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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 15.12.2020 - XIII ZB 123/19 - asyl.net: M29383
https://www.asyl.net/rsdb/m29383
Leitsatz:

Haftgericht muss den Willen nach anwaltlichem Beistand klären:

"Erklärt der Betroffene bei der Anhörung, sich ohne Anwalt nicht oder nicht weiter äußern zu wollen, darf der Haftrichter eine Freiheitsentziehung nicht anordnen, ohne zu klären, ob der Betroffene damit - unabhängig von den Voraussetzungen einer Beiordnung im Wege der Verfahrenskostenhilfe - sein Recht auf Hinzuziehung anwaltlichen Beistands geltend machen will. Er muss deshalb den Betroffenen fragen, ob ein Anwalt kontaktiert werden soll, oder ihm hierzu Gelegenheit geben. Unterbleibt eine solche Klärung des Willens des Betroffenen, ist zu vermuten, dass dem Betroffenen der Zugang zu einem Anwalt verwehrt wurde."

(Amtliche Leitsätze)

Siehe auch:

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Überstellungshaft, Rechtsanwalt, Prozessbevollmächtigte, Verfahrenskostenhilfe, Haftanhörung, Anhörung,
Normen: GG Art. 104 Abs. 1, EMRK Art. 6 Abs. 1 S. 1, EMRK Art. 6 Abs. 3 Bst. c, AufenthG § 62 Abs. 1
Auszüge:

[...]

5 1. Das Beschwerdegericht ist der Ansicht, das Amtsgericht habe zu Recht Abschiebungshaft bis 13. August 2019 angeordnet. Der Haftantrag sei zulässig. Selbst wenn man die Aussage der Betroffenen bei ihrer Anhörung beim Amtsgericht, sie sage ohne Anwalt nichts mehr, als Frage nach einem Anwalt auslege, führe dies nicht zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung, da Verfahrenskostenhilfe im Zeitpunkt der Antragstellung nicht zu bewilligen gewesen wäre. Die Rechtsverteidigung der Betroffenen habe keine Aussicht auf Erfolg geboten. Es lasse sich zudem nicht feststellen, dass die Betroffene in der Lage gewesen wäre, einen Wahlanwalt zu finden, der bereit gewesen wäre, an der Anhörung teilzunehmen.

6 2. Die Verfahrensweise des Amtsgerichts hat die Betroffene in ihrem Recht auf ein faires Verfahren verletzt.

7 a) Die Betroffene erklärte bei der Anhörung am 2. Juli 2019, sie sage ohne Anwalt nichts mehr und gebe auch ihre Personalien nicht an. Weder aus der Gerichtsakte noch aus der Ausländerakte ist ersichtlich, dass die Betroffene vor der Einlegung der Beschwerde durch einen Rechtsanwalt vertreten worden war. Eine Nachfrage des Amtsgerichts bei der Betroffenen, ob ein Anwalt und gegebenenfalls welcher zur Anhörung hinzugezogen werden solle, ist nicht protokolliert.

8 b) Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert jedem Betroffenen das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Juli 2014 - V ZB 32/14, InfAuslR 2014, 442 Rn. 8, und vom 12. November 2019 - XIII ZB 34/19, juris Rn. 7). Dieses Recht hat das Amtsgericht durch seine Verfahrensgestaltung verletzt. [...]

11 (1) Die Erklärung der Betroffenen war nicht eindeutig. Die Äußerung, dass sie ohne Anwalt nichts sage, durfte nicht ohne weitere Klärung ihres Willens (lediglich) als Verfahrenskostenhilfeantrag verstanden werden. Denn der Erklärung war nicht zu entnehmen, worauf auch die Rechtsbeschwerde hinweist, dass die Betroffene auf ihr Recht, einen Anwalt zur Anhörung hinzuzuziehen, zu verzichten bereit war, wenn ihr keine Verfahrenskostenhilfe gewährt werde (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2016 - V ZB 140/15, InfAuslR 2016, 381 Rn. 7).

12 (2) Der Haftrichter hätte die Betroffene daher fragen müssen, ob ein Anwalt kontaktiert werden solle, oder ihr hierzu Gelegenheit geben müssen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Mai 2016 - V ZB 140/15, InfAuslR 2016, 381 Rn. 7, und vom 25. August 2020 - XIII ZB 99/19, juris Rn. 11). Hätte die Betroffene hierauf einen Anwalt benannt, hätte dieser zum Termin hinzugezogen werden müssen. Wäre dies nicht möglich gewesen, hätte das Amtsgericht die Haft nicht endgültig, sondern nur im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig (§ 427 FamFG) anordnen dürfen (BGH, Beschluss vom 7. April 2020 - XIII ZB 84/19, juris Rn. 10).

13 (3) Nachdem das Amtsgericht den Willen der Betroffenen nicht aufgeklärt hat und daher offengeblieben ist, ob die Betroffene einen Anwalt zu ihrer Anhörung hinzuziehen wollte, ist zur wirksamen Sicherung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts auf ein faires Verfahren zu vermuten, dass der Betroffenen der Zugang zu einem Anwalt verwehrt wurde. [...]

14 cc) Die Anhörung der Betroffenen leidet damit an einem schwerwiegenden Verfahrensfehler, der nicht nur den ordnungsgemäßen Ablauf der Anhörung, sondern deren Grundlagen betrifft (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Februar 2016 - V ZB 23/15, InfAuslR 2016, 235 Rn. 26 mwN). Eine Heilung des Verfahrensfehlers, die mit Wirkung für die Zukunft möglich gewesen wäre, ist durch das Beschwerdegericht nicht erfolgt. Sie hätte eine Nachholung der Anhörung der Betroffenen vorausgesetzt (vgl. BGH, Beschluss vom 7. April 2020 - XIII ZB 84/19, juris Rn. 13), die das Beschwerdegericht unterlassen hat. [...]