VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 17.09.2020 - 34 K 537.17 A - asyl.net: M29072
https://www.asyl.net/rsdb/M29072
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Angehörige der Bidun aus Kuwait:

"1. Die von der kuwaitischen Politik der Diskriminierung und Vertreibung betroffenen Bidun stellen flüchtlings­rechtlich eine soziale Gruppe dar.

2. Ist das Leben der Betroffenen im Land ihres gewöhnlichen Aufenthalts grundlegend entwertet und wird ihnen die Existenzberechtigung als solche abgesprochen, liegt ein Verfolgungseingriff mit dem Gewicht einer schweren Menschenrechtsverletzung vor. Dies ist bei unregistrierten bzw. undokumentierten Bidun aus Kuwait jedenfalls dann zu bejahen, wenn diese Maßnahmen gegen sie selbst gerichtet sind."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Kuwait, Bidun, Diskriminierung, Asylrelevanz, soziale Gruppe, Staatenlosigkeit, Flüchtlingsanerkennung, Kumulierung, politische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 2b,
Auszüge:

[...]

44 d) Gemessen an diesen Grundsätzen haben die Kläger Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Den Klägern droht im Falle der Rückkehr nach Kuwait mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung aus einem der in § 3b Abs. 1 AsylG genannten Gründe.

45 (1) Das Gericht ist davon überzeugt, dass es sich bei den Klägern um unregistrierte Staatenlose handelt, die ihren vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt in Kuwait hatten bzw. der 2019 in Berlin geborene Kläger zu 8., an der Staatenlosigkeit seiner Eltern teilhat. Diese Überzeugung beruht auf den glaubhaften Angaben der Kläger im behördlichen und gerichtlichen Verfahren, den von ihnen vorgelegten Dokumenten, dem Schreiben des M. vom 26. Mai 2020 sowie auf den vorliegenden Erkenntnissen.

46 (a) Daraus ergibt sich zunächst die Staatenlosigkeit der Kläger im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 2b AsylG. [...]

49 Die Zugehörigkeit der Kläger zur Gruppe der Staatenlosen (Bidun) aus Kuwait wird auch von der Beklagten nicht in Abrede gestellt 50 (bb) Die Hintergründe für die Staatenlosigkeit der Personengruppe, der die Kläger angehören, sind nach den vorliegenden Erkenntnissen folgende: [...]

54 (b) Die Kläger sind nicht nur staatenlos im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 2b) AsylG, sondern gehören darüber hinaus auch zu den sog. undokumentierten bzw. unregistrierten Bidun. [...]

57 Nicht registrierte Bidun haben nach den vorliegenden Erkenntnissen in Kuwait keine Rechte; sie haben keinen Zugang zu einer legalen Anstellung oder staatlichen Dienstleistungen (SEM, a.a.O., S. 14). Undokumentierten Bidun werden die Rechte auf medizinische Versorgung, Unterkunft, Ausstellung von Dokumenten, Bildung und Erwerb eines Führerscheins verweigert (UK Home Office, a.a.O. S. 6).

58 (bb) Der Kläger zu 1. hat in der mündlichen Verhandlung plausibel und nachvollziehbar ausgeführt, warum er neben seiner Geburtsurkunde und einer Schulbescheinigung über keine weiteren kuwaitischen Personaldokumente verfügt und insbesondere nicht im Besitz einer Referenz- oder Sicherheitskarte ist. Er hat hierzu ohne Zögern, zusammenhängend, in freiem Sachvortrag und mithin glaubhaft angegeben, dass es im Jahr 1965 eine Art Blockade bzw. Umzingelung der Stadt Kuwait gegeben habe. Er wisse dies aus Erzählungen seines Vaters. Sein Vater sei Viehzüchter gewesen, wie auch bereits sein Großvater. Aufgrund der Blockade habe sein Vater nicht an der Volkszählung von 1965 teilnehmen können und deshalb auch keinen Nachweis über die Volkszählung bekommen. Im Jahr 1996 hätten sie dann bei der Behörde vorgesprochen, um sich registrieren zu lassen. Die Voraussetzung für die Anlage einer Personenstandsakte sei jedoch die Vorlage eines Nachweises über die Volkszählung von 1965 gewesen. Dass er diesen Volkszählungsnachweis nicht habe vorlegen können, sei der wesentliche Grund gewesen, weshalb er in Kuwait ohne Papiere geblieben sei. [...]

66 (2) Die Kläger wären im Fall ihrer Rückkehr nach Kuwait mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 1 AsylG wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Bidun, der Kläger zu 1. zudem wegen seiner politischen Überzeugung, ausgesetzt.

67 (a) Die verschiedenen Maßnahmen, denen die Kläger zu 1. bis 7. in ihrem Herkunftsland ausgesetzt waren, sind jedenfalls in ihrer Gesamtschau als Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu qualifizieren. [...]

