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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 28.04.2015 - 1 C 21.14 (= ASYLMAGAZIN 12/2015, S. 427 ff.) - asyl.net: M23058
https://www.asyl.net/rsdb/M23058
Leitsatz:

1. Die Betreuung von Kleinkindern und die Notwendigkeit der Fahrt zum nächsten Ort des Integrationskurses mit öffentlichen Verkehrsmitteln stellen für sich genommen keine Umstände dar, bei deren Vorhandensein ausnahmsweise von dem Vorliegen ausreichender Kenntnisse der deutschen Sprache und Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung zur Erlangung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 Abs. 2 und § 28 Abs. 2 AufenthG abgesehen werden kann.

2. Erhöhte Anforderungen an die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 Abs. 2 und § 28 Abs. 2 AufenthG stellen keine neue Beschränkung der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt nach Art. 13 ARB 1/80 dar, wenn der Ausländer bereits über einen unbeschränkten Arbeitsmarktzugang aufgrund eines Daueraufenthaltsrechts nach Art. 7 Abs. 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 verfügt, das durch einen nationalen Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 5 AufenthG dokumentiert werden kann.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, Integrationskurs, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsrecht EWG/Türkei, Deutschkenntnisse, Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung, Kinderbetreuung, Kleinkind, Kind, Sprachkenntnisse, Daueraufenthalt, neue Beschränkung, Verschlechterungsverbot, Verkehrsanbindung, Zugang zum Arbeitsmarkt, Arbeitsmarkt, Stand-Still-Klausel, Stillhalteklausel, Familiennachzug, Ehegattennachzug, Türkischer Arbeitnehmer, Integrationsanforderungen,
Normen: ARB 1/80 Art. 6, ARB 1/80 Art. 7 S. 2, ARB 1/80 Art. 13, AufenthG § 4 Abs. 5, AufenthG § 8 Abs. 3, AufenthG § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 7, AufenthG § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 8, AufenthG § 9 Abs. 2 S. 3, AufenthG § 9 Abs. 2 S. 4, AufenthG § 9 Abs. 2 S. 5, AufenthG § 28 Abs. 2, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

1. Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist u.a. Voraussetzung für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, dass der Ausländer über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG) sowie über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 AufenthG) verfügt.

1.1 Ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache entsprechen nach der Begriffsbestimmung in § 2 Abs. 11 AufenthG dem Niveau B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Sie liegen vor, wenn sich der Ausländer im täglichen Leben einschließlich der üblichen Kontakte mit Behörden in seiner deutschen Umgebung sprachlich zurechtzufinden vermag und mit ihm ein seinem Alter und Bildungsstand entsprechendes Gespräch geführt werden kann (vgl. BT-Drs. 15/420 S. 72 und BT-Drs. 15/5470 S. 20). Dazu gehört auch, dass der Ausländer einen deutschsprachigen Text des alltäglichen Lebens lesen, verstehen und die wesentlichen Inhalte mündlich wiedergeben kann. Den Nachweis hierfür erbringt der Ausländer in der Regel, indem er einen Integrationskurs erfolgreich abschließt (§ 9 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Die erforderlichen Sprachkenntnisse können aber auch auf andere Weise - etwa über einen entsprechenden Schulabschluss - nachgewiesen werden (vgl. BT-Drs. 15/420 S. 72; Nr. 9.2.1.7 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz <AufenthG-VwV>). Zudem ist gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 AufenthG Voraussetzung für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, dass der Ausländer über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügt. Die Grundkenntnisse können ebenso wie die erforderlichen Sprachkenntnisse durch die erfolgreiche Teilnahme an einem Integrationskurs, aber auch auf andere Weise - etwa über einen entsprechenden Schulabschluss - nachgewiesen werden.

Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und insoweit bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts verfügt die Klägerin weder über ausreichende Deutschkenntnisse noch über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung sowie der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet.

1.2 Die Klägerin erfüllt auch nicht die Voraussetzungen, unter denen - nach § 9 Abs. 2 Satz 3 bis 5 AufenthG - ausnahmsweise von den Voraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG abgesehen werden kann.

1.2.1 Das Berufungsgericht geht zutreffend davon aus, dass die während der Schwangerschaft der Klägerin aufgetretenen Komplikationen, die Betreuung von Kleinkindern und eine ungünstige Verkehrsanbindung zum Ort des Integrationskurses nicht die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG erfüllen.

