OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.10.2023 - OVG 11 B 19/20 - asyl.net: M31996
https://www.asyl.net/rsdb/m31996
Leitsatz:

Keine Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger wegen wiederholter leichter Kriminalität:

"1. Eine schwerwiegende Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 3 AufenthG berührt ein Grundinteresse der Gesellschaft, wenn dem Ausweisungsanlass ein besonderes Gewicht zukommt, dass sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergibt. Dabei muss ein wichtiges Schutzgut gefährdet sein.

2. Die Begehung – auch wiederholter – leichter Kriminalität ohne schwerwiegende Rechtsgutsverletzungen rechtfertigt eine Ausweisung Assoziationsberechtigter grundsätzlich nicht.

3. Die Begehung von Eigentums- und Vermögensdelikten kann ein Grundinteresse der Gesellschaft insbesondere berühren, wenn beträchtliche Schäden für eine Vielzahl von Personen drohen, die Taten gewerbsmäßig begangen werden oder sonstige erschwerende Umstände vorliegen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, faktischer Inländer, Assoziationsberechtigte, türkische Staatsangehörige, besonderer Ausweisungsschutz, Ausweisungsinteresse, Beschaffungskriminalität, Eigentumsdelikte, Opiatabhängigkeit, Heroin,
Normen: AufenthG § 53 Abs. 3, AufenthG § 53 Abs. 1, ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1, AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1a, AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 1, AufenthG § 55 Abs. 1 Nr. 1, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG liegen hier nicht vor. Die Klägerin gehört zu einer rechtlich privilegierten Personengruppe (a). Zwar begründet ihr persönliches Verhalten teilweise gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (b). Soweit diese Gefahr reicht, berührt sie jedoch kein Grundinteresse der Gesellschaft (c). Überdies ist die Ausweisung nicht unerlässlich (d).

a) Die Klägerin fällt unter den besonderen Ausweisungsschutz des § 53 Abs. 3 AufenthG. Unstreitig hat sie über ihren Vater Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben. Sie wurde im Bundesgebiet als Tochter  eines nach Deutschland eingewanderten türkischen Arbeitnehmers geboren, ist hier aufgewachsen und erfüllt jedenfalls die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80, nachdem ihr Vater, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger war und bei dem sie in den Jahren 1981 bis 1983 bei rechtmäßigem Aufenthalt im Bundesgebiet durchgängig ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz hatte, jedenfalls in diesem Zeitraum in einem ununterbrochenen unselbständigen Beschäftigungsverhältnis stand. Dass sie nicht zu ihrem Vater gezogen, sondern in Deutschland geboren ist, ist unbeachtlich [...].

b) Das persönliche Verhalten der Klägerin stellt teilweise gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar.

Die nach dem Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG erforderliche Feststellung, dass der Aufenthalt eines Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, bedarf einer Prognose zur Wiederholungsgefahr. Die Prognose ist von den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten eigenständig zu treffen, ohne dass diese an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind. Bei der Prognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe einer verhängten Strafe, die Schwere einer konkret begangenen Straftat und die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Hierfür gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen. [...].

Nach § 53 Abs. 3 AufenthG sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts erhöhte Anforderungen zu stellen. Neue Verfehlungen des Ausländers müssen ernsthaft und konkret drohen. [...].

aa) Gemessen daran begegnet es keinen Zweifeln, dass aufgrund des Verhaltens der Klägerin in der Vergangenheit gegenwärtig eine ernsthafte und konkrete Wiederholungsgefahr mit Blick auf von ihr nach Haftentlassung zu erwartende Diebstähle, insbesondere Ladendiebstähle, besteht. Sie ist diesbezüglich in den Jahren 2003 bis 2022 in insgesamt 31 Fällen strafrechtlich verurteilt worden, davon in zehn Fällen noch bevor ihr der Beklagte im Jahre 2010 eine Niederlassungserlaubnis erteilt hat. Die Diebstähle dienten nach den strafgerichtlichen Feststellungen in den meisten Fällen dem Endziel der Beschaffung von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum bei chronischer Betäubungsmittelabhängigkeit. [...]

