VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 15.10.2021 - 4 K 810/21.WI (Asylmagazin 1-2/2022, S. 53 ff.) - asyl.net: M30205
https://www.asyl.net/rsdb/m30205
Leitsatz:

Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis nach Übergang der Verantwortung im Verfahren einer in Italien als Flüchtling anerkannten Person:

"[1.] Nach dem Übergang der Zuständigkeit für die Ausstellung eines Reiseausweises auf die Bundesrepublik Deutschland gemäß dem Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 ist ein von einem anderen Staat anerkannter Flüchtling einem im Inland vom Bundesamt anerkannten Flüchtling gleichzustellen und kommt in den vollen Genuss der Rechte und Vorteile, die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) ergeben, sofern seine Rechtsstellung als Flüchtling nicht gemäß § 73a Abs. 1 AsylG erloschen ist oder gemäß § 73a Abs. 2 AsylG wieder entzogen wurde.

[2.] Diese Rechte umfassen auch einen Anspruch auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels für mindestens drei Jahre, wie dies in Art. 24 der Qualifikationsrichtlinie vorgesehen ist. Da insoweit eine planwidrige Regelungslücke im Gesetz besteht, sind die Vorschriften des §§ 25 Abs. 2, 26 Abs. 1 Satz 2 AufenthG hierbei analog heranzuziehen."

(Amtliche Leitsätze; anschließend an VG Gießen, Urteil vom 19.08.2020 - 6 K 9437/17.GI.A (Asylmagazin 9/2020, S. 321 f.) - asyl.net: M28736)

Schlagwörter: internationaler Schutz in EU-Staat, Übergang der Verantwortung, EÜÜVF, Genfer Flüchtlingskonvention, Flüchtlingsanerkennung, Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, Aufenthaltstitel, Aufenthaltserlaubnis, EATRR, Analogie,
Normen: GFK Art. 28, EATRR Art. 2, EATRR Art. 8 Abs. 2, EATRR Art. 4 Abs. 1, EATRR Art. 14 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 2 S. 1, RL 2011/95/EU Art. 24, AsylG § 73a Abs. 1, AufenthG § 26 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

23 Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG analog, nachdem die Verantwortung für die Ausstellung eines Reiseausweises nach der Genfer Flüchtlingskonvention auf Deutschland übergegangen ist.

24 Die Klägerin ist ausweislich des von ihr vorgelegten Flüchtlingsausweises und der italienischen Aufenthaltserlaubnis als Flüchtling in Italien anerkannt. Die Verantwortung für die Ausstellung eines Flüchtlingsausweises für die Klägerin ist allerdings gemäß Art. 2 Abs. 1 des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 (BGBl. 1994 II, S. 2645 – im Folgenden: Europäisches Übereinkommen) unstreitig auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Das Europäische Übereinkommen konkretisiert den Zuständigkeitsübergang nach § 11 des Anhangs der Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. 51.7.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26.10.2009, GMBL. S. 878 - AVwV-AufenthG). Gemäß § 11 des Anhangs zur Genfer Flüchtlingskonvention geht, wenn ein Flüchtling seinen Wohnort wechselt oder sich rechtmäßig in einem anderen vertragsschließenden Staat niederlässt, die Verantwortung gemäß Art. 28 GFK für die Ausstellung eines neuen Ausweises auf die zuständige Behörde desjenigen Gebietes über, bei welcher der Flüchtling seinen Antrag zu stellen berechtigt ist. [...]

26 Danach ist die Verantwortung vorliegend auf Deutschland übergegangen. Denn der im November 2013 von Italien ausgestellte Flüchtlingsausweis hat nach italienischem Recht eine Gültigkeitsdauer von fünf Jahren hat (vgl. hierzu AIDA, 2021, Country Report: Italy, 2020 update, S. 179) und ist daher – ebenso wie die italienische Aufenthaltserlaubnis – im November 2018 abgelaufen. Mit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis am 11. Oktober 2017 mit einer Gültigkeit bis zum 10. Oktober 2020 hat Deutschland der Klägerin den Aufenthalt in Deutschland für länger als für die Gültigkeit ihres Reiseausweises gestattet. Zudem hat sich die Klägerin aufgrund der ihr erteilten Aufenthaltserlaubnis auch tatsächlich für mehr als zwei Jahre mit Zustimmung einer deutschen Behörde in Deutschland aufgehalten. [...]

28 Aufgrund des Verantwortungsübergangs nach dem Europäischen Übereinkommen hat die Klägerin nicht nur einen Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge in Deutschland erlangt, sondern zudem die volle Rechtsstellung eines Flüchtlings und damit auch einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

29 Zwar sieht das Aufenthaltsgesetz einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Flüchtlinge nach dem Wortlaut des § 25 Abs. 2 S. 1 AufenthG nur vor, wenn das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat. Auch das Europäische Übereinkommen sieht ausdrücklich nur eine Regelung zur Ausstellung des Reiseausweises nach Verantwortungsübergang vor (vgl. Art. 5) und enthält keine Vorschriften betreffend den Aufenthaltsstatus. Aufgrund des Übergangs der Zuständigkeit für die Ausstellung eines Reiseausweises auf die Bundesrepublik Deutschland ist die Klägerin aber einem im Inland vom Bundesamt anerkannten Flüchtling gleichzustellen. In der Rechtsprechung und Literatur ist insoweit ganz überwiegend anerkannt, dass das Europäische Übereinkommen so auszulegen ist, dass der Flüchtling nach dem Übergang der Verantwortung in den vollen Genuss der Rechte und Vorteile kommt, die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) ergeben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 2017 - 1 C 26/16 -, NVwZ 2017, 1545, juris Rn. 35 und Beschluss vom 2. August 2017 - 1 C 2.17 -, juris Rn. 24; OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. August 2018 - 8 ME 42/18 -, juris Rn. 57; VG Düsseldorf, Urteil vom 26. Mai 2020 - 22 K 17460/17.A -, juris Rn. 158 ff.; VG Aachen, Beschluss vom 9. Juli 2010 - 8 L 151/10 -, juris Rn. 35 f.; VG Düsseldorf, Urteil vom 26. Mai 2020 - 22 K 17460/17.A -, juris Rn. 158ff.; VG Gießen, Urteile vom 20. Dezember 2019 - 6 K 1525/16.GI.A - juris Rn. 24, vom 19. August 2020 - 6 K 9437/17.GI.A -, juris Rn. 25, und vom 20. Dezember 2021 - 6 K 1525/16.GI.A -;Lehmann, Anerkennung als Hindernis: Weiterwandernde Flüchtlinge, Asylmagazin 2014, S. 4 (6); Fränkel, in: Hofmann, NK-Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 25 AufenthG Rn. 15; Huber, NVwZ 2017, 244, 248; a.A. in einem asylrechtlichen Verfahren wohl VGH München, Beschluss vom 3. Dezember 2019 - 10 ZB 19.34074 -, juris, wonach lediglich ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis bestehen könne, das vom Bundesamt nicht zu prüfen sei). [...]

33 Davon, dass der Flüchtling nach dem Verantwortungsübergang die volle Rechtsstellung als Flüchtling in Deutschland erlangt, geht offenbar auch der Gesetzgeber in § 73a AsylG aus. Denn § 73a Abs. 1 AsylG regelt, dass bei einem Ausländer, der von einem ausländischen Staat als Flüchtling anerkannt worden ist und bei dem die Verantwortung für die Ausstellung des Reiseausweises auf die Bundesrepublik übergegangen ist, die Rechtsstellung als Flüchtling in der Bundesrepublik Deutschland erlischt, wenn einer der in § 72 Abs. 1 AsylG genannten Umstände eintritt. Nach § 73a Abs. 2 wird die Rechtsstellung als Flüchtling in der Bundesrepublik Deutschland zudem entzogen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht oder nicht mehr vorliegen. Es wäre jedoch inkonsistent, einerseits das Recht zur Beendigung des Flüchtlingsstatus nach Übergang der Verantwortung dem Zweitstaat zu übertragen, andererseits aber die Verleihung der aus dem Status fließenden Rechte dem anerkennenden Erststaat zu belassen (vgl. ebenso wie hier: VG Gießen, Urteil vom 19. August 2020 – 6 K 9437/17.GI.A –, juris rn. 25; vgl. hierzu auch VG Düsseldorf, Urteil vom 26. Mai 2020 – 22 K 17460/17.A –, juris Rn.164 m.w.N.). Durch die in § 73a AufenthG vorgesehene Überprüfungsmöglichkeit ist zudem gewährleistet, dass Deutschland nicht ohne die Möglichkeit einer eigenen rechtlichen Überprüfung an die Anerkennungsentscheidung eines anderen Konventionsstaates gebunden ist, sondern – auch ohne Durchführung eines erneuten Asylverfahrens – eine eigene Prüfungsbefugnis hat, ob die Voraussetzungen für die Ausübung der Rechte der Genfer Flüchtlingskonvention im Einzelfall (noch) gegeben sind (vgl. zu diesem Überprüfungsrecht des Zweitstaates: BVerfG, Beschluss vom 14. November 1979 - 1 BvR 654/79 -, juris). [...]

35 Dementsprechend hat auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 2. August 2017 im Verfahren 1 C 2.17 in Randnummer 24 ausgeführt (vgl. ebenso auch BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 2017 - 1 C 26/16 -, juris Rn. 35):

"Auf einen in einem anderen Mitgliedstaat anerkannten Flüchtling findet […] Art. 2 des – von Deutschland ratifizierten – Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 Anwendung. Danach geht die Verantwortung für einen Flüchtling spätestens nach Ablauf von zwei Jahren des "tatsächlichen und dauernden Aufenthalts“ im Bundesgebiet auf Deutschland über. Damit kann ein in einem anderen Mitgliedstaat anerkannter Flüchtling auch ohne Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in Deutschland in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte kommen und verbleibt nicht - wie vom Berufungsgericht angenommen - dauerhaft auf dem Status eines nur geduldeten Ausländers unter Ausschluss der einem anerkannten Flüchtling zustehenden Aufenthalts- und Teilhaberechte."

36 Ohne Asylverfahren kann ein in einem anderen Mitgliedstaat anerkannter Flüchtling nur dann in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte kommen, wenn er auch genauso wie ein in Deutschland anerkannter Flüchtling nach §§ 25 Abs. 2, 26 Abs. 1 Satz 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis für mindestens drei Jahre erhält, die verlängerbar ist, wie es in Art. 24 der Qualifikationsrichtlinie vorgesehen ist. Nur durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (ohne Wohnsitzauflage) ist zudem gewährleistet, dass der Flüchtling weitere ihm zustehende Recht wie das Recht auf Freizügigkeit, das ihm nach Art. 33 der Qualifikationsrichtlinie unter den gleichen Bedingungen zusteht, wie anderen Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet aufhalten, genießen kann (siehe hierzu bereits oben).

37 Die in den Anwendungshinweisen des Bundesinnenministeriums und Bundesamtes vertretene Auffassung, der sich der Beklagte angeschlossen hat, und wonach nur eine Duldung oder gegebenenfalls eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Betracht komme, kann demgegenüber nicht überzeugen. Insbesondere das Argument, dass der Gesetzgeber mit der Bestimmung in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG die aufenthaltsrechtlichen Folgen auch im Falle eines Verantwortungsübergangs ausdrücklich nur als Abschiebungsverbot ausgestaltet habe, trägt nicht. Denn mit der Regelung in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG hat der Gesetzgeber nur das Refoulement-Verbot aus Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention umgesetzt, das für alle anerkannten Flüchtlinge – unabhängig von einem Verantwortungsübergang – gilt, und gerade keine spezifische Regelung für Fälle getroffen, in denen die Verantwortung für den betreffenden Flüchtling auf Deutschland übergegangen ist. [...]

40 Eine Beschränkung der Rechte auf die Erteilung einer Duldung mit der Möglichkeit der eventuellen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, wie der Beklagte sie mit Verweis auf die Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums und des Bundesamtes als ausreichend ansieht, wird im Übrigen auch der Regelung in Art. 6 des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge nicht gerecht. Denn nach dieser Bestimmung erleichtert der Zweitstaat nach dem Übergang der Verantwortung im Interesse der Familienzusammenführung und aus humanitären Gründen die Aufnahme des Ehegatten sowie der minderjährigen oder abhängigen Kinder des Flüchtlings in seinem Hoheitsgebiet. Eine solche Erleichterung besteht weder bei Erteilung einer Duldung noch bei Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Denn einen Familiennachzug zu geduldeten Ausländern sieht das Gesetz nicht vor. Nach § 29 Abs. 3 Satz 3 AufenthG wird zudem auch ein Familiennachzug zu Inhabern einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ausgeschlossen.

41 Damit die Klägerin weiterhin die mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte wahrnehmen kann und um den Regelungen des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge gerecht zu werden, ist ihr daher genauso wie einem in Deutschland anerkannter Flüchtling eine Aufenthaltserlaubnis für mindestens drei Jahre zu erteilten. Da insoweit offensichtlich eine planwidrige Regelungslücke im Gesetz besteht, sind die Vorschriften des §§ 25 Abs. 2, 26 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hierbei analog heranzuziehen. [...]