Rechtsprechungsübersicht: Welcher Schutzstatus ist bei Entziehung vom Nationaldienst in Eritrea zu gewähren?

Asylsuchenden aus Eritrea wird, seitdem sich die BAMF-Entscheidungspraxis hierzu geändert hat, häufig nur noch subsidiärer Schutz statt Flüchtlingsschutz zuerkannt. Eine in diesen Fällen häufig diskutierte Frage ist, welcher Schutzstatus Personen zu gewähren ist, die sich dem Nationaldienst durch Flucht entzogen haben. Die Gerichte hatten Betroffenen in solchen Fällen vielfach Flüchtlingsschutz zugesprochen, inzwischen wird aber vermehrt abgelehnt, dass die drohende Verfolgung flüchtlingsrelevant sei.

Seit einer Änderung der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Jahr 2016 wird Asylsuchenden aus Eritrea häufig nur noch subsidiärer Schutz statt Flüchtlingsschutz zuerkannt (siehe ProAsyl Meldung vom 14.9.2016). Eine wichtige Rolle kommt dabei der Rechtsfrage zu, welcher Schutzstatus Männern und Frauen zu gewähren ist, die sich durch ihre Flucht dem eritreischen Militärdienst („national service“) entzogen haben. Der eritreische Nationaldienst ist seit 2002 zeitlich unbefristet und trifft Frauen und Männer gleichermaßen. Während der Ableistung des Nationaldienstes sind Folter, Willkür, Misshandlungen und lebensbedrohliche Haftbedingungen laut verschiedenen Länderberichten an der Tagesordnung (siehe z.B. die Zusammenstellung von Berichten bei UK Home Office, Country Policy and Information Note Eritrea: National service and illegal exit, Juli 2018, ecoi.net 1438573, S. 24f.).

BAMF gewährt überwiegend nur noch subsidiären Schutz

Die Asylstatistiken des BAMF belegen, dass die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes für Personen aus Eritrea zurückgegangen und die Gewährung subsidiären Schutzes angestiegen ist. Wurde im Jahr 2015 noch in 88,2% der vom BAMF entschiedenen Fälle eritreischer Erst- und Folgeantragsstellender Asyl oder Flüchtlingsschutz gewährt, so waren es im Jahr 2016 nur noch 75,2% und im Jahr 2017 lediglich noch 46%. Die Zuerkennungsquote hinsichtlich subsidiären Schutzes stieg hingegen von 3,4% im Jahr 2015 auf 16,5% im Jahr 2016 und 33,5% im Jahr 2017. Im Jahr 2018 überstieg erstmalig die Zahl der Zuerkennungen subsidiären Schutzes mit 37,1% die Quote der Asyl oder Flüchtlingsanerkennungen mit nur noch 29,4% (zu den Statistiken siehe jeweilige Jahres-Übersicht des BAMF bei ProAsyl).

Hintergrund dieser Entwicklung ist die Neubewertung der Frage, ob bei unerlaubter Ausreise und damit verbundener Nationaldienstentziehung der eritreische Staat den Betroffenen eine oppositionelle politische Haltung unterstellt. Wurde dies in der früheren Entscheidungspraxis des BAMF noch angenommen, wird nun ähnlich wie bei Asylsuchenden aus Syrien (siehe asyl.net Meldung vom 16.4.2019) vermehrt davon ausgegangen, dass es an der erforderlichen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund gem. § 3a Abs. 3 AsylG fehle, da der eritreische Staat Betroffenen allein aufgrund des unerlaubten Verlassens Eritreas und der damit verbundenen Entziehung vom Nationaldienst keine oppositionelle politische Haltung mehr unterstelle. Die bei einer Rückkehr drohenden Bestrafungen durch den eritreischen Staat würden nur der Durchsetzung einer alle Staatsangehörigen gleichermaßen treffenden Pflicht dienen. Zudem bestehe die Möglichkeit, dass im Exil lebende Personen nach Entrichtung einer "Aufbausteuer" (auch „Diaspora-Steuer“ genannt) und nach Abgabe eines Reuebekenntnisses unbehelligt nach Eritrea reisen könnten. Auch dies spreche gegen die Annahme, dass der eritreische Staat allen Personen, die sich dem Nationaldienst entziehen, die Regimegegnerschaft unterstelle.