bb) Keine ernsthafte und konkrete Wiederholungsgefahr besteht gegenwärtig im Hinblick auf Geldfälschung und Betrug. Zwar erlangte die Klägerin nach den Feststellungen des Strafgerichts im Januar 2017 eine gefälschte 50,00-Euro-Banknote und brachte diese als echt in Verkehr, wodurch sie zugleich den Straftatbestand des versuchten Betruges verwirklichte (Amtsgericht ..., Urteil vom ... 2018 – ... – Urteilsabschrift, S. 4 f.). Es handelt sich beim Schutz der Sicherheit und Zuverlässigkeit des Zahlungsverkehrs und beim Vertrauen in diesen (vgl. zum Schutzgut der Geldwäsche Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., § 146 Rn. 1) auch um ein hohes Schutzgut. Hat die Klägerin dadurch auch ein Verbrechen begangen, liegt jedoch nur eine einmalige Verfehlung gegen dieses Schutzgut vor, die mehr als sechs Jahre zurückliegt, nur eine einzelne gefälschte Banknote im Nennwert von 50,00 Euro betraf, nicht zu einem Schaden führte und mit einer am untersten Rand des Strafrahmens angesiedelten Freiheitsstrafe (ein Jahr und einen Monat) in die Gesamtstrafenbildung eingestellt wurde. [...]

cc) Soweit die Klägerin darüber hinaus wegen Erschleichens von Leistungen (14 Fälle), unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (ein Fall), Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (ein Fall), Beleidigung (zwei Fälle), Nötigung (ein Fall) und fahrlässigen Vollrausches (ein Fall) verurteilt worden ist, kommt es auf eine ernsthafte und konkrete Wiederholungsgefahr schon deshalb nicht an, weil diese Taten die qualifizierten Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG an eine schwerwiegende Gefahr, die die Grundinteressen der Gesellschaft berührt, von vornherein nicht erfüllen (dazu sogleich). [...]

c) Soweit die Wiederholungsgefahr reicht, berührt sie kein Grundinteresse der Gesellschaft.

Die Gefahr berührt ein Grundinteresse der Gesellschaft, wenn dem Ausweisungsanlass ein besonderes Gewicht zukommt, dass sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergibt. Dabei muss ein wichtiges Schutzgut gefährdet sein [...]. Die vom Gerichtshof der Europäischen Union geforderte gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 – C-371/08 – juris, Rn. 80, 82) rechtfertigt eine Ausweisung wegen – auch wiederholter – leichter Kriminalität ohne schwerwiegende Rechtsgutsverletzungen grundsätzlich nicht [...]. Die Begehung von Eigentums- und Vermögensdelikten kann ein Grundinteresse der Gesellschaft insbesondere berühren, wenn beträchtliche Schäden für eine Vielzahl von Personen drohen, die Taten gewerbsmäßig begangen werden oder sonstige erschwerende Umstände vorliegen [...].

aa) Gemessen an diesem Maßstab berührt die Gefahr der erneuten Begehung von (Laden-)Diebstählen kein Grundinteresse der Gesellschaft.

(1.) Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts und des Beklagten liegt bereits kein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vor. Dies wäre gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. d AufenthG der Fall, wenn die Klägerin rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Eigentum, sofern das Gesetz für die Straftat eine im Mindestmaß erhöhte Freiheitsstrafe vorsieht oder die Straftaten serienmäßig begangen wurden, verurteilt worden wäre. [...]

Diese Voraussetzungen sind mit Blick auf die von der Klägerin verübten Diebstahltaten nicht erfüllt. Es kommt entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts und des Beklagten nicht darauf an, ob der durch das Amtsgericht ... mit Urteil vom ... 2017 (Az.: ...) abgeurteilte Diebstahl in sieben Fällen und der mit Urteil vom ... 2018 (Az.: ...) abgeurteilte Diebstahl in drei Fällen serienmäßig begangen wurden. Denn jedenfalls wurde die Klägerin in keinem dieser Urteile wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Eigentum zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt. [...]

(2.) Zwar liegt mit Blick auf die hier relevanten Diebstahltaten ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG vor, da die Klägerin jedenfalls dreimal wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden ist. Dieses Interesse allein rechtfertigt eine Ausweisung jedoch im vorliegenden Fall nicht.

Der Senat verkennt nicht, dass die von Eigentums- und Vermögensdelikten ausgehenden Gefahren schwerwiegend sein und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren können. Die von der Klägerin begangenen Diebstähle stellen ohne Zweifel Unrecht dar, verletzen strafbewehrte gesellschaftliche Verhaltensregeln und sind deshalb zu missbilligen. Unter Berücksichtigung der konkreten Tatumstände, der Art und Schwere der Rechtsgutsverletzungen und der Höhe der verhängten Strafen erreichen sie jedoch nicht ein solches Gewicht, dass sie eine Ausweisung der assoziationsberechtigten Klägerin rechtfertigen. [...]

