VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 21.01.2020 - 1 K 3689/18.TR - asyl.net: M28067
https://www.asyl.net/rsdb/M28067
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für staatenlose palästinensische Familie aus Libyen wegen fehlender medizinischer Versorgung:

1. Auch für die erneute Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote gelten die einschränkenden Voraussetzungen des § 51 VwVfG.

2. Ein neues Beweismittel liegt nicht vor, wenn ein neues Attest ausschließlich auf eine bereits vor Bestandskraft der vorangehenden Entscheidung durchgeführte Anamnese Bezug nimmt. Selbst wenn der Inhalt des Attests eine Feststellung von Abschiebungsverboten begründet, kann dies keine Durchbrechung der Bestandskraft im Wege des "Wiederaufgreifens im engeren Sinne" rechtfertigen.

3. Jedoch ist im Rahmen einer darüber hinausgehenden Prüfung ("Wiederaufgreifen im weiteren Sinne") ein Abschiebungsverbot festzustellen. Dieser Anspruch wird mit dem Anspruch der Betroffenen auf fehlerfreie Ermessensausübung gerechtfertigt. 

4. Ist das Ermessen, wie hier, aufgrund der Schwere des Krankheitsbilds und der fehlenden Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat der Abschiebung "auf Null" reduziert, besteht ein Anspruch auf Änderung der bisherigen Entscheidung und Feststellung eines Abschiebungsverbots (§ 60 Abs. 7 AufenthG).

5. In Libyen ist die Behandlung einer PTBS (insbesondere für Palästinenser*innen) nicht möglich.

6. Im Fall einer hypothetischen Rückkehr der anderen Familienmitglieder zusammen mit dem schwer erkrankten Familienmitglied, droht auch diesen eine extreme individuelle Gefahrensituation (§ 6 Abs. 5 AufenthG), da die Existenz nicht gesichert wäre.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Libyen, Palästinenser, Posttraumatische Belastungsstörung, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Asylfolgeantrag, Wiederaufnahme des Verfahrens, Ermessensreduzierung auf Null, Existenzgrundlage, medizinische Versorgung,
Normen: VwVfG § 51, AsylG § 71, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, AsylG § 31 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

1. Die Beklagte geht zu Recht davon aus, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG in der hiesigen Konstellation (ebenfalls) nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis Abs. 3 VwVfG zu prüfen sind. Soweit für die sachlich und zeitlich unbeschränkte Prüfung streiten könnte, dass die Beklagte gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG im Falle einer Unzulässigkeitsentscheidung generell verpflichtet ist, festzustellen, ob die Voraussetzungen eines Abschiebeverbotes vorliegen, ist anzumerken, dass der Wortlaut der genannten Vorschrift lediglich vom Erfordernis einer erneuten Prüfung (dem "Ob"), nicht jedoch vom Umfang dieser neuerlichen Prüfung (dem "Wie") spricht. Die Prüftiefe ist demnach richtigerweise vom jeweiligen Einzelfall abhängig, der in einer Folge-(schutz-)antragskonstellation durch das Verfahren nach § 51 VwVfG beherrscht wird. Auch muss beachtet werden, dass die Entscheidungen des Bundesamtes hinsichtlich des Bestehens oder Nichtbestehens zielstaatsbezogener Abschiebehindernisse grundsätzlich auf Dauer angelegt sind, wie § 42 Satz 1 AsylG zeigt. Eine Abänderung ist - neben den antragsgebundenen Fällen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG - grundsätzlich nur nach Maßgabe des § 73c AsylG unter Rücknahme oder Widerruf der entsprechenden Feststellungen möglich (vgl. bereits: BVerwG, Urteil vom 21. März 2000 - 9 C 41.99 -, BVerwGE 111, 77-83, Rn. 9, juris m.w.N.). [...]

2. Durch das Attest des Psychosozialen Zentrums (PSZ) der Diakonie ... vom ... 2018 (Bl. 38 ff. d.A.) erfuhr der Sachverhalt keine entscheidende Wendung zugunsten des Klägers zu 1.). Es handelt sich insbesondere nicht um ein neues Beweismittel i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG.

a. Beweismittel sind solche Erkenntnismittel, die die Überzeugung von der Existenz oder Nichtexistenz von Tatsachen begründen können. Neben Urkunden kommen als Beweismittel auch Zeugenaussagen, Sachverständigengutachten und Augenscheinsobjekte in Betracht (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 20. Aufl. 2019, § 51 Rn. 32a m.w.N.).