Die Änderung der Leitsätze zu Eritrea, die für BAMF-Entscheidungen herangezogen werden, soll nach Auskunft der Bundesregierung unter „Hinzuziehung einer Vielzahl von nationalen und internationalen Quellen (etwa Berichten des Auswärtigen Amts, des Europäischen Asylunterstützungsbüros EASO, anderer Migrationsbehörden, UN-Organisationen, NGOs, Rechtsprechung etc.)" erfolgt sein (Drucksache 19/9806, Punkt 27). Demgegenüber weisen Nichtregierungsorganisationen aber darauf hin, dass die genannten Quellen nicht den Schluss zulassen, dass sich die Menschenrechtslage in Eritrea substanziell geändert habe (siehe ProAsyl Meldung vom 16.5.2018: https://www.proasyl.de/news/eritrea-ein-land-im-griff-einer-diktatur/). Die Änderung der Leitsätze wurde deshalb auch vielfach als politisch motiviert kritisiert und damit in Verbindung gebracht, dass der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten praktisch zeitgleich mit der Änderung der Entscheidungspraxis eingeschränkt wurde (siehe PM von MdB Ulla Jelpke vom 18.8.2017).

Gerichte sprechen vermehrt nur noch subsidiären Schutz zu

Auch die Gerichte gehen jedoch mittlerweile vermehrt davon aus, dass in den oben genannten Fällen die Voraussetzungen für das Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft nicht gegeben sind. Im Laufe des Jahres 2017 zeigte sich bei den Verwaltungsgerichten in den uns vorliegenden Entscheidungen ein Wandel in der Rechtsprechung. Bis dahin hatten Gerichte mehrheitlich noch die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, da sie davon ausgingen, dass die Bestrafung wegen Entziehung vom Nationaldienst durch den eritreischen Staat der Verfolgung wegen vermeintlicher Regimegegnerschaft diene. Die Möglichkeit eine Diaspora-Steuer zu zahlen und eine Entschuldigungserklärung abzugeben ändere nichts an der Bedrohung durch Verfolgungsmaßnahmen. In diesem Sinne entschieden etwa das VG Schwerin (M24719), VG Hamburg (M24991), VG Sigmaringen (M25404) und das VG Halle (M25600).

Inzwischen entscheiden jedoch die Gerichte auf erstinstanzlicher Ebene vermehrt negativ: So lehnen das VG Halle (in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung: M26726), das VG Stuttgart (M26022) und das VG Düsseldorf (M25708), das VG Schleswig-Holstein (M26023), das VG Köln (M26152), das VG Trier (M25506) sowie das VG Regensburg (M24582) die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter Bezugnahme auf die oben genannte Begründung des BAMF ab.

Auch in zwei uns vorliegenden obergerichtlichen Entscheidungen des OVG Saarland (M27116) und des OVG Hamburg (M26819) wird die Flüchtlingsanerkennung mit der oben skizzierten Begründung jeweils abgelehnt. Eine Entscheidung des VGH Bayern hierzu steht noch aus. Die Berufung wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage zugelassen (VGH Bayern, Beschluss vom 02.7.2018 – 20 ZB 18.30004 – juris).

Eine höchstrichterliche Entscheidung zu der Frage, ob es an der erforderlichen Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung (Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung) und dem Verfolgungsgrund (unterstellte oppositionelle Haltung) fehlt, gibt es bisher nicht. Das dahingehend oft missverstandene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. April 2018 (M26300) traf keine materiell-rechtliche Entscheidung über diese Frage, sondern stellt lediglich fest, dass die Vorinstanz revisionsrechtlich beanstandungsfrei zu diesem Schluss gekommen sei.

Einige Gerichte gehen aber auch weiterhin von einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung bei Entziehung vom Nationaldienst aus. So etwa das VG Schwerin (M24719). Auch das VG Sigmaringen (M25404) nimmt bei Personen, die sich entweder in oder kurz vor dem Alter befinden, bei dem in der Regel die Einziehung zum Nationaldienst bevorsteht, das Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft an. Das VG Cottbus (M27274) geht gleichfalls von einer Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund aus und spricht daher die Flüchtlingseigenschaft zu, wenn es vor der Ausreise einen konkreten Rekrutierungsversuch durch den eritreischen Staat gegeben hat. Das VG Hamburg (M27305) geht bei Angehörigen von desertierten Nationaldienstpflichtigen von einem erhöhten Risiko der Inhaftierung und Einziehung in den Nationaldienst aus. Eine solche Sippenhaft sei insbesondere bei Personen aus grenznahen Gebieten verbreitet.

Verfolgung von Frauen im Nationaldienst flüchtlingsrelevant

Frauen sind laut verschiedenen Länderberichten im Nationaldienst einem massiven Risiko sexueller Gewalt durch ihnen militärisch vorgesetzte Personen ausgesetzt (siehe etwa US Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2017, 20. April 2018, ecoi.net 1430113; Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Eritrea, 22. Februar 2018, ecoi.net 1444205). Deshalb wird ihnen häufiger als Männern die Flüchtlingseigenschaft wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung zugesprochen. Doch auch hier entscheiden die Gerichte unterschiedlich. Zunächst spielt dabei eine Rolle, ob und wann Frauen von der Ableistung des Nationaldienstes befreit werden. Dies kann für verheiratete Frauen, Mütter oder Schwangere gelten, die Erkenntnismittel zeichnen hierzu jedoch kein einheitliches Bild. Das VG Hamburg nimmt in der oben genannten Entscheidung (M27305) an, dass Frauen, die lediglich kirchlich verheiratet oder verlobt seien, nicht vom Nationaldienst befreit werden und ihnen eine Verfolgung drohe. Das OVG Hamburg (M26819) verneint die Verfolgung einer Frau mit Kleinkind, da diese aufgrund ihres Kindes allenfalls im zivilen Teil des Nationaldienstes eingesetzt würde, sexuelle Gewalt gegen Frauen jedoch nur im militärischen Teil drohe.

Gerichte entscheiden auch uneinheitlich darüber, ob Frauen im eritreischen Nationaldienst eine soziale Gruppe bilden. Das VG Köln (M27300) lehnt eine Verfolgung von Frauen wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe im Nationaldienst mit der rechtlich fragwürdigen Begründung ab, auch geschlechtsspezifische Verfolgung müsse primär politisch sein, der eritreische Staat ordne sexuelle Gewalt gegenüber Frauen jedoch nicht gezielt an. Dies entspricht der älteren Rechtsprechung zum Asylgrundrecht, nach der Verfolgung insbesondere aus politischen Gründen vorausgesetzt und die Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe nicht anerkannt wurde. Dementsprechend treten das VG Schwerin (M27301), das VG Hamburg (M27305) sowie das VG Arnsberg (M27306) der Entscheidung des VG Köln ausdrücklich entgegen. Dem klaren Wortlaut des § 3 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG entsprechend sei bei geschlechtsspezifischer Verfolgung kein zusätzliches politisches Motiv für die Annahme einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung erforderlich. Das VG Schwerin verweist darüber hinaus darauf, dass Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung ohnehin immer eine politische Überzeugung zugrunde liege, da durch sie der unterprivilegierte Status von Frauen in patriarchalisch totalitär-theokratischen Systemen manifestiert werde. Dies sei im totalitären Eritrea der Fall, da dort sexuelle Gewalt gegen Frauen weit verbreitet sei und nicht verfolgt werde. Sexuelle Übergriffe geschähen so häufig, dass nicht von einem sogenannten Amtswalterexzess durch vereinzelte und spontane Vorgänge gesprochen werden könne.

Somit bleibt die Rechtsprechung hinsichtlich der Frage, welcher Schutzstatus Männern und Frauen zu gewähren ist, die sich durch ihre Flucht aus Eritrea dem Nationaldienst entzogen haben, uneinheitlich. Gerichte scheinen aber vermehrt zu der Auffassung zu gelangen, dass keine Verfolgung angenommen werden kann, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führt. Beim Hinzutreten weiterer Elemente, wie etwa zuvor bereits erfolgter konkreter Rekrutierungsversuche oder der besonderen Situation von Frauen, denen geschlechtsspezifische Verfolgung droht, gehen die Gerichte aber überwiegend weiterhin von einem Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus.

Anmerkung:

 


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