OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 12.09.2019 - 8 ME 66/19 - asyl.net: M27910
https://www.asyl.net/rsdb/M27910
Leitsatz:

1. Staatenlos i.S.d. Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG wird der Betroffene auch dann, wenn eine faktische Staatenlosigkeit vorliegt, weil der Staat der rechtlichen Staatsangehörigkeit den sich grundsätzlich aus der Staatsangehörigkeit ergebenden Schutzverpflichtungen nicht nachkommt, sei es, weil er dazu nicht in der Lage, oder weil er dazu nicht willens ist.

2. Besteht besonderer Anlass zur Prüfung, ob keine faktische Staatenlosigkeit eintritt, weil sich bereits aus dem Staatsangehörigkeitsrecht des fremden Staates diesbezügliche Zweifel ergeben, und lässt sich im Eilverfahren nicht klären, ob zumindest einer der in Betracht kommenden Staaten den Betroffenen auch faktisch als Staatsangehörigen behandelt, so ist der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache offen und es kommt für die Begründetheit eines Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 5 VwGO auf eine reine Abwägung der widerstreitenden Interessen an.

3. Die Regelung der § 1599 BGB, § 4 Abs. 1 Satz 1, § 17 Abs. 3 Satz 1 Var. 3, § 17 Abs. 2 StAG, die zur Folge hat, dass die durch Abstammung erworbene deutsche Staatsangehörigkeit bei Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft rückwirkend entfällt, genügt dem Gesetzesvorbehalt des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG.

4. Einer ausdrücklichen einfachgesetzlichen Regelung, wonach die Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft für die Staatsangehörigkeit unbeachtlich ist, wenn das Kind anderenfalls staatenlos wird, bedarf es nicht.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Staatenlosigkeit, faktische Staatenlosigkeit, rechtliche Staatenlosigkeit, Vaterschaftsanfechtung, Verlust der Staatsangehörigkeit, Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, im Ausland geborenes Kind, in Deutschland geborenes Kind,
Normen: BGB § 1599, StAG § 4 Abs. 1 S. 1, StAG § 17 Abs. 3 S. 1 Var. 3, StAG § 17 Abs. 2, GG Art. 16 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

20 Die zulässige Beschwerde ist teilweise begründet. Aus den mit ihr dargelegten Gründen ergibt sich, dass die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ablehnung der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen und die Abschiebungsandrohung anzuordnen ist. Hinsichtlich der Unzulässigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO, soweit er die Ausreiseaufforderung betrifft, wird mit der Beschwerde hingegen nichts vorgetragen (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO).

21 Die Konsequenzen der Anfechtung der Vaterschaft für die Staatsangehörigkeit des Sohnes der Antragsteller zu 1. und zu 2. bedürfen der Prüfung in dem Verfahren zur Hauptsache. Das steht der sofortigen Vollziehbarkeit der Ablehnung der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen und der Abschiebungsandrohung entgegen. [...]

23 1. Nach gegenwärtigem Stand ist offen, ob der Antragsgegner die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnisse der Antragsteller zu Recht abgelehnt hat.

24 a) Die Antragstellerin zu 1. hat möglicherweise Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 27 Abs. 1, § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG zum Familiennachzug zu dem Sohn .... Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist die Aufenthaltserlaubnis dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat.

25 aa) Hinsichtlich eines Teils der Voraussetzungen dieser Aufenthaltserlaubnis besteht rechtliche Klarheit. Die Antragstellerin zu 1. ist die zur Personensorge berechtigte Mutter des ..., der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen sind erfüllt, insbesondere besitzt die Antragstellerin zu 1. einen Pass. Die Sicherung des Lebensunterhalts ist gemäß § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht erforderlich.

26 bb) Offen ist jedoch, ob der Sohn ... deshalb deutscher Staatsangehöriger ist, weil er, wäre die Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft staatsangehörigkeitsrechtlich beachtlich, entgegen Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG staatenlos würde. [...]

