VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.02.2022 - 12 S 1084/21 - asyl.net: M30514
https://www.asyl.net/rsdb/m30514
Leitsatz:

Prozesskostenhilfe für Klage auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis rückwirkend auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung:

1. Aufgrund der Rechtsprechung des EuGH zum deklaratorischen Charakter der Flüchtlingszuerkennung liegen zumindest hinreichende Erfolgsaussichten für das klägerische Begehren vor, das auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG rückwirkend auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung gerichtet ist.

2. In der Hauptsache dürfte der Anspruch des Klägers jedoch nicht vorliegen, da das nationale Recht die Aufspaltung in ein Statusfeststellungs- und Titelerteilungsverfahren vorsieht und das Unionsrecht diesem nicht entgegensteht.

(Leitsätze der Redaktion; Entscheidung unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 12.04.2018 - C-550/16 A. und S. gg. Niederlande - Asylmagazin 5/2018, S. 176 ff. - asyl.net: M26143)

Schlagwörter: Prozesskostenhilfe, Flüchtlingsanerkennung, Aufenthaltserlaubnis, rückwirkende Erteilung, Rechtsschutzinteresse, Asylverfahrensrichtlinie, Qualifikationsrichtlinie,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 2, AsylG § 3, RL 2011/95/EU Art. 24, RL 2013/32/EU Art. 9, AsylG § 55,
Auszüge:

[...]

Nach diesen Maßstäben kann der Klage des Klägers zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife seines Prozesskostenhilfeantrags, die hier mit Eingang der vollständigen Unterlagen zum Prozesskostenhilfeantrag beim Verwaltungsgericht am 19.02.2021 vorlag (zum maßgeblichen Zeitpunkt vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.11.2021 - 12 S 3232/20 -, juris Rn. 4; Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 166 Rn. 14a; Neumann/Schaks in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 77), mit Blick auf die notwendige Prüfung des Unionsrechts eine hinreichende Erfolgsaussicht nicht abgesprochen werden.

Nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG ist einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes zuerkannt hat.

Zwar dürfte das Verwaltungsgericht in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 22.06.2011 - 1 C 5.10 -, juris Rn. 14, und vom 09.06.2009 - 1 C 7.08 -, juris Rn. 13, vgl. auch BVerwG, Urteile vom 26.10.2010 - 1 C 19.09 -, juris Rn. 13, und vom 29.09.1998 - 1 C 14.97 -, juris Rn. 15; Bayerischer VGH, Urteil vom 30.06.2021 - 19 B 20.2085 -, juris Rn. 46; Sächsisches OVG, Beschluss vom 30.03.2020 - 3 D 7/20 -, juris Rn. 8; OVG Niedersachsen, Urteil vom 08.11.2017 - 8 LB 59/17 -, juris Rn. 24) jedenfalls nach nationalem Recht zutreffend davon ausgegangen sein, dass ein Ausländer - und somit auch der Kläger - die Erteilung eines Aufenthaltstitels nur für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der Antragstellung beanspruchen kann, wenn er ein schutzwürdiges Interesse hieran hat. [...]

Des Weiteren teilt der Senat die vom Kläger monierte Ansicht des Verwaltungsgerichts, dass insoweit - jedenfalls nach nationalem Recht - nicht auf den Asylantrag des Klägers vom 16.10.2015 zurückgegriffen werden kann, weil dieser Antrag nicht zugleich einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG beinhaltete.