70 In ihrer Kumulation stellen die vom kuwaitischen Staat gegenüber den Klägern als unregistrierte Bidun bewusst und gezielt verursachten Nachteile einen Verfolgungseingriff mit dem Gewicht einer schweren Menschenrechtsverletzung dar, wie sie vom Flüchtlingsbegriff vorausgesetzt wird (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG). Über bloße für sich genommene unerhebliche Diskriminierungen gehen solche Folgen weit hinaus, da sie das Leben der Betroffenen grundlegend entwerten. Den Klägern wird ihre Existenzberechtigung als solche abgesprochen. Die grundlegende Verweigerung jeglicher Dokumentation durch den kuwaitischen Staat, etwa durch die Ausstellung von Heirats- und Geburtsurkunden bzw. sonstiger Personaldokumente für die Kläger, die Verhinderung des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Berufswahl und Berufsausübung sowie zur Begründung von Eigentum grenzt die staatenlosen Kläger massiv aus der staatlich verfassten Friedensordnung ihres Herkunftslandes aus, zwingt sie in die Illegalität und verletzt das grundlegende Menschenrecht auf Teilhabe an dieser gemeinschaftlichen Friedensordnung und auf Anerkennung als Rechtsperson (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 12. März 2014 – A 6 K 1868/12 – juris Rn. 34 f. zu den unter Verstoß gegen die chinesische Ein-Kind-Politik geborenen Kindern). Eine solche komplette Ausgrenzung durch die staatlichen Behörden ihres Herkunftslandes, wie sie von den Klägern berichtet wird, stellt einen Verfolgungseingriff von ausreichender menschenrechtsverletzender Intensität dar. Dem entspricht die Rechtsprechung in zwei europäischen Staaten, wonach unregistrierte Bidun unter extrem schwierigen Bedingungen leben, systematisch diskriminiert werden, wobei die Einschränkungen ihnen gegenüber so schwerwiegend sind, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist (UK Upper Tribunal NM, a.a.O. Rn. 100, 101; Sweden – Migration Court, a.a.O.). Auch einzelne dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse gehen davon aus, dass die Einschränkungen gegenüber unregistrierten Bidun so schwerwiegend sind, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist (UK Home Office, a.a.O., S. 5; BFA, a.a.O., S. 6).

71 (bb) Für den Kläger zu 1. bestand darüber hinaus wegen seiner Schattenexistenz als unregistrierter Bidun mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, dass er wegen der falschen Verdächtigung der Demonstrationsteilnahme und des Aufrufs dazu, ohne gerichtliche Verurteilung in Polizeiarrest genommen würde (vgl. Sweden – Migration Court, a.a.O.). Obwohl Strafverfolgung und Bestrafung grundsätzlich ein legitimes Recht des Staates darstellen, um Rechtsverletzungen zu ahnden und die soziale Ordnung zu erhalten, ist hier anzunehmen, dass es sich um eine diskriminierende Strafverfolgung und Bestrafung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG gehandelt hätte. Denn sowohl der zugrundeliegende Straftatbestand als auch die Durchsetzung in der Praxis dienen gerade dazu, ein Aufbegehren der Bidun zu unterdrücken und diese Gruppe gegenüber der kuwaitischen Bevölkerung zu schwächen (vgl. VG Berlin, Urteil vom 30. Mai 2018 – VG 34 K 527.16 A – UA S. 9).

72 (cc) Die ausweglose Existenz nicht registrierter Bidun in Kuwait wird auch durch den Selbstmord eines Verwandten der Klägerin zu 2. Im Jahr 2019, über den die BBC News in einem YouTube-Beitrag berichten, verdeutlicht. Das Gericht lässt allerdings ausdrücklich offen, ob undokumentierte Bidun in Kuwait einer Gruppenverfolgung durch den kuwaitischen Staat ausgesetzt sind. Angesichts der vorliegenden Erkenntnisse ist davon auszugehen, dass auch die Lebensverhältnisse dieses Personenkreises durchaus verschieden sein können (SEM, a.a.O., S. 8). Im konkreten Fall, in dem die Kläger glaubhaft die Situation der Rechtlosigkeit, die für sie mit ihrem Status verbunden ist, geschildert haben, sind die Anforderungen an das Vorliegen staatlicher Verfolgungsmaßnahmen erfüllt. [...]

74 (c) Die Verfolgungsmaßnahmen in Form der kompletten Rechtlosstellung und des drohenden Polizeiarrests des Klägers zu 1. knüpfen auch an flüchtlingsrechtlich erhebliche Merkmale der Kläger an.

75 (aa) Die Bidun sind in Kuwait eine bestimmte soziale Gruppe (vgl. UK Asylum and Immigration Tribunal – BA and others (bedoon-statelessness-risk of persecution) Kuwait CG [2004] UKIAT 00256, Rn. 89), die einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein hat. Die Bidun haben in Kuwait eine deutlich abgrenzbare Identität, da sie von der sie umgebenden kuwaitischen Gesellschaft als andersartig betrachtet werden (§ 3b Abs. 1 Nr. 4a) und b). Ihr gemeinsamer unveränderbarer Hintergrund seit der Staatsgründung war, dass sie potentielle Staatsangehörige waren und als solche Kuwaitis ohne Staatsangehörigkeit. Die Bidun wurden in Kuwait als besondere Gruppe mit eigenem Rechtsstatus behandelt. Sie waren keine Staatsangehörigen und hatten kein Wahlrecht. Sie wurden allerdings auch nicht wie Ausländer und auch nicht als Staatenlose betrachtet. Die Verfolgungsmaßnahmen, die im Jahr 1986 begannen und sich seitdem verschärft haben, betrafen die Bidun als bereits existierende soziale Gruppe (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. September 2019 – 1 B 54/19 – juris Rn. 8). [...]