VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 27.11.2019 - 19 K 53.19 A - asyl.net: M27898
https://www.asyl.net/rsdb/M27898
Leitsatz:

Familienflüchtlingsschutz für eine staatenlose Palästinenserin aus Jordanien:

1. Familienschutz nach § 26 AsylG setzt nicht als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal eine gemeinsame Staatsangehörigkeit oder eine "Verfolgungsgemeinschaft" der Familienmitglieder voraus.

2. In der Folge ist im Rahmen des § 26 AsylG keine durch eine etwaige andere Staatsangehörigkeit eröffnete Alternativfluchtmöglichkeit als negative Tatbestandsvoraussetzung zu prüfen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Staatenlosigkeit, Palästinenser, staatenlose Palästinenser, Familienflüchtlingsschutz, Syrien, Familienangehörige, Familieneinheit, Familienschutz, familiäre Lebensgemeinschaft, Herkunftsland,
Normen: AsylG § 26 Abs. 1 S. 1, AsylG § 26 Abs. 5, AsylG § 26 Abs. 3 S. 1, RL 2011/95/EU Art. 2 Bst. j.,
Auszüge:

[...]

21 Soweit die Beklagte meint, als weiteres ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 26 AsylG komme es auf eine gemeinsame Staatsangehörigkeit bzw. "Verfolgungsgemeinschaft" an, folgt das Gericht dem nicht (so im Falle unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten hinsichtlich subsidiären Familienschutzes jüngst auch VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 7. Oktober 2019 - VG 34 K 16.19 A -, UA S. 5 f. m.w.N.). Ein entsprechendes Tatbestandsmerkmal ist weder § 26 AsylG zu entnehmen, noch lassen sich dafür Anhaltspunkte in der Entstehungsgeschichte der Norm finden. Eine derartige Annahme widerspricht vielmehr der gesetzgeberischen Intention, die auch darin bestand, das Asylverfahren zu vereinfachen und "die Integration der nahen Familienangehörigen der in der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigte aufgenommenen politisch Verfolgten [zu] förder[n]" (vgl. BT-Drs. 11/6960, S. 29 f.; vgl. zu den verschiedenen Zielsetzungen des Familienasyls auch Broscheit, Die Ableitung des Familienasyls nach § 26 Abs. 3 AsylG von erst nach der Ausreise geborenen stammberechtigten Minderjährigen, in: ZAR 2019, 174, <175 f.> m.w.N.). Vor diesem Hintergrund ist weder eine tatsächliche Verfolgungsnähe noch der fehlende Schutz durch einen (hier: anderen) Staat Voraussetzung für die Zuerkennung des Familienasyls. Entgegen dem Vorbringen der Beklagten führt auch die Berücksichtigung europäischer Vorgaben zu keinem anderen Ergebnis. Der Beklagten ist noch darin beizupflichten, dass Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU durchaus zwischen Personen unterscheidet, denen internationaler Schutz zuerkannt wird und solchen, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen. Anders als die Beklagte meint, folgt daraus aber nicht, dass in der Person desjenigen, der Familienschutz beanspruchen möchte, ebenfalls die Voraussetzungen zur Gewährung internationalen Schutzes vorliegen müssen, worauf die Ansicht der Beklagten hinausliefe, die Familienasyl nur dann zuzusprechen, wenn dem Familienangehörigen im Land seiner Staatsangehörigkeit ebenfalls Verfolgung droht. Ganz im Gegenteil: Die Bestimmung bestätigt vielmehr, dass die Gewährung von Familienschutzes nicht erfordert, dass die Angehörigen des Familienverbandes selbst die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllen müssen. Andernfalls wäre die Regelung auch überflüssig, da dann alle Familienmitglieder, denen vergleichbare Schicksale drohten, eigenständig Schutz reklamieren könnten. Kommt es auf das Bestehen einer vergleichbaren Gefährdungslage für die Gewährung von Familienasyl aber nicht an, müssen im Rahmen des § 26 AsylG auch keine durch etwaige andere Staatsangehörigkeiten eröffneten Alternativfluchtmöglichkeiten als negative Tatbestandsvoraussetzung geprüft werden. Verdient danach die Ansicht, dass unterschiedliche Staatsangehörigkeiten von Familienangehörigen der Gewährung von Familienschutzes entgegenstehen, – wie gezeigt – schon keine Zustimmung, muss vorliegend auch der weiteren Frage, ob sich dies, wie die Beklagte meint, auf Fälle wie den hiesigen übertragen lässt, in denen die Familienschutzsuchenden staatenlos sind, nicht mehr nachgegangen werden. [...]