OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Urteil vom 18.12.2017 - 2 A 541/17 - Asylmagazin 4/2018, S. 129 f. - asyl.net: M25828
https://www.asyl.net/rsdb/M25828
Leitsatz:

[Keine Schutzmöglichkeit für staatenlose Palästinenser aus Syrien in anderen Teilen des Mandatsgebietes der UNRWA:]

1. Staatenlose Palästinenser aus Syrien, die von der United Nations Relief and Work Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) registriert sind, sind als Flüchtlinge nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG anzuerkennen, wenn sie Syrien infolge der Zerstörung ihres Flüchtlingslagers durch das Bürgerkriegsgeschehen verlassen haben und ihnen im Zeitpunkt ihrer Ausreise keine Möglichkeit offenstand, in anderen Teilen des Mandatsgebietes der UNRWA Schutz zu finden (vgl. Urteile des Senats vom 21.9.2017 - 2 A 447/17 - und 23.11.2017 - 2 A 541/17 - [asyl.net: M25716], juris, m.w.N.).

2. Die Flüchtlingseigenschaft ist auch in diesem Fall vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in einem Asylverfahren zu prüfen und festzustellen; dessen Prüfungsbefugnis ist allerdings darauf beschränkt festzustellen, ob der Antragsteller tatsächlich Schutz und Beistand der UNRWA genossen hat und ob dieser aus von seinem Willen unabhängigen Gründen entfallen ist und keine gesetzlichen Ausschlussgründe vorliegen.

3. Die gegenteilige frühere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 4.6.1991 - 1 C 42/88 -, BVerwGE 88, 254, und vom 21.1.1992 - 1 C 21/87 -, BVerwGE 89, 296) ist angesichts der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 19.12.2012 - C 364/11 - [asyl.net: M20496, Asylmagazin 4/2013], juris) als überholt anzusehen.

4. Dass der Schutz eines Klägers durch die UNRWA in Syrien aus Umständen weggefallen ist, die von seinem Willen unabhängig waren, wird nicht zuletzt dadurch indiziert, dass diesem bereits durch einen entsprechenden Bundesamtsbescheid wegen der Bürgerkriegssituation in Syrien der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist (Anknüpfung an VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 28.6.2017 - A 11 S 664/17 - [asyl.net: M25278, Asylmagazin 9/2017], juris).

5. Staatenlosen Palästinensern aus Syrien steht derzeit auch de facto grundsätzlich keine Möglichkeit offen, in anderen Teilen des Mandatsgebietes der UNRWA innerhalb oder außerhalb Syriens deren Schutz in Anspruch zu nehmen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Syrien, Palästinenser, UNRWA, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Staatenlosigkeit, staatenloser Palästinenser, Schutz, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 3 S. 2,
Auszüge:

[...]

