VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 24.05.2022 - 2 A 4029/17 - asyl.net: M30731
https://www.asyl.net/rsdb/m30731
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für staatenlose palästinensische Familie hinsichtlich Libyens:

1. Staatenlose Palästinenser*innen aus Libyen unterfallen nicht dem Schutz von UNRWA, so dass eine Anerkennung als Flüchtling nicht gemäß § 3 Abs. 3 S. 1 AsylG ausgeschlossen ist. Denn Libyen als Land des gewöhnlichen Aufenthalts gehört nicht zum Operationsgebiets von UNRWA.

2. Zwar sind Palästinenser*innen in Libyen seit dem Fall Gaddafis diskriminierender Behandlung, Belästigungen und Einschüchterungen ausgesetzt, diese Handlungen erreichen jedoch nicht die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Intensität und Häufigkeit.

3. In Libyen besteht trotz volatiler Sicherheitslage keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG.

4. Eine staatenlose palästinensische Familie mit drei minderjährigen Kindern läuft Gefahr, einer Art. 3 EMRK widersprechenden, d.h. unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, weil die Sicherung des Lebensunterhalts sowie die Unterbringung schon unmittelbar nach einer Rückkehr nach Libyen nicht gewährleistet wäre.

(Leitsätze der Redaktion; Anmerkung: Das Urteil setzt sich, soweit erkennbar, nicht mit der Frage auseinander, ob und unter welchen Bedingungen staatenlosen Palästinenser*innen die Abschiebung nach Libyen angedroht werden kann)

Schlagwörter: Libyen, Palästinenser, Staatenlosigkeit, Abschiebungsandrohung, Gruppenverfolgung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, ernsthafter Schaden, erhebliche individuelle Gefahr, Familienangehörige, Sicherung des Lebensunterhalts,
Normen: AsylG § 3 Abs. 3 S. 1, AsylG § 4 Abs. 1 Nr. 3, AsylG § 3 Abs. 1, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

1. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

Die Kläger fallen auch nicht als "ipso facto"-Flüchtlinge unter den Schutz einer Organisation oder Einrichtung der Vereinten Nationen im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG (UNRWA), wonach der Schutzstatus regelmäßig ausgeschlossen wäre. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind von Art. 1 Abschn. D der Genfer Flüchtlingskonvention, auf den Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Qualifikationsrichtlinie verweist, nur diejenigen Personen erfasst, die die Hilfe des UNRWA tatsächlich in Anspruch genommen haben. [...] Die Kläger haben jedoch nicht vorgetragen und es ist auch nicht ersichtlich, dass sie dem Schutz und dem Beistand des UNRWA unterstanden haben. Dies ist auch insofern nicht möglich, als Libyen als Land des gewöhnlichen Aufenthalts nicht zum Operationsgebiet des UNRWA gehört. Zum Operationsgebiet des UNRWA zählen nur der Gazastreifen, Jordanien, Libanon, Syrien und das Westjordanland (vgl. zum Ganzen VG Berlin, Urt. v. 13.8.2020, 34 K 639.17 A, juris Rn. 18 ff.).

Die demnach zu prüfende Flüchtlingseigenschaft liegt bei den Klägern nicht vor. [...]

Nach Auswertung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel und der hierzu ergangenen aktuellen Rechtsprechung [...], der sich das Gericht anschließt, fehlt es für die Annahme einer drohenden Gruppenverfolgung an der erforderlichen Intensität und Häufigkeit von Verfolgungshandlungen gegenüber Palästinensern in Libyen, mithin an der erforderlichen Verfolgungsdichte. [...] Diese drei Quellen bestätigen nach dem Fall des Gaddafi-Regimes diskriminierende Behandlungen, Belästigungen und Einschüchterungen, zumal aufgrund des Krieges in Syrien das Land durch weitere Neuankömmlinge belastet worden sei. Syrer wie Palästinenser seien vor dem Hintergrund der Vorkommnisse von Libyen zu Sündenböcken gemacht worden. [...]

Dennoch erreichen die geschilderten Benachteiligungen nicht die für die Annahme einer Gruppenverfolgung geforderte Verfolgungsdichte. [...]

b) Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen hinsichtlich der Kläger nicht vor, d.h. die ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit von einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). [...]

Maßgeblich ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung. Nachdem in der Vergangenheit das Vorliegen eines (landesweiten) bewaffneten Konflikts mit der Gefahr nicht nur vereinzelter Ausbrüche von willkürlicher Gewalt und ernsthafter individueller Bedrohung von Zivilpersonen in Libyen zum Teil bejaht wurde (vgl. VG München, Urt. v. 16.12.2020, M 3 K 17.43871, juris Rn. 28 ff.; VG Berlin, Urt. v. 18.8.2020, 19 K 69.19 A, juris Rn. 30; a.A. VG Berlin, Urt. v. 10.7.2017, 34 K 197.16 A, juris Rn. 62; VG Bayreuth, Urt. v. 5.7.2017, B 4 K 16.31506, juris Rn. 36 ff.), ist nunmehr eine verbesserte Sicherheitslage zu würdigen. Das Gericht schließt sich der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts Bautzen im Urteil vom 6. Oktober 2021 (5 A 468/19.A, juris) an, wonach die geschilderten Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG gegenwärtig in Libyen nicht (mehr) vorliegen (a.a.O., juris Rn. 25 f.; ebenso VG Dresden, Urt. v.19.11.2021, 12 K 4319/17.A, juris; VG München, Urt. v.17.5.2021, M 3 K 17.41933, juris Rn. 21; VG Gera, Urt. v. 26.4.2021, 2 K 318/21 Ge, juris), da es nicht genügt, dass die Sicherheitslage Libyens noch als volatil zu bewerten ist (so aber VGH München, Beschl. v. 1.3.2021, 15 ZB 21.30100, juris Rn. 12; VG Wiesbaden, Urt. v. 3.12.2021, 5 K 1379/19.WI.A, juris; VG Ansbach, Urt. v. 23.4.2021, AN 10 K 17.34737, juris). [...]

4. In Bezug auf Libyen besteht für die Kläger ein Anspruch auf Feststellung des Bestehens eines Abschiebungsverbotes nach§ 60 Abs. 5 AufenthG. [...]

Für die Kläger besteht keine durch konkret handelnde Täter drohende tatsächliche Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK. Nach den genannten Grundsätzen spricht jedoch wegen der schlechten Versorgungslage in Libyen unter Beachtung der individuellen, vulnerablen Situation der Kläger als staatenlose Palästinenser eine ausreichend beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass diese bei einer Rückkehr in Libyen einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wären.  [...]

Angesichts der beschriebenen Rahmenbedingungen in Libyen ist aufgrund der besonderen individuellen Umstände der Kläger als staatenlose Palästinenser in einem großen Familienverband mit drei minderjährigen Kindern vorliegend davon auszugehen, dass die Kläger im Falle einer Abschiebung nach Libyen tatsächlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Die Lebensunterhaltssicherung einschließlich der Unterbringung wäre schon unmittelbar nach einer eventuellen Rückkehr nach Libyen nicht gewährleistet.  [...]