OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 11.05.2016 - 4 O 12/16 (= ASYLMAGAZIN 7/2016, S. 235 ff.) - asyl.net: M23886
https://www.asyl.net/rsdb/M23886
Leitsatz:

Zu den an Art. 16 Ab. 1 GG zu messenden Voraussetzungen des rückwirkenden Verlusts der Staatsbürgerschaft aufgrund einer Vaterschaftsanfechtung (unter Bezug auf BVerfG, Urteil v. 24.5.2006 - 2 BvR 669/04 und BVerfG, B.v. 17.12.2013 - 1 BvL 6/10), insbesondere im Hinblick auf eine Unvereinbarkeit mit Art. 16 Abs. 1 S. 2 GG (Verbot der Inkaufnahme von Staatenlosigkeit) sowie des Grundsatzes des Gesetzesvorbehalts und des in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG verankerten Zitiergebots.

Schlagwörter: deutsche Staatsangehörigkeit, Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit, Vaterschaftsanfechtung, Staatsangehörigkeitsausweis, Verlust der Staatsangehörigkeit, Rückwirkung, Abstammungsvorschriften, Abstammung, Abstammungsrecht, Anfechtung der Ehelichkeit, Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit, Staatenlosigkeit, Gesetzesvorbehalt, Zitiergebot,
Normen: BGB § 1592 Nr. 1, GG Art. 16 Abs. 1, RuStAG § 4 Abs. 1 S. 1, StAG § 4 Abs. 1 S. 1, GG art. 19 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[…]

Weder im Familienrecht noch im Staatsangehörigkeitsrecht findet sich eine gesetzliche Regelung, die den Verlust der Staatsangehörigkeit infolge einer erfolgreichen Anfechtung der Ehelichkeit (jetzt: Anfechtung der Vaterschaft) anordnet. In der Aufzählung der Verlustgründe in § 17 RuStAG ist diese Verlustform nicht enthalten (ebenso wenig nunmehr in § 17 Abs. 1 StAG). Der Wegfall ergibt sich vielmehr aus der Anwendung zweier ungeschriebener Rechtsregeln. Zugrunde liegen erstens die Annahme der Rückwirkung der erfolgreichen Vaterschaftsanfechtung auf den Zeitpunkt der Geburt und zweitens die Annahme, dass das Staatsangehörigkeitsrecht in vollem Umfang den familienrechtlichen Abstammungsvorschriften folgt, so dass die staatsangehörigkeitsrechtlichen Erwerbsvoraussetzungen einheitlich mit der Vaterschaft rückwirkend entfallen (BVerfG, Beschluss vom 17. Dezember 2013 - 1 Bvl 6/10 - , juris Rn. 82).

Diese Rechtsregeln sind am Maßstab des Art. 16 Abs. 1 GG zu messen. Hat nämlich ein Kind gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 RuStAG bzw. § 4 Abs. 1 Satz 1 StAG in Verbindung mit den für die Elternschaft maßgebenden zivilrechtlichen Bestimmungen die deutsche Staatsangehörigkeit erworben, so ist es gegen den Verlust dieser Staatsangehörigkeit nach Maßgabe des Art. 16 Abs. 1 GG geschützt. Gesetzliche Vorschriften oder sonstige Rechtsakte, die eine einmal wirksam erworbene deutsche Staatsangehörigkeit in Wegfall zu bringen beanspruchen, entgehen der Prüfung am Maßstab des Art. 16 Abs. 1 GG nicht dadurch, dass der Wegfall rückwirkend zum Erwerbszeitpunkt vorgesehen ist und die Staatsangehörigkeit danach von einem ex-post-Standpunkt aus als nie erworben erscheint. Genügte der Umstand, dass ein Wegfall der Staatsangehörigkeit rückwirkend zum Zeitpunkt des Erwerbs eintritt, um die Vorgaben des Art. 16 Abs. 1 GG unanwendbar zu machen, so liefe der Schutz des Grundrechts ganz unabhängig davon, wie es im Übrigen interpretiert wird, gegenüber jeder gesetzlichen Regelung leer, die eine Wegnahme der Staatsangehörigkeit ex tunc vorsieht oder ermöglicht. Das Grundrecht könnte dann selbst gegen Maßnahmen nicht mehr schützen, die im Kern seiner historischen Schutzrichtung liegen (BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006 - 2 BvR 669/04 - , juris Rn. 54; Beschluss vom 24. Oktober 2006 - 2 BvR 696/04 - , juris Rn. 15).

Der Schutz des Art. 16 Abs. 1 GG entfällt auch nicht deshalb, weil für den Kläger gemäß Art. 224 § 1 Abs. 1 EGBGB noch das früher geltende Abstammungsrecht anzuwenden ist, nach dem sich die Ehelichkeit des in der Ehe geborenen Kindes und demgemäß auch die Vaterschaft für dieses Kind auf Rechtsvermutungen gründete. Daraus folgt nicht, dass eine deutsche Staatsangehörigkeit des Kindes, soweit sie auf dieser Vaterschaft beruht, mit einem unter Umständen fiktiven Charakter der zugrundeliegenden Vermutungen mittelbar infiziert und insoweit selbst als nur scheinbare dem Schutzbereich des Art. 16 Abs. 1 GG von vornherein entzogen wäre. Mit der rechtskräftigen Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft soll eine auf ihr beruhende deutsche Staatsangehörigkeit entfallen, von der nach den maßgebenden einfachgesetzlichen Vorschriften zunächst auszugehen war. Aus der verfassungsrechtlich maßgeblichen Perspektive handelt es sich daher um einen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit, der dem Schutzbereich des Art. 16 Abs. 1 GG unterfällt (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2006, a.a.O. Rn. 13). […]

Dagegen kann der Klage hinsichtlich einer möglichen Verletzung von Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG die Erfolgsaussicht nicht abgesprochen werden.

Die oben beschriebenen Rechtsregeln, aus denen sich auf der Grundlage einer erfolgreichen Anfechtung der Ehelichkeit der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit ergibt, könnten insofern verfassungswidrig sein, als dem über die Anfechtung entscheidenden Gericht weder aufgegeben noch ermöglicht ist, Rücksicht darauf zu nehmen, ob das betroffene Kind infolge der Anfechtung staatenlos wird. Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG darf der Verlust der Staatsangehörigkeit gegen den Willen der Betroffenen nur dann eintreten, wenn diese dadurch nicht staatenlos werden. Welche Auswirkungen der Wegfall der deutschen Staatsangehörigkeit für die weitere Staatsangehörigkeit des Kindes hat, bestimmt sich nach ausländischem Staatsangehörigkeitsrecht. Das deutsche Recht kann Erwerb, Fortbestand oder Wiederaufleben der mütterlich vermittelten ausländischen Staatsangehörigkeit nicht steuern. Eine Rechtfertigung der Inkaufnahme von Staatenlosigkeit kommt nicht in Betracht. Der Wortlaut des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG sieht abgesehen vom Willenskriterium keine weitere Einschränkung des Verbots der Inkaufnahme von Staatenlosigkeit vor; das Staatenlosigkeitsverbot ist strikt formuliert (BVerfG, Beschluss vom 17. Dezember 2013, a.a.O. Rn. 77). Zwar wurde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Inkaufnahme der Staatenlosigkeit im Fall der Rücknahme einer durch bewusst falsche Angaben erwirkten rechtswidrigen Einbürgerung für verfassungsrechtlich zulässig gehalten. Wegen des strikt formulierten Verbots des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG ist jedoch bei einer Weiterung der für den Rücknahmefall angestellten Rechtfertigungsüberlegungen auf andere Konstellationen äußerste Zurückhaltung geboten (BVerfG, Beschluss vom 17. Dezember 2013, a.a.O. Rn. 78). In der hier zu beurteilenden Konstellation greifen die zur Rücknahme einer durch Täuschung erschlichenen Einbürgerung angestellten Erwägungen jedenfalls nicht. Dort stand im Zentrum, dass sich die Betroffenen über die Rechtsordnung hinweggesetzt und durch willentliche Täuschung eine rechtswidrige Einbürgerung erreicht haben. Im Fall der Anfechtung der Ehelichkeit liegen die Dinge anders. Durch die Eheschließung haben sich die Eltern weder über die Rechtsordnung hinweggesetzt, noch haben sie irgendjemanden über irgendetwas getäuscht, noch haben sie eine rechtswidrige Entscheidung herbeigeführt. Vor allem aber treten hier der Verlust der Staatsangehörigkeit und damit gegebenenfalls die Staatenlosigkeit beim Kind ein, das selbst an der Erlangung der Staatsangehörigkeit nicht aktiv beteiligt war. Anders als im Anwendungsbereich von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ist es angesichts des klaren Verbots der Inkaufnahme von Staatenlosigkeit im Fall des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG nicht möglich, dem Kind ein Verhalten der Eltern zuzurechnen (BVerfG, Beschluss vom 17. Dezember 2013, a.a.O. Rn. 80).

Darüber hinaus verstoßen die angeführten Rechtsregeln möglicherweise gegen den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts. Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG verlangt zur Legitimierung eines unfreiwilligen Verlusts der Staatsangehörigkeit eine gesetzliche Grundlage. Der Verlust der Staatsangehörigkeit ist so bestimmt zu regeln, dass die für den Einzelnen und für die Gesellschaft gleichermaßen bedeutsame Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit nicht beeinträchtigt wird (BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006, a.a.O. Rn. 75; Beschluss vom 17. Dezember 2013, a.a.O. Rn. 80) . Dem genügen die Regelungen über die Anfechtung der Ehelichkeit möglicherweise nicht, weil der Umstand, dass die Staatsangehörigkeit infolge der Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft wegfällt, nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist. Damit läge zugleich ein Verstoß gegen das Zitiergebot vor (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG). Zwar hat die staatsangehörigkeitsrechtliche Wirkung der erfolgreichen Anfechtung im Februar 2009 mittelbar Niederschlag im Gesetz gefunden, indem der Gesetzgeber in § 17 Abs. 2 und 3 StAG für den Staatsangehörigkeitsverlust drittbetroffener Kinder eine Altersgrenze festgesetzt hat. Diese Bestimmung impliziert, dass die Anfechtung zum Verlust der Staatsangehörigkeit führt. Den strengen Anforderungen, die der Gesetzesvorbehalt an die Regelung der Staatsangehörigkeit stellt, dürfte diese nur mittelbare Regelung jedoch nicht genügen (BVerfG , Beschluss vom 17. Dezember 2013, a.a.O. Rn. 83). […]