VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 16.02.2022 - 5 K 4651/20 - asyl.net: M30805
https://www.asyl.net/rsdb/m30805
Leitsatz:

Anspruch auf Niederlassungserlaubnis bei als Flüchtling anerkannter Person auch ohne Identitätsklärung:

1. Bei Erteilung der Niederlassungserlaubnis einer als Flüchtling anerkannten Person gemäß § 26 Abs. 3 AufenthG ist von der Identitätsklärung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 3 S. 2 AufenthG abzusehen, wenn kein begründeter Zweifel an der Identität besteht und die Vorsprache bei den Behörden des Herkunftslandes unzumutbar ist.

2. Die Vorsprache bei eritreischen Behörden ist unzumutbar, da gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG die Anerkennung als Flüchtling gefährdet würde, weil nicht auszuschließen ist, dass die Vorsprache ein Verfolgungsrisiko für den Kläger und in Eritrea lebende Angehörige bedeutet und weil nicht verlangt werden kann, eine Reueerklärung gegenüber den eritreischen Behörden abzugeben.

(Leitsätze der Redaktion; zur Frage der Unzumutbarkeit der Passbeschaffung bei subsidiär Schutzberechtigten siehe: VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25.06.2021 - 11 A 38/20 - asyl.net: M29914; OVG Niedersachsen, Urteil vom 18.03.2021 - 8 LB 97/20 (Asylmagazin 9/2021, S. 346 ff.) - asyl.net: M29586)

Schlagwörter: Eritrea, Flüchtlingsanerkennung, Niederlassungserlaubnis, Identitätsnachweis, Botschaftsvorsprache, Passbeschaffung, Pass, Identitätsklärung,
Normen: AufenthG § 26 Abs. 3, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1a, AufenthG § 5 Abs. 3 S. 2, AsylG § 72 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

20,21 Er hat einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 3 AufenthG.

22 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 26 Abs. 3 AufenthG liegen - was die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung nochmals bestätigt haben - unstreitig vor. [...]

23 Auch von der danach noch allein streitigen Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG hat der Beklagte im hier zu beurteilenden konkreten Fall abzusehen.

24 Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass die Identität und die Staatsangehörigkeit des Ausländers geklärt sind. [...]

25 Hieran gemessen ist die Identität des Klägers nicht vollständig zweifelsfrei geklärt. Er besitzt weder einen Pass noch ist der vorhandene Reiseausweis für Flüchtlinge in seinem Fall geeignet, seine Identität nachzuweisen, da dieser über den Vermerk verfügt, dass die Personalien auf eigenen Angaben beruhen.

26 Nach § 5 Abs. 3 S. 2 AufenthG kann die Behörde in den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 - hierunter fällt auch die Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG - von der Anwendung des § 5 Abs. 1 AufenthG im Rahmen einer Ermessensentscheidung absehen. Dieses Ermessen ist im Falle des Klägers ausnahmsweise auf Null reduziert, so dass dieser einen Anspruch auf Absehen von der Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG und damit einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Niederlassungserlaubnis besitzt. [...]

29 Der Abwägungsspielraum im hier zu beurteilenden Einzelfall verdichtet sich unter Berücksichtigung der konkret-individuellen Umstände des Klägers dergestalt, dass als rechtmäßige Entscheidung ausschließlich das Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG in Betracht kommt. Der Beklagte durfte den Kläger nicht darauf verweisen, bei der eritreischen Auslandsvertretung vorstellig zu werden und einen nationalen Pass zum Nachweis seiner Identität zu beantragen, um eine Niederlassungserlaubnis erhalten zu können, denn die Kontaktaufnahme zu seinem Verfolgerstaat ist ihm für die von der Ausländerbehörde verfolgten Zwecke nicht zumutbar (zu vergleichbaren Zumutbarkeitserwägungen im Kontext des Tatbestands von § 5 Abs. 1 AufenthV: OVG Niedersachsen, Urteil vom 18.03.2021 - 8 LB 97/20 -, juris; BayVGH, Urteil vom 25.11.2021 - 19 B 21.1789 -, juris).

30 Es besteht zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung allenfalls noch ein formaler Restzweifel an der Identität des Klägers, der sich allein daraus ableitet, dass kein Passdokument (mit Lichtbild oder biometrischen Merkmalen) die Übereinstimmung der vorliegenden personenbezogenen Daten mit der Person des Klägers explizit nachweist. [...]

31 Demgegenüber findet die Mitwirkungspflicht des Ausländers zur Klärung seiner Identität ihre Grenzen in der objektiven Möglichkeit und der subjektiven Zumutbarkeit (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 23.09.2020 - 1 C 36.19 -, juris, zum Nachweis der Identität eines Einbürgerungsbewerbers; vgl. im Übrigen orientierend die Regelung § 5 Abs. 1 AufenthV). Beim Kläger handelt es sich um einen anerkannten Flüchtling im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG. [...]

32 Die Aufforderung der Ausländerbehörde, sich zur Passbeschaffung in den Einfluss- und Machtbereich desjenigen Staates zu begeben, dessen Verfolgung der Kläger fürchtet, widerspricht der Schutzfunktion der ihm zuerkannten Flüchtlingseigenschaft und ist bereits deshalb für die mit der Maßnahme verfolgten Zwecke nicht zumutbar (vgl. allgemein hierzu Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 15 AsylG Rn. 11). Nicht zuletzt kommt dies auch darin zum Ausdruck, dass er durch die Entgegennahme eines Nationalpasses womöglich seinen Flüchtlingsstatus als solchen nachhaltig gefährden würde. [...]

34 Darüber hinaus ist die Passbeantragung bei der eritreischen Auslandsvertretung mit einem jedenfalls nicht gänzlich auszuschließenden Risiko für Leib, Leben und Freiheit des Klägers und seiner Angehörigen in Eritrea verbunden. [...]

37 Nicht zuletzt fällt für die vorzunehmende Zumutbarkeitsabwägung ins Gewicht, dass der Kläger bei einer Vorsprache bei der Auslandsvertretung Eritreas konsularische Dienstleistungen nur gegen Abgabe einer Aufbausteuer und einer sog. Reueerklärung erhalten kann. Jedenfalls die Abgabe dieser Reueerklärung stellt in seinem Fall eine Grundrechtsbeeinträchtigung dar, die ihm für die hier von der Ausländerbehörde verfolgten Zwecke nicht zumutbar ist. [...]