28 Staatenlos i.S.d. Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG wird der Betroffene auch dann, wenn eine faktische Staatenlosigkeit vorliegt, weil der Staat der rechtlichen Staatsangehörigkeit den sich grundsätzlich aus der Staatsangehörigkeit ergebenden Schutzverpflichtungen nicht nachkommt, sei es, weil er dazu nicht in der Lage, oder weil er dazu nicht willens ist (Becker, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 16 Rn. 45; vgl. Kämmerer, in: Bonner Kommentar, Art. 16 Rn. 84 (Dez. 2015)). Denn Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG will dem deutschen Staatsangehörigen die rechtliche Beziehung zum deutschen Staatsgebiet so lange erhalten, als er nicht in eine entsprechende Beziehung zu einem anderen Staatsgebiet getreten ist. Das ist nicht der Fall, wenn die rechtlich erworbene Staatsangehörigkeit ihrem Erwerber nicht die Verwirklichung derjenigen Rechte ermöglicht, die eine Staatsangehörigkeit gewähren kann, die in vollem Umfang in dem zu ihr gehörenden Staatsgebiet anerkannt wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 7.7.1959 - I C 119.57 -, Buchholz 11 Art. 16 GG Nr. 4; v. 28.9.1993 - 1 C 25.92 -, BVerwGE 94, 185, juris Rn. 20). Die ausländische Staatsangehörigkeit muss der deutschen Staatsangehörigkeit in ihren Wirkungen vergleichbar sein. Dabei bezieht sich das Erfordernis der Vergleichbarkeit nicht auf die an die Staatsangehörigkeit geknüpften Rechte und Pflichten des einzelnen, sondern auf den Status selbst und seine Effektivität, Sicherheit und Dauerhaftigkeit  BVerwG, Urt. 28.9.1993 - 1 C 25/92 -, BVerwGE 94, 185, juris Rn. 20).

29 An der Effektivität fehlt es auch dann, wenn die Behörden des Staates der Staatsangehörigkeit  auch nach gehöriger Prüfung nicht bereit sind, den Betroffenen als eigenen Staatsangehörigen anzuerkennen. Allerdings ist regelmäßig davon auszugehen, dass der fremde Staat sein Staatsangehörigkeitsrecht auch anwendet. Besonderer Anlass zur Prüfung, ob keine faktische Staatenlosigkeit eintritt, besteht aber insbesondere dann, wenn sich bereits aus dem Staatsangehörigkeitsrecht des fremden Staates diesbezügliche Zweifel ergeben.

30 So verhält es sich im Fall des .... Er ist im Bundesgebiet geboren; seine Mutter ist montenegrinischer und sein Vater bosnisch-herzegowinischer Staatsangehörigkeit. Das Staatsangehörigkeitsrecht beider Staaten sieht den Erwerb der jeweiligen Staatsangehörigkeit bei Geburt im Ausland durch Abstammung von einem Elternteil vor, wenn das Kind anderenfalls staatenlos wäre (Art. 5 des Staatsangehörigkeitsgesetzes von Montenegro, Amtsblatt Nr. 13/08; Art. 6 des Staatsangehörigkeitsgesetzes von Bosnien-Herzegowina, Amtsblatt Nr. 4/97, 13/99, 41/02, 6/03, 14/03, 82/05, 43/09, 76/09, 87/13). Deswegen besteht die Möglichkeit, dass jeder der angegangenen Staaten auf den anderen verweist und den Standpunkt einnimmt, das eigene Staatsangehörigkeitsrecht gelte nur subsidiär für den Fall der Staatenlosigkeit, die aber nicht eingetreten sei, weil der jeweils andere Staat den Sohn ... als seinen Staatsangehörigen zu behandeln habe.

31 Vor diesem Hintergrund hätte der Antragsgegner zu ermitteln gehabt, ob zumindest einer der in Betracht kommenden Staaten den Sohn ... auch faktisch als Staatsangehörigen behandelt. Dies ist im Hauptsacheverfahren nachzuholen. Wegen der Komplexität und Dauer der Ermittlungen ist dafür im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kein Raum. Nur klarstellend ist darauf hinzuweisen, dass die Auskunft der Landesaufnahmebehörde nur die Möglichkeit der Abschiebung betrifft und sich zur Frage der Staatsangehörigkeit nicht verhält.

32 Sollte sich im Hauptsacheverfahren ergeben, dass keiner der in Betracht kommenden Staaten den Sohn ... als seinen Staatsangehörigen behandelt, bestünde ein Anspruch der Antragstellerin zu 1. auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. [...]