VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 07.11.2022 - A 8 K 3735/2018 - asyl.net: M31311
https://www.asyl.net/rsdb/m31311
Leitsatz:

Schutz von Bidoun aus den Vereinigten Arabischen Emiraten vor Abschiebung auf die Komoren:

Bidoun aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, die über einen komorischen Reisepass verfügen, droht auf den Komoren eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Vereinigte Arabische Emirate, Bidoun, Bidun, Staatenlose, Staatenlosigkeit, Komoren, Bürgerrechte,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

2 Der am … 1978 in S. (Vereinigte Arabische Emirate) geborene Kläger zu 1., die am … 1981 in S. (Vereinigte Arabische Emirate) geborene Kläger zu 2. und der am … 2009 geborene Kläger zu 3. haben einen Reisepass der Union der Komoren. Sie sind eigenen Angaben arabischer Volkszugehörigkeit und staatenlose Bidoun. [...]

3 Der Kläger zu 1. führte im Rahmen seiner Anhörung gemäß § 25 AsylG beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 3. April 2017 in Karlsruhe maßgeblich aus, dass er staatenloser Bidoun sei. Er habe einen Reisepass der Union der Komoren und Geburtsurkunden. [...] Sein Reisepass sei vom Innenministerium der Vereinigten Arabischen Emirate ausgestellt worden. Diesen Reisepass hätten sie nicht freiwillig beantragt. Sie seien gezwungen worden. [...]

27 2. Die Kläger haben indes einen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK in Bezug auf die Komoren.

28 Ein solches Abschiebungsverbot besteht aufgrund durch die Kläger zu erwartenden schlechten humanitären Verhältnissen auf den Komoren. Die rechtlichen Voraussetzungen (nachfolgend a. sind erfüllt b.). [...]

34 b. Nach diesen Maßstäben sind die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK bei den Klägern unter dem Blickwinkel der humanitären Verhältnisse auf den Komoren als Zielstaat der Abschiebung erfüllt. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob vorliegend ein hierfür verantwortlicher Akteur feststellbar ist. Denn es liegen im zu entscheidenden Einzelfall ganz außerordentliche individuelle Umstände vor, die Gefahren für Leib und Leben aufgrund prekärer Lebensbedingungen begründen würden. Es ist davon auszugehen, dass Personen in der Situation der Kläger unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls in der Gesellschaft der Komoren angesichts der dort herrschenden Lebensbedingungen und in Ansehung ihrer persönlichen Situation grundsätzlich einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wären.

35 Dies folgt daraus, dass die Kläger über keinerlei Beziehungen zu den Komoren verfügen, sondern nach ihren Angaben beim Bundesamt, wie auch in der mündlichen Verhandlung, die der Berichterstatter im Übrigen als glaubhaft ansieht, aus den Vereinigten Arabischen Emiraten stammen. Die Kläger haben dort als staatenlose Bidoun gelebt. Durch ihren Status als Staatenlose haben die Bidun dort keinen Zugang zu staatlichen Dienstleistungen wie Ausstellung einer Geburtsurkunde oder Eheurkunde, [...] Bildung und Gesundheitsfürsorge, auch bleibt ihnen der Zugang zu bestimmten Sektoren des Arbeitsmarkts verwehrt. Daneben ist die Bewegungsfreiheit im Inland sowie Auslandsreisen nur eingeschränkt möglich. Berichten zufolge wurde es für Bidun in den letzten Jahren zunehmend schwerer, offizielle Dokumente und Dienstleistungen zu erhalten [...].

36 Die Vereinigten Arabischen Emirate schlossen 2008 eine zunächst geheime Vereinbarung mit den Komoren - einem politisch äußerst volatilen Inselstaat im Indischen Ozean - ab. Diese basiert auf dem 2008 von den Komoren verabschiedeten "economic citizenship"- Gesetzesplänen, die eine Einbürgerung als Gegenleistung für eine finanzielle Investition erlauben sollten [...]. Die Vereinigten Arabischen Emirate sollen von dieser Regelung Gebrauch gemacht haben. So berichtet die Studie "Citizenship Law in Africa" der Open Society Foundation unter Berufung auf weitere Quellen von einer Zahlung der Vereinigten Arabischen Emirate von 200 Mio. $ an die Komoren als Gegenleistung für die Naturalisierung von Bidun [...]. Laut dem komorischen Gesetzgeber können Bidun aus dem "economic citizenship"-Pass keinerlei Rechte ableiten. Dies gilt für Bürgerrechte genauso wie für einen Wohnsitz auf den Komoren [...].

37 Ausgehend hiervon gelangte der Berichterstatter zu der Überzeugung, dass im Falle der Kläger nach den o.g. Maßstäben ein ganz außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung im Sinne von Art. 3 EMRK zwingend entgegenstehen. [...] Nachdem aus den zitierten Erkenntnismitteln folgt, dass staatenlose Bidun aus dem komorischen Pass keinerlei Rechte herleiten können und dies insbesondere auch für einen Wohnsitz auf den Komoren gilt, ist für den Berichterstatter nicht erkennbar, wie die Kläger dort ihren Lebensunterhalt sicherstellen wollen. Vielmehr diente das Abkommen zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten und den Komoren dazu, den ehemaligen staatenlosen Bidun einen legalen Aufenthalt in den Emiraten zu ermöglichen [...]. Allein auf diesen Umstand ist es zurückzuführen, dass die Kläger überhaupt entsprechende Reisepässe erhalten haben. Möglichkeiten auf den Komoren auch nur einen Wohnsitz zu nehmen, sollten dagegen nicht bestehen. Die Kläger verfügen auf den Komoren weiterhin auch über keinerlei familiäre Bindungen oder ein sonstiges Netzwerk, auf das sie zwecks Unterstützung zurückgreifen könnten. Nachdem die Kläger auf den Komoren auch keinerlei Bürgerrechte geltend machen können, ist nicht erkennbar, wie sie sich in einem für sie völlig fremden Land eine Existenz aufbauen könnten. [...]