Sachverständigengutachten, zu denen auch die ärztlich-psychologische Stellungnahme des PSZ zählt, kommen als neue Beweismittel freilich nur dann in Betracht, wenn sie nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens erstellt wurden und neue, seinerzeit nicht bekannte Tatsachen verwerten, m.a.W. dann, wenn sie selbst auf neuen Beweismitteln beruhen (Kopp/Ramsauer, a.a.O.; BeckOK VwVfG/Falkenbach, 45. Ed. 1.10.2019, VwVfG § 51 Rn. 42 m.w.N.)

"Neu" sind Beweismittel lediglich dann, wenn sie zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht existent waren oder vor Erlass des Verwaltungsaktes zwar vorhanden waren, aber ohne grobes Verschulden des Antragstellers nicht oder nicht rechtzeitig in das Verwaltungsverfahren eingebracht werden konnten.

b. Hier liegt der Fall jedoch so, dass sämtliche Tatsachen, die anamnestisch durch das PSZ ermittelt worden sind, entweder bereits im Rahmen des Erstantragsverfahrens angegeben wurden oder durch den Kläger zu 1.) hätten angegeben werden müssen (vgl. hierzu die umfassenden Mitwirkungspflichten in den §§ 15, 25 AsylG). Ein Nachschieben von Beweismitteln - hier in der Gestalt von erst verzögert vorgebrachten Fluchtgründen - kann, auch wenn diese sich letztlich als wahr erweisen - keine Durchbrechung der Bestandskraft eines Verwaltungsaktes im Wege des Wiederaufgreifens (im engeren Sinne) rechtfertigen.

III. Die Beklagte hätte im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt jedoch im Wege des "Wiederaufgreifens im weiteren Sinne" zum Ergebnis gelangen müssen, dass primär dem Kläger zu 1.) - und letztlich den Klägern insgesamt - ein zielstaatsbezogenes Abschiebeverbot zuzuerkennen ist. Im Einzelnen:

1. Mit dem Rechtsinstitut des sog. Wiederaufgreifens im weiteren Sinne, das seine dogmatische Grundlage in § 51 Abs. 5 VwVfG (i.V.m. den §§ 48, 49 VwVfG) findet, korrespondiert ein - gerichtlich einklagbarer (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) - Anspruch des Betroffenen auf eine fehlerfreie Ermessensausübung (BVerwG, Urteil vom 22.10.2009 - 1 C 15.08 -, juris, Rn. 26 m.w.N.), die durch das Verwaltungsgericht nach Maßgabe des § 114 Satz 1 VwGO lediglich daraufhin zu überprüfen ist, ob überhaupt eine Ermessensentscheidung getroffen wurde, ob in diese Ermessensentscheidung alle maßgeblichen und keine unzulässigen Erwägungen Eingang gefunden haben und ob einzelne Belange entgegen ihrer objektiven Wertigkeit in die Abwägung eingestellt worden sind (sog. Ermessensfehlerlehre). Hierbei ist die Behörde nicht auf die in § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG und § 49 Abs. 1 VwVfG normierten Möglichkeiten der Aufhebung des Verwaltungsakts ex tunc oder ex nunc beschränkt, sondern sie hat auch zu entscheiden, ob der Verwaltungsakt zurückgenommen, geändert oder im Wege eines Zweitbescheids bestätigt werden soll (BVerwG, a.a.O., Rn. 25 m.w.N.).

2. Vorliegend begegnet das durch die Beklagte in deren Bescheid vom 15.06.2018 ausgeübte Ermessen (S. 7 des Bescheides) zunächst keinen, i.R.d. § 114 Satz 1 VwGO beachtlichen, Bedenken. Soweit das Attest des PSZ vom .. 2018 dort keine Erwähnung findet, mag dies darauf zurückgehen, dass es erst unmittelbar vor Bescheiderstellung ausgefertigt und dementsprechend nicht mehr zum Gegenstand des Folgeantragsverfahrens gemacht wurde bzw. gemacht werden konnte.

Dies bedarf indessen keiner abschließenden Erörterung, da das Ermessen der Beklagten aufgrund des dem Kläger zu 1.) attestierten Krankheitsbildes im Ergebnis "auf null" reduziert wurde.

a. Das Ermessen ist zu Gunsten eines Ausländers nur dann "auf null" reduziert, wenn dieser über das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinaus einer extremen individuellen Gefahrensituation ausgesetzt wäre und deshalb ein Festhalten an der bestandskräftigen negativen Entscheidung zu § 60 Abs. 7 AufenthG zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.10.2004 - 1 C 15.03 -, juris). Insoweit muss auch bei der Ermessensausübung im Rahmen des Folgeschutzantrages die besondere Verfahrenssituation des Asylfolgeantrags mitberücksichtigt werden. [...]

Eine Behandlung dieser PTBS wäre in Libyen nach der aktuellen Erkenntnismittellage - auch unter den Einschränkungen des § 60 Abs. 7 Satz 4 und Satz 5 AufenthG - nicht möglich. Hierzu führt etwa das Auswärtige Amt aus:

"Die medizinische Grundversorgung hat sich zwischen 2014 und 2018 stark verschlechtert, unter anderem auch durch Abwanderung von häufig nichtlibyschem Fachpersonal. Das dysfunktionale öffentliche Gesundheitssystem leidet unter fragmentiertem und ineffektivem Management, begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen sowie einem Mangel an Medikamenten, grundlegender Ausstattung und medizinischem Gerät. Behandlung in besser ausgestatteten Privatkliniken ist für viele nicht mehr bezahlbar." (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libyen vom 12.01.2019, Stand: November 2018, Gz.: 508-516.8013 LBY, S. 14/15).

Zudem komme es, so das Auswärtige Amt weiter, im Rahmen der anhaltenden Bürgerkriegsereignisse auch zu gezielten Angriffen auf die medizinische Infrastruktur:

"Es kommt zu Plünderungen von und Angriffen auf Krankenhäuser, zuletzt am 15.11.2018 in Benghasi. Medizinisches Personal wird teils gezielt bedroht, angegriffen und willkürlich inhaftiert, insbesondere im Osten und Süden Libyens. Die VN haben im bisherigen Jahresverlauf 19 Angriffe auf medizinische Einrichtungen registriert, dabei wurden 13 Angestellte und Patienten verletzt." (AA, a.a.O., S. 7).

Zwar bemühen sich Nichtregierungsorganisationen eine grundlegende medizinische Versorgung zu gewährleisten (vgl. ICRC, Libya: Facts and figures, January-December 2018, abrufbar unter: www.icrc.org/en/document/icrc-activities-libya-Jan-December-2019 und VG Trier, Urteil vom 08.05.2019 - 1 K 6059/17.TR), eine - auch nur rudimentäre - psychiatrische Behandlung ist jedoch in Libyen derzeit nicht erreichbar.

Hinzu kommt, dass eine medizinische Behandlung für in Libyen lebende Palästinenser aufgrund der weit verbreiteten Diskriminierung noch weitaus schwerer zu erreichen wäre, als es für libysche Staatsangehörige der Fall wäre. Unter Verweis auf weitere Quellen führen das Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (vgl. ACCORD, "Anfragebeantwortung zu Libyen: Palästinenser: Anzahl und Verteilung, Status (langjähriger Aufenthalt 1989-2014), Rückkehrverbot, allgemeine Lage, Sicherheitslage, Bedrohung, Einschränkungen", vom 19.01.2017) und die Schweizerische Flüchtlingshilfe (vgl. Themenpapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, "Libyen: Palästinensische Flüchtlinge", vom 31.10.2017) zur aktuellen Lage der Palästinenser in Libyen zusammengefasst aus, dass die Palästinenser vielerorts zu "Sündenböcken" für die allgemeine Lage im Land gemacht würden und sie verschiedenen Restriktionen und Einschüchterungen unterlägen (vgl. hierzu auch: VG Trier, a.a.O.).

cc. Auch der übrige Familienverband würde im Falle einer gemeinsamen Rückkehr mit dem Kläger zu 1.) (vgl. zu diesem Prognosemaßstab: BVerwG, Urteil vom 04. 07.2019 - 1 C 45.18 -, juris, Rn. 16 ff.) in eine extreme individuelle Gefahrensituation (§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK) entlassen werden.

Zwar ist die Situation in Libyen generell - und auch für dort lebende Palästinenser - keine, die regelmäßig die