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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 16.04.2021 - 2 BvR 2470/17 (Asylmagazin 12/2022, S. 415 f.) - asyl.net: M29631
https://www.asyl.net/rsdb/m29631
Leitsatz:

Effektiver Rechtsschutz hinsichtlich behördlicher Ingewahrsamnahme:

1. Eine der Abschiebungshaft vorgelagerte behördliche Ingewahrsamnahme stellt als Freiheitsentzug gemäß Art. 104 Abs. 2 GG einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff dar, so dass nach deren Erledigung ein Rechtsschutzinteresse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit besteht.

2. Die Annahme, dass die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer behördlichen Ingewahrsamnahme nur in Betracht komme, wenn vor der Erledigung dieser Ingewahrsamnahme Beschwerde gemäß § 58 FamFG eingelegt worden sei, stellt einen offensichtlichen Verstoß gegen den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG dar. 

3. Dass die Feststellung über die Rechtmäßigkeit der behördlichen Ingewahrsamnahme Gegenstand der Entscheidung des Amtsgerichts über den Haftantrag gemäß § 428 Abs. 1 FamFG sei und nicht im Wege einer isolierten Feststellung beantragt werden könne, widerspricht der ganz überwiegenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Haftbeschluss, Rechtswidrigkeit, Unverzüglichkeit, Ingewahrsamnahme, effektiver Rechtsschutz, Rechtsschutzinteresse, Feststellungsklage, Feststellungsinteresse, isolierter Feststellungsantrag, behördliche Ingewahrsamnahme,
Normen: GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 104 Abs. 2, FamFG § 58 Abs. 2, FamFG § 428 Abs. 2, FamFG § 428 Abs. 1, AufenthG § 62 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

12 Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie sich gegen den Beschluss des Landgerichts richtet, zulässig und begründet. Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

13 1. a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet einen möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des Einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 8, 274 <326>; 67, 43 <58>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231>). Danach besteht nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern der Bürger hat einen Anspruch auf tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 37, 150 <153>; stRspr).

14 b) Mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, ist es grundsätzlich vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem vorhandenen und fortbestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig zu machen (vgl. BVerfGE 96, 27 <39 f.>). Es ist ein allgemein anerkanntes Rechtsprinzip, dass jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt (vgl. BVerfGE 61, 126 <135>). Ein Rechtsschutzinteresse ist zu bejahen, solange der Rechtsuchende gegenwärtig betroffen ist und mit seinem Rechtsmittel ein konkretes praktisches Ziel erreichen kann. Danach ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn die Fachgerichte bei Erledigung des Verfahrensgegenstandes einen Fortfall des Rechtsschutzinteresses annehmen. [...]

15 In Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe ist ein Rechtsschutzinteresse allerdings trotz Erledigung grundsätzlich gegeben. [...]

18 2. Diesen Anforderungen genügt die angegriffene Entscheidung des Landgerichts nicht.

19 a) Der Rechtsschutzantrag des Beschwerdeführers betrifft einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff. Ebenso wie die Abschiebungshaft selbst geht auch die ihr vorgelagerte behördliche Ingewahrsamnahme nach § 62 Abs. 5 AufenthG mit einem Freiheitsentzug im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG einher. [...]

20 b) Es besteht daher grundsätzlich ein Rechtsschutzinteresse an der Klärung der Rechtmäßigkeit auch nach Erledigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme. Diesem Rechtsschutzinteresse trägt § 62 FamFG ausdrücklich Rechnung, wenn sich nach Einlegung der Beschwerde gegen eine richterliche Anordnung gemäß § 58 FamFG die Maßnahme vor der Entscheidung über diese Beschwerde erledigt hat. [...]

24 aa) Soweit das Landgericht am Wortlaut der §§ 58, 62 FamFG orientiert der Auffassung sein sollte, die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer behördlichen Ingewahrsamnahme komme nur in Betracht, wenn noch vor der Erledigung dieser Ingewahrsamnahme Beschwerde gemäß § 58 FamFG eingelegt worden sei, läge darin ein offensichtlicher Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Da bei behördlicher Freiheitsentziehung gemäß § 428 Abs. 1 FamFG unverzüglich die Behörde selbst eine richterliche Entscheidung herbeizuführen hat, die bis zum Ablauf des folgenden Tages eine richterliche Anordnung zur Folge haben muss, käme für eine vom Betroffenen zu erhebende Beschwerde nur ein sehr kurzer Zeitraum in Betracht. Dass dies dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nicht genügt, ist in der Rechtsprechung anerkannt [...].

25 bb) Sollte das Landgericht mit dem Verweis auf das Rechtsmittel der Beschwerde zum Ausdruck bringen wollen, dass die in § 428 Abs. 2 FamFG geregelte Anfechtung einer behördlichen Freiheitsentziehung zwar im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Kommentarliteratur zu § 62 FamFG auch nach Erledigung eingelegt werden kann, aber dessen ungeachtet als Beschwerde gemäß § 58 FamFG zu erfolgen habe, wäre dies zwar ungewöhnlich. Denn allgemein wird ein form- und fristloser Feststellungsantrag als statthaft angesehen [...]. Darin liegt zwar noch keine Verletzung der Garantie effektiven Rechtsschutzes. Sie ergibt sich jedoch daraus, dass bei dieser Rechtsauffassung die Entscheidung des Amtsgerichts über den Antrag des Beschwerdeführers vom 4. Mai 2017 im Rahmen der hiergegen vorgesehenen Beschwerde einer Sachprüfung durch das Landgericht nicht zugänglich ist. [...]

27 Diese Rechtsauffassung zugrunde gelegt, verletzt das Landgericht das Gebot  effektiven Rechtsschutzes dadurch, dass es den Feststellungsantrag vom 4. Mai 2017 nicht seiner Rechtsauffassung entsprechend als Beschwerde gegen die behördliche Ingewahrsamnahme wertet. Zwar hat das Amtsgericht - im Einklang mit der ganz überwiegenden Meinung - den Antrag nicht als Beschwerde, sondern als "isolierten" Feststellungsantrag beschieden. Wenn das Landgericht dies aufgrund einer anderen Rechtsauffassung für fehlerhaft gehalten haben sollte, folgt daraus jedoch nicht die Unzulässigkeit des Antrags mangels Rechtsschutzinteresse.

28 cc) Sollte schließlich das Landgericht mit dem Verweis auf die spezielle Rechtsschutzmöglichkeit die Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 5. April 2017 meinen, verstellt es sich ebenfalls die im Rahmen der Beschwerde an sich gebotene Sachprüfung. [...]