Namentlich die von dem Beklagten zum Anlass seines Bescheides genommenen Diebstahltaten ab dem Jahr 2017 rechtfertigen eine Ausweisung nicht: [...]

Bei all diesen Taten sind weder beträchtliche Schäden für eine Vielzahl von Personen entstanden noch sind sonstige erschwerende Umstände erkennbar. Der Senat hat auch nicht die Überzeugung gewonnen, dass die Taten der Klägerin gewerbsmäßig begangen worden wären. [...]

bb) Ohne dass es darauf mangels Wiederholungsgefahr noch ankäme, rechtfertigte auch das mit der einmaligen Verurteilung wegen Geldfälschung einhergehende schwerwiegende Ausweisungsinteresse – auch kumulativ – keine Ausweisung der Klägerin, berührte nämlich in der konkret verübten Weise mit Blick auf Schwere und Häufigkeit offensichtlich nicht das Grundinteresse der Gesellschaft.

cc) Im Hinblick auf Art, Schwere und Häufigkeit der gegen andere Rechtsgüter gerichteten Straftaten gilt Ähnliches, insbesondere für die früheren Verurteilungen wegen Erschleichens von Leistungen (14 Fälle, überwiegend Geldstrafen), unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (ein Fall, drei Monate Freiheitsstrafe), Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte (ein Fall, Geldstrafe), Beleidigung (zwei Fälle, Geldstrafen), Nötigung (ein Fall, Geldstrafe) und fahrlässigen Vollrausches (ein Fall, sechs Monate eingestellt in eine Gesamtstrafe von neun Monaten Freiheitsstrafe). Diese überwiegend der Bagatellkriminalität, jedenfalls weit überwiegend der leichten Kriminalität zuzuordnenden, länger bis weit zurückliegenden und teilweise schon vor Erteilung der Niederlassungserlaubnis abgeurteilten Straftaten rechtfertigen – auch kumulativ mit den zuvor angesprochenen Straftaten – eine Ausweisung der assoziationsberechtigten Klägerin nicht.

d) Die Ausweisung der Klägerin ist überdies nicht unerlässlich.

Die Ausweisung eines Ausländers, der den größten Teil oder gar die Gesamtheit seiner Kindheit und Jugend rechtmäßig im Aufenthaltsstaat verbracht hat, bedarf nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit Blick auf das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK sehr gewichtiger Gründe. [...]

Gemessen daran erweist sich die Ausweisung der assoziationsberechtigten Klägerin vorliegend als unverhältnismäßig.

Dem (lediglich) schwerwiegenden Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG steht ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber, weil die Klägerin Inhaberin einer Niederlassungserlaubnis ist. Hinreichende Umstände, die im Rahmen der Abwägung gleichwohl für eine Ausweisung streiten könnten, sind weder dargelegt noch ersichtlich.

Die Klägerin hat nie im Land ihrer Staatsangehörigkeit gelebt und sich dort nur im Rahmen von wenigen Reisen kurzzeitig aufgehalten. Sie hat dort nach ihrem Vortrag auch keinerlei familiäre und sonstige soziale Anknüpfungspunkte. Zwar kann aufgrund ihrer Angaben in der Klageschrift, aber auch aufgrund des Vortrags im Übrigen – worauf der Beklagte zutreffend hinweist – mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Klägerin im familiären Umfeld zumindest bis zu ihrem 12. Lebensjahr (auch) Kurdisch gesprochen hat und zumindest Grundkenntnisse verblieben sind. Es gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin in relevantem Ausmaß der türkischen Sprache mächtig ist. Wesentliche Bindungen an die Türkei sind danach kaum feststellbar. Unter besonderer Berücksichtigung ihrer voraussichtlich dauerhaft substitutionspflichtigen und therapiebedürftigen Betäubungsmittelabhängigkeit kann bei dieser Sachlage derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin in der Türkei ohne jede familiäre Anbindung und damit voraussichtlich auf sich allein gestellt in hinreichendem Maße in der Lage wäre, sozial, familiär und wirtschaftlich Fuß zu fassen und für ihre Gesundheit zu sorgen, insbesondere erfolgreich die erforderliche Betäubungsmitteltherapie anzugehen.

Demgegenüber ist die Klägerin in Deutschland geboren und hat ihr ganzes Leben hier gelebt. In Deutschland lebt weiterhin ihr einzig verbliebener Elternteil, ihre Mutter, sowie alle ihrer sechs Geschwister. Entgegen der Annahme des Beklagten steht sie zu ihrer Familie auch in Kontakt.[...]