Für die Auffassung des Klägers, er hätte einen Anspruch auf Erteilung einer auf seinen Asylantrag zurückwirkenden Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG, könnte aber, worauf er hinweist, der 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) sprechen, wonach die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein deklaratorischer Akt ist. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Begründungserwägungen eines Gemeinschaftsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich sind und weder herangezogen werden können, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch, um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht (vgl. EuGH, Urteil vom 19.06.2014 - C-345/13 -, juris Rn. 31). Gleichwohl hat der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 12.04.2018 - C-550/16 - auch unter Hinweis auf den deklaratorischen Charakter der Flüchtlingsanerkennung (vgl. a.a.O., juris Rn. 53) ausgeführt, dass es für das Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a Richtlinie 2003/86/EG (Familienzusammenführungsrichtlinie) nicht darauf ankommen könne, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde förmlich über die Anerkennung des Betroffenen als Flüchtling entscheide. Daher habe jeder Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, der die materiellen Voraussetzungen der Richtlinie 2011/95/EU erfülle, nach der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz ein subjektives Recht auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, und zwar noch bevor hierzu eine förmliche Entscheidung ergangen ist (vgl. a.a.O., juris Rn. 54). Auch wenn sich die Ausführungen des Gerichtshofs der Europäischen Union in dem Urteil (möglicherweise spezifisch, vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26.04.2019 -, juris Rn. 6, vgl. aber auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.09.2019 - OVG 3 M 95.19 -, juris) auf die Frage des in Art. 2 Buchst. f i.V.m. Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG geregelten Nachzugs von Verwandten in gerader aufsteigender Linie zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling bezogen haben, kann eine Auswirkung der Entscheidung auf den vorliegenden Fall im Rahmen des hier vorliegenden Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht von vornherein verneint werden, auch wenn die Frage in einem Hauptsacheverfahren - wie nachfolgend dargestellt - letztlich wohl im negativen Sinne zu beantworten sein dürfte.

Dem Kläger ist zuzugeben, dass der Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU - wie der des § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG - einer auf die Asylantragstellung zurückwirkenden Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG nicht per se entgegensteht. Danach stellen die Mitgliedstaaten Personen, denen der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden ist, so bald wie möglich nach Zuerkennung des internationalen Schutzes und unbeschadet des Artikels 21 Absatz 3 einen Aufenthaltstitel aus, der mindestens drei Jahre gültig und verlängerbar sein muss, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen. Eine ausdrückliche Bestimmung, ab wann die Aufenthaltserlaubnis gültig sein soll, findet sich darin somit nicht. Dennoch und ungeachtet der deklaratorischen Natur der Anerkennung dürfte dieser aber keine umfassende Rückwirkung beizumessen sein (eine solche - jedenfalls vor Ergehen der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 12.04.2018 - verneinend: BVerwG, Urteil vom 13.02.2014 - 1 C 4.13 -, juris Rn. 15; ebenso Bauer in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, Vor § 53 Rn. 142, i.E.; Kraft in: Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3. Aufl. 2022, Chp. 20 Art. 13 Rn. 11). Es entspricht dem Regelfall, dass ein Aufenthaltstitel erst für die Zukunft Gültigkeit erlangt. Daher wäre zu erwarten gewesen, dass der Unionsgesetzgeber, wenn er einen solchen Ausnahmefall einer Rückwirkung hätte regeln wollen, diesen ausdrücklich in den Gesetzestext aufgenommen hätte. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass nach Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU der Aufenthaltstitel mindestens drei Jahre gültig sein muss, und mithin die (Mindest-)Dauer, die offensichtlich zukunftsgerichtet gemeint ist, explizit geregelt wurde. Ferner wird diese Auslegung durch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) bestätigt. Nach dessen Satz 1 dürfen Antragsteller ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag entschieden hat. Art. 9 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2013/32/EU bestimmt sodann, dass sich aus dieser Berechtigung zum Verbleib (gerade) kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel ergibt. Dem entspricht es, worauf es insoweit allerdings nicht entscheidungserheblich ankommt, dass im nationalen Recht einem Ausländer, der um Asyl nachsucht, zur Durchführung des Asylverfahrens lediglich eine Aufenthaltsgestattung (§ 55 AsylG) zu erteilen ist, nicht aber ein Aufenthaltstitel (§ 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Auf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK) kann sich der Kläger insoweit voraussichtlich ebenfalls nicht berufen, weil sich dem ein Recht auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht entnehmen lässt.