Weiterhin stand dem Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise aus Syrien keine Möglichkeit offen, in anderen Teilen des Mandatsgebietes den Schutz der UNRWA in Anspruch zu nehmen. Vielmehr muss gesehen werden, dass nach im Kern übereinstimmender Auskunftslage sowohl Jordanien als auch der Libanon - als zum Mandatsgebiet der UNRWA zählende Nachbarstaaten Syriens - ihre Grenzen für palästinensische Flüchtlinge aus Syrien geschlossen haben (und zwar bereits vor der vorliegend im November 2015 erfolgten Ausreise des Klägers aus Syrien) (vgl. dazu etwa die Antwort der Bundesregierung auf die parlamentarische Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag, Drs. 18/8201 vom 20.4.2016, zur Situation des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten und der aus Syrien geflüchteten Palästinenserinnen und Palästinenser, Seite 2 (Vorbemerkung der Fragesteller), wonach palästinensische Flüchtlinge seit Mitte 2012 von jordanischen Sicherheitskräften an der Grenze abgewiesen werden und seit Januar 2013 ein offizielles jordanisches Einreiseverbot besteht sowie "unzählige" Palästinenserinnen und Palästinenser nach Syrien abgeschoben bzw. in einem Lager unter menschenunwürdigen Bedingungen eingesperrt worden sein sollen; vgl. auch BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Gesamtaktualisierung 5.1.2017, Seite 35, wonach Jordanien und Libanon ihre Grenzen für palästinensische Flüchtlinge aus Syrien im Jahr 2015 geschlossen haben; auch nach Angaben der UNRWA (www.unrwa.org/syria-crisis) ist die Grenzschließung für palästinensische Flüchtlinge im Falle von Jordanien bereits frühzeitig ("early in the conflict") und im Falle des Libanon im Mai 2015 erfolgt; ebenso spricht der Fact Finding Mission Report Syrien der BFA, August 2017, davon, dass Palästinensern die Einreise in den Libanon in der Praxis willkürlich verweigert wird (dort Seite 32); im Übrigen sind auch in der Türkei (die nicht zum Mandatsgebiet der UNRWA zählt) Einreisebeschränkungen für Palästinenser in Kraft (vgl. BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, Seite 32) bzw. hat die Türkei die Grenzen zu Syrien mittlerweile de facto geschlossen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Gesamtaktualisierung 5.1.2017, Seite 36); die Grenze zwischen Syrien und dem Irak (der gleichfalls nicht zum Mandatsgebiet der UNRWA zählt) soll ebenfalls für Flüchtlinge geschlossen sein (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Gesamtaktualisierung 5.1.2017, Seite 36); ferner ist es für (syrische) Palästinenser schwierig bis unmöglich, in Nachbarländern Syriens einen legalen Aufenthaltsstatus zu erlangen oder Dokumente zu erhalten und sind sie dort einem erhöhten Ausbeutungsrisiko ausgesetzt (vgl. BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, Seiten 32 f.)). Es kann auch nicht begründet davon ausgegangen werden, dass der Kläger in einem anderen Flüchtlingslager der UNRWA innerhalb Syriens deren Schutz hätte in Anspruch nehmen können. Dem stand und steht nicht nur die dort weiterhin herrschende Bürgerkriegssituation sowie die bereits angeführte besondere Betroffenheit palästinensischer Flüchtlinge von dieser entgegen, die nicht zuletzt darin zum Ausdruck kommt, dass ein Großteil der Palästinenser im Laufe des Bürgerkriegs mindestens einmal innerhalb Syriens vertrieben wurde.(nach Angaben des BFA (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich) handelt es sich um 65 % (Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, Seite 30) bzw. um mehr als zwei Drittel (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Gesamtaktualisierung 5.1.2017, Seite 37), nach Angaben der UNRWA (Syria Crisis: About 400,000 Palestine Refugees from Syria (PRS) have been displaced, www.unrwa.org/syria-crisis) sollen sogar ca. 400.000 von insgesamt ca. 438.000 (wohl: registrierten) palästinensischen Flüchtlingen in Syrien betroffen sein. Darüber hinaus wurden nämlich viele UNRWA-Einrichtungen in Syrien zerstört oder sind diese für die UNRWA nicht zugänglich, wie z.B. 50 % der Schulen (vgl. BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, Seite 29); zu zahlreichen Flüchtlingslagern - einschließlich Yarmouk, Sbeineh, Khan Eshieh, Ein El Tal, Dara’a und Husseiniyeh - besteht nach Angaben der UNRWA keine gesicherte Zugangsmöglichkeit.(vgl. die amtliche Stellungnahme der UNRWA vom 14.10.2013: UNRWA deplores the violence in Dera’a Refugee Camp (www.unrwa.org/newsroom/official-statements)). Auch andere Quellen berichten, dass von den zwölf palästinensischen Flüchtlingslagern in Syrien fünf entweder zerstört wurden oder für die UNRWA unzugänglich sind und in anderen Palästinenser eingeschlossen sind, wodurch ihr Zugang zu humanitärer Hilfe extrem eingeschränkt ist (vgl. BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, Seite 31; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Gesamtaktualisierung 5.1.2017, Seite 37). Hinzu kommt, dass es nach der Auskunftslage für Palästinenser, z.B. mangels gültiger syrischer Dokumente, schwierig ist, sich durch Checkpoints zu bewegen und ihre Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens wegen der Registrierungspflicht und der Genehmigungspflicht für einen Wohnortwechsel reduziert ist (vgl. BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, Seite 31). [...]