VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 10.12.2019 - 4 A 66/18 - asyl.net: M27965
https://www.asyl.net/rsdb/M27965
Leitsatz:

Abschiebungsverbot wegen fehlender Therapiemöglichkeiten bei Autismus in Russland:

1. Eine schwerwiegende und dauerhafte Entwicklungsstörung mit komplexem Krankheitsbild, die eine umfassende therapeutische Behandlung erfordert, ist in der Russischen Föderation nicht ausreichend behandelbar.

2. Eine medizinische Versorgung auf einfachem Niveau ist zwar in der Russischen Föderation erreichbar, dies ist jedoch im Einzelfall zur Abwendung einer wesentlichen Verschlechterung der Erkrankungen nicht ausreichend.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Autismus, Russische Föderation, Abschiebungsverbot, medizinische Versorgung, Tschetschenien,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Bei dem Kläger liegt allerdings aufgrund seiner Erkrankung ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 S. 1 und 3 AufenthG bezüglich der Russischen Föderation vor. Nach dieser Regelung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche, konkrete Gefahr für Leib, Leben und Freiheit besteht. Eine erhebliche, konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Eine solche erhebliche, individuelle und konkrete Gefahr für Leib und Leben besteht zur Überzeugung des Gerichts für den Kläger wegen seiner schweren Erkrankung im Falle einer Abschiebung in die Russische Föderation.

Der Kläger leidet an einer unheilbaren Autismus-Spektrum-Störung, hier: frühkindlichen Autismus mit einem ausgeprägten Schweregrad, einer kombinierten tiefgreifenden Entwicklungsverzögerung und -störung, Enuresis, Enkopresis und hat er zwischenzeitlich einen Grad der Schwerbehinderung von 80 zuerkannt erhalten. Er erhält regelmäßig Ergo- und Logotherapie sowie Physiotherapie und neigt zu aggressiven Konfliktverhalten in Form von Schlagen und Treten. Auch ein autoaggressives Verhalten wie Schlagen seines Kopfes gegen Gegenstände tritt auf und besitzt er keinerlei Verständnis, was Gefahren betrifft. Seit August 2018 besucht er einen heilpädagogischen Kindergarten ins ... und erhält dort seit September 2019 auch eine Autismus spezifische Förderung durch die dortige Lebenshilfe (vgl. zuletzt die Stellungnahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie ... vom ... 2019, Entwicklungsbericht des heilpädagogischen Kindergartens ... vom ... 2019 sowie die Stellungnahme der ... heilpädagogische Einrichtung vom ... 2019, Stellungnahmen der ... vom ... 2019 und der ... vom ... 2019, die amtsärztlichen Stellungnahmen vom ... und ... 2019 sowie den Bescheid vom ... 2018 bzgl. der Festlegung des Schwerbehindertengrades). In der mündlichen Verhandlung hat sich diese komplexe Erscheinungsform der bei dem Kläger vorliegenden Autismus-Spektrum-Störung nachdrücklich offenbart, wobei besonders auffällig die körperliche Aktivität des Klägers war. Er ist mittlerweile ein hochwüchsiger schlanker Junge geworden, der durch anhaltende körperliche Unruhe und einen dauerhaften Bewegungsdrang mit Erkundung seines Umfeldes gekennzeichnet ist. Von daher bedarf der Kläger der ständigen Beaufsichtigung und Betreuung, um Gefährdungssituationen rechtzeitig zu erkennen und Gefahren von ihm und ggfs. auch anderen abzuwenden. Hier hat die Mutter des Klägers auch überzeugend geschildert, dass sie bereits mit dieser Aufgabenstellung an ihre Grenzen kommt und große Probleme hat, den Kläger zu bändigen. Auch von seinem in der Verhandlung gewonnenen geistigen Eindruck her kann sich das Gericht nur uneingeschränkt der amtsärztlichen Einschätzung anschließen, dass der Kläger weiterhin dringend auf die ihm zu teil werdenden Hilfsmaßnahmen (insbesondere in dem heilpädagogischen Kindergarten) angewiesen ist, um eine drohende ausgeprägte geistige Behinderung abzuwenden (vgl. amtsärztliche Stellungnahmen vom ... und ... 2019).

Diese schwerwiegende, dauerhafte und kostenaufwendige Erkrankung des Klägers und die damit verbundenen adäquaten umfassenden therapeutischen Behandlungen in vielschichtiger Art und Weise, wie sie vorangehend geschildert worden ist, werden zur Überzeugung des Gerichts in der Russischen Föderation nicht gewährleistet sein und droht dem Kläger eine ausgeprägte geistige Behinderung, die sich auf sein weiteres Leben einschneidend und schwerwiegend auswirken wird und bis zu einer Verelendung führen kann. In der Russischen Föderation und der Heimatregion der Eltern des Klägers ist wohl eine medizinische Versorgung auf einfachem Niveau, aber nicht überall ausreichend gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. Februar 2019 und BFA, Länderinformationsblatt Russische Föderation, Stand: 28. Februar 2019). Aber selbst wenn einzelne Behandlungen seines Krankheitsbildes für den Kläger in der Russischen Föderation erreichbar sein sollten, können solch komplexe Krankheitsbilder wie die des Klägers und die notwendigen umfangreichen Behandlungen nicht gewährleistet werden. Im Übrigen hängen Art und Umfang von eventuell möglichen Behandlungen von Einschätzungen russischer Ärzte vor Ort ab, die nicht prognostiziert werden können (vgl. Auskünfte der Deutschen Botschaft vom 4. Oktober 2017 und 19. Februar 2019 an das hiesige Gericht). Damit ist dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bezüglich der Russischen Föderation zu gewähren und können die unter den Ziffern 4. bis 6. ihm gegenüber getroffenen Entscheidungen im Bescheid vom 13. Dezember 2017 keinen Bestand haben. [...]