Dieser Vorschrift liegt der Gedanke zugrunde, dass auch behinderten oder kranken Ausländern eine Aufenthaltsverfestigung möglich sein muss (Gesetzesbegründung vom 7. Februar 2003, BT-Drs. 15/420 S. 72). Eine Krankheit oder Behinderung in diesem Sinne, die den Erwerb der erforderlichen Kenntnisse (nahezu) dauerhaft unmöglich macht, liegt hier nicht vor.

1.2.2 Die Klägerin erfüllt auch nicht die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG, wonach zur Vermeidung einer Härte von den Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG abgesehen werden kann. Der Gesetzgeber hat hier an Fälle gedacht, in denen die Betroffenen z.B. trotz verstärkter Bemühungen die Anforderungen unverschuldet nicht erfüllen können. Er geht davon aus, dass es insoweit (auch bei strikter Zuwanderungssteuerung im Bereich der wirtschaftlichen Migration) immer Einzelfälle - z.B. im Rahmen der Familienzusammenführung - geben werde, in denen die Betroffenen bei aller Anstrengung - und selbst bei Berücksichtigung von Alter und Bildungsstand - die geforderten Kenntnisse nicht in hinreichendem Maße erwerben können (Gesetzesbegründung vom 7. Februar 2003, BT-Drs. 15/420 S. 72 f.). Dies sei z.B. bei "bildungsfernen" Menschen der Fall, die in einer anderen Schriftsprache sozialisiert worden seien. Eine Härte im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG kann ferner auch dann vorliegen, wenn eine körperliche, geistige oder seelische Erkrankung oder Behinderung die Erfüllung der Voraussetzungen zwar nicht unmöglich macht, aber dauerhaft erschwert, wenn der Ausländer bei der Einreise bereits über 50 Jahre alt war oder wegen der Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen der Besuch eines Integrationskurses auf Dauer unmöglich oder unzumutbar war (vgl. Nr. 9.2.2. AufenthG-VwV).

Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die von der Klägerin geltend gemachte Betreuung ihrer beiden kleinen Kinder (2 und 7 Jahre alt) und die Notwendigkeit der Fahrt zum nächsten Ort des Integrationskurses mit öffentlichen Verkehrsmitteln keine Härte im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG begründen. Die Erziehung eigener Kinder und auch die Sorge für Kinder im Vorschulalter stellen für sich genommen keine Umstände dar, die die Erfüllung der Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG wesentlich erschweren. Gleiches gilt auch für den Fall einer ungünstigen Verkehrsanbindung zum nächsten Kursort. Zum einen lässt sich dem Vorbringen der Klägerin bereits nicht entnehmen, dass die Busverbindung zum Kursort derart ungünstig ist, dass die Teilnahme am Integrationskurs hier wesentlich erschwert wäre. Zum anderen kann eine ungünstige Verkehrsanbindung bereits deshalb nicht dazu führen, von den Erfordernissen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7

und 8 AufenthG abzusehen, weil der Ausländer zum Nachweis der erforderlichen Sprachkenntnisse auch ein Sprachdiplom vorlegen kann, das der Bescheinigung über die erfolgreiche Teilnahme an einem Integrationskurs entspricht. Hierauf ist die Klägerin durch die Ausländerbehörde des Beklagten auch hingewiesen worden.

Ein Ausnahmegrund nach § 9 Abs. 2 Satz 5 AufenthG liegt schon deshalb nicht vor, weil die Klägerin einen Anspruch auf Kursteilnahme hat.

2. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG. In dem für die Beurteilung der Begründetheit der Verpflichtungsklage maßgeblichen Zeitpunkt verfügte die Klägerin nach den insoweit bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts bereits nicht über die (auch nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) erforderlichen ausreichenden Kenntnisse der deutschen Sprache. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Klägerin auch die nach § 28 Abs. 2 AufenthG a.F. erforderlichen einfachen Kenntnisse der deutschen Schriftsprache nicht nachgewiesen, so dass sich die Frage einer Verlagerung des maßgeblichen Zeitpunktes aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. März 2010 - 1 C

6.09 - BVerwGE 136, 211 Rn. 24 f.) bereits im Ansatz nicht stellt.

3. Ferner ergibt sich ein Anspruch der Klägerin auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ohne Vorliegen der in § 9 Abs. 2 Satz 1 und § 28 Abs. 2 AufenthG genannten Erteilungsvoraussetzungen nicht unmittelbar aus Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80. Die Klägerin hat durch die Eheschließung mit einem türkischen Staatsangehörigen, der eine Rechtsposition aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 innehat, eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 erworben. Zwar folgt aus dieser Rechtsstellung auch ein Aufenthaltsrecht, da das von der Vorschrift eingeräumte Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt ohne ein korrespondierendes Aufenthaltsrecht nicht ausgeübt werden könnte (EuGH, Urteil vom 29. März 2012 - C-7/10 und C-9/10 [ECLI:EU:C:2012:180], Kahveci und Inan - Rn. 28). Aus diesem Grund können Assoziationsberechtigte die Ausstellung einer (deklaratorischen) Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG beanspruchen. Dieses implizite Aufenthaltsrecht ändert jedoch nichts daran, dass das Assoziationsrecht und das mitgliedstaatliche Aufenthaltsrecht getrennte Rechtskreise darstellen, die teilweise unterschiedliche Ziele verfolgen: Während das Assoziationsabkommen ausschließlich wirtschaftlichen Zwecken dient und sich deshalb auf die schrittweise Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkt (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 [ECLI:EU:C:2011:809], Ziebell - Rn. 72), verfolgt das innerstaatliche Aufenthaltsrecht weiter gefasste Ziele, insbesondere die Steuerung der Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit (§ 1 Abs. 1 AufenthG). Die Niederlassungserlaubnis ist als rechtliche Bestätigung einer erfolgreichen Integration konstruiert und gewährt denjenigen Ausländern ein Daueraufenthaltsrecht, die aufgrund der Dauer ihres Aufenthalts und ihrer persönlichen Lebensumstände in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert sind (BT-Drs. 15/420 S. 72, vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Mai 2012 - 1 C 6.11 - BVerwGE 143, 150 Rn. 17). Dem Aufenthaltsgesetz ist das gleichzeitige Bestehen verschiedener - in ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen unterschiedlich ausgestalteter - Rechtsstellungen eines Ausländers auch nicht fremd, wie die Regelung des § 4 Abs. 5 AufenthG zeigt. Dieser Vorschrift ist zu entnehmen, dass das Bestehen eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts der konstitutiven Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels nicht entgegensteht (BVerwG, Urteil vom 19. März 2013 - 1 C 12.12 - BVerwGE 146, 117 Rn. 20). Die mit der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis verbundene aufenthaltsrechtliche Verfestigung hängt indes von anderen Voraussetzungen ab als das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht, so dass sich aus den assoziationsrechtlichen Vorschriften der Art. 6 und 7 ARB 1/80 kein Anspruch auf eine Niederlassungserlaubnis ableiten lässt.

4. Die Klägerin hat schließlich auch aufgrund der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 keinen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ohne Erfüllung der in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 und § 28 Abs. 2 AufenthG genannten Voraussetzungen.

4.1 Art. 13 ARB 1/80 enthält ein Verschlechterungsverbot. Danach dürfen die Mitgliedstaaten keine neuen innerstaatlichen Maßnahmen einführen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen oder einen Familienangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bestimmung in dem Mitgliedstaat gelten (EuGH, Urteil vom 17. September 2009 - C-242/06 [ECLI:EU:C:2009:554], Sahin - Rn. 63). Maßgeblich für diesen Vergleich ist die am 1. Dezember 1980 geltende Rechtslage (Art. 16 ARB 1/80; EuGH, Urteil vom 9. Dezember 2010 - C-300/09 und C-301/09 [ECLI:EU:C:2010:756], Toprak und Oguz - Rn. 62). Darüber hinaus erfasst die Stillhalteklausel auch die nachträgliche Verschärfung einer nach diesem Stichtag in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeführten Bestimmung, die eine Erleichterung der damals geltenden Bestimmungen vorsah, auch wenn diese Verschärfung nicht die Bedingungen für die Erteilung der Erlaubnis im Vergleich zu den bei Inkrafttreten geltenden Bedingungen verschlechterte (EuGH, Urteil vom 9. Dezember 2010 - C-300/09 und C-301/09 - Rn. 50 f.). Dies bedeutet, dass für den Vergleich der Rechtslage auf die jeweils günstigste Regelung abzustellen ist, die seit dem Inkrafttreten der Stillhalteklausel eingeführt wurde (BVerwG, Urteil vom 6. November 2014 - 1 C 4.14 - NVwZ 2015, 373).

4.2 Im Vergleich zu den im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 geltenden Regelungen zur Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis (§ 7 Abs. 2 AuslG 1965) bzw. Aufenthaltsberechtigung (§ 8 AuslG 1965) stellen § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 und § 28 Abs. 2 AufenthG höhere Anforderungen an die Erteilung eines Daueraufenthaltstitels, da die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache voraussetzt, die gemäß § 2 Abs. 11 AufenthG dem Niveau B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen entsprechen müssen. Für die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung nach den am 1. Dezember 1980 geltenden Bestimmungen reichte es dagegen aus, dass sich der Ausländer auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständlich machen konnte (vgl. Nr. 4 (1) b) zu § 7 AuslG und Nr. 4 a) zu § 8 AuslG der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Ausführung des Ausländergesetzes <AuslVwV> vom 7. Juli 1967 <GMBl. S. 231>, zuletzt geändert durch AuslVwV vom 7. Juli 1978 <GMBl. S. 368>).

Der Vergleich der Rechtslage nach dem Ausländergesetz 1965 und den heute geltenden Bestimmungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ergibt, dass die Erteilungsvoraussetzungen für den (nationalen) unbefristeten Aufenthaltstitel verschärft wurden. Dies wirkt sich auch zulasten der Klägerin aus, da sie sich nach den insoweit bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständlich machen kann und insoweit die Erteilungsvoraussetzungen nach alter Rechtslage erfüllt.

4.3 Der Anwendbarkeit der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 steht auch nicht bereits entgegen, dass die Klägerin im Besitz einer Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 ist.

Die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 steht neben den unmittelbar anwendbaren Rechten der Art. 6 und 7 ARB 1/80, die türkischen Arbeitnehmern und deren Familienangehörigen im Unionsrecht wurzelnde Beschäftigungs- und Aufenthaltsrechte vermitteln, und erfasst demnach nicht lediglich denjenigen Personenkreis, der noch keine Rechte in Bezug auf Aufenthalt und Beschäftigung hat. Dies folgt aus der mit der Stillhalteklausel verfolgten Zielsetzung,

günstige Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu schaffen, indem den innerstaatlichen Stellen verboten wird, neue Hindernisse für die Ausübung dieser Freiheit einzuführen (EuGH, Urteil vom 9. Dezember 2010 - C-300/09 und C-301/09 - Rn. 53 f.), sowie ihrer Funktion, allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen zu verbieten, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ARB 1/80 galten (EuGH, Urteil vom 17. September 2009 - C-242/06 - Rn. 63). Der Gerichtshof der Europäischen Union interpretiert die Stillhalteklausel nicht dahingehend, dass nur arbeits- und gewerberechtliche Regelungen dem Verschlechterungsverbot unterfallen, sondern auch die aufenthaltsrechtlichen Rahmenbedingungen einschließlich der Regeln über die Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltstiteln, Erteilungsverfahren und Gebühren. Solche Regelungen können auch diejenigen türkischen Staatsangehörigen, die bereits eine Rechtsposition aus Art. 6 oder 7 ARB 1/80 haben, betreffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2013 - 1 C 12.12 - BVerwGE 146, 117 Rn. 30).

4.4 Der Anwendbarkeit der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 steht indes entgegen, dass die nachträgliche Verschärfung der Voraussetzungen für die Erteilung eines Daueraufenthaltsrechts ohne Auswirkungen auf den Arbeitsmarktzugang der Klägerin bleibt. Es liegen keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 vor. Denn die Klägerin hat auch ohne die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 Abs. 2, § 28 Abs. 2 AufenthG aufgrund ihres assoziationsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80, das in einer mindestens auf fünf Jahre befristeten deklaratorischen Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG dokumentiert wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Mai 2012 - 1 C 6.11 - BVerwGE 143, 150 Rn. 27), einen auch zeitlich unbeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Das assoziationsrechtliche Daueraufenthaltsrecht wird durch die Rechtsvorschrift des § 4 Abs. 5 AufenthG in das nationale Recht inkorporiert, so dass jedenfalls für den durch diese Regelung erfassten Personenkreis nicht nur nach Unionsrecht, sondern auch nach dem im Bundesgebiet anzuwendenden nationalen Recht keine Beschränkung des Arbeitsmarktzugangs gegeben ist. Art. 13 ARB 1/80 gebietet keine auf einzelne (nationale) Aufenthaltstitel bezogene Betrachtung, soweit nach nationalem Recht ein im Ergebnis unbeschränkter Arbeitsmarktzugang auf der Grundlage eines gesicherten Aufenthaltsrechts besteht. [...]