbräuchlich sei. Es sei impliziert, dass dadurch lediglich der drohende Ablauf von Überstellungsfristen verhindert werden soll, weil es in der Dublin-III-Verordnung keinen Regelungsmechanismus für eine Sondersituation wie die Corona-Pandemie gebe.

Fazit

Die Rechtsprechung zeigt die klare Tendenz, das Vorgehen des BAMF als rechtswidrig einzustufen, sodass es sich nicht auf den Ablauf der Dublin-Überstellungsfrist auswirkt. Allerdings gewähren einige Gerichte unter Verweis auf ein fehlendes Rechtsschutzbedürfnis solange keinen Rechtsschutz, bis die Aussetzungsentscheidung widerrufen wird. Dies führt dazu, dass Betroffene bis zu dem Widerruf kein Asylverfahren durchführen können.


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