Gegen die Annahme, dass sich aus dem deklaratorischen Charakter der Flüchtlingseigenschaft ein Anspruch auf rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ergibt, spricht des Weiteren die unionsrechtlich vorgegebene Aufspaltung von Statusfeststellungs- und Titelverteilungsverfahren, die sich insbesondere in Art. 13, 18 und 24 der Richtlinie 2011/95/EU und in Art. 9 ff., 31 Richtlinie 2013/32/EU widerspiegelt (vgl. Wittmann in: GK-AufenthG, § 25 Rn. 33 <Stand 8/2021>; zum der [deklaratorischen] Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorgeschalteten Verfahren vgl. auch UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Neuauflage: UNHCR Österreich, Dezember 2003, Rn. 28 f., 189 ff.). Insoweit dürfte sich die Situation wohl mit der im Falle des Art. 16a Abs. 1 GG als vergleichbar erweisen. Zwischen dem Asylrecht und dem Verfahrensrecht besteht ebenfalls eine enge Verknüpfung. Das Asylrecht ist ein „verwaltetes Grundrecht“ und steht - wie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft - unter einem Verfahrensvorbehalt. Der politisch Verfolgte muss es erst in einem Anerkennungsverfahren zur Geltung bringen und kann es erst nach Erwirkung des Anerkennungsaktes geltend machen. Bis dahin hat er keine der materiellen Rechtslage entsprechende Rechtsposition. Er ist lediglich zur Antragstellung befugt und hat ein vorläufiges Bleiberecht (sog. Verfahrensvorbehalt; vgl. BVerwG, Urteil vom 15.12.1987 - 9 C 285/86 -, juris Rn. 25; Wittmann in: GK-AufenthG, § 25 Rn. 33 <Stand: 8/2021>; zur deklaratorischen Feststellung des Grundrechts auf Asyl, die allerdings erforderlich ist, um dem Status des Asylberechtigten - mit gleichsam konstitutiver Wirkung - Anerkennung zu verschaffen, vgl. auch Bergmann in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 55 AsylG Rn. 2, und BVerfG, Beschluss vom 20.04.1982 - 2 BvL 26/81 -, juris Rn. 141 f.; FG München, Urteil vom 25.06.2008 - 9 K 3238/06 -, juris Rn. 16). Entsprechend werden auch erst mit der förmlichen Anerkennung als Flüchtling die Rechte nach Kapitel 7 der Richtlinie 2011/95/EU zuerkannt. [...]

Nach nationalem Recht scheitert dies bereits an dem klaren Wortlaut des § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wonach einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, wenn „das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes zuerkannt hat. Das ist mit einer - wenn auch rechtskräftigen - Verpflichtung durch das Verwaltungsgericht noch nicht gegeben. Denn die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfolgt nicht durch eine die Feststellung des Bundesamts ersetzende verwaltungsgerichtliche Feststellung, die unstatthaft wäre, sondern im Wege des Verpflichtungsurteils (vgl. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG: BVerwG, Urteil vom 29.03.1996 - 9 C 116.95 -, juris Rn. 15; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27.02.2015 - OVG 7 B 29.14 -, juris Rn. 26). Darin erkennt das Verwaltungsgericht die Flüchtlingseigenschaft nicht selbst zu, sondern verpflichtet vielmehr die zuständige Behörde, einen entsprechenden feststellenden Verwaltungsakt zu erlassen. Eine dementsprechende Umsetzung ist hier erst mit Bescheid des Bundesamts vom 20.02.2018 und mithin nach dem 31.01.2017 erfolgt.

Auch aus unionsrechtlichen Gründen dürfte eine Anknüpfung an den Eintritt der Rechtskraft des Verpflichtungsurteils nicht angezeigt sein. Das Unionsrecht enthält mit Art. 4 bis 12 der Richtlinie 2011/95/EU zwar Vorschriften darüber, unter welchen Voraussetzungen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist; es überlässt jedoch den Mitgliedstaaten, welche nationale Stelle über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entscheidet (vgl. Art. 13 der Richtlinie 2011/95/EU und Art. 4 Abs. 1 Richtlinie 2013/32/EU; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Februar 2015 - OVG 7 B 29.14 -, juris Rn. 30). Nach den somit maßgeblichen nationalen Bestimmungen des Asylverfahrensgesetzes und der Verwaltungsgerichtsordnung ist vorgesehen, dass die Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch das Bundesamt getroffen wird (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 13 Abs. 1, § 3 Abs. 1 AsylG) und zwar - wie bereits dargestellt - auch dann, wenn zuvor eine stattgebende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ergangen ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27.02.2015 - OVG 7 B 29.14 -, juris Rn. 30; Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 29 AufenthG Rn. 17 f.; Wittmann in: GK-AufenthG, § 25 Rn. 36 <Stand: 8/2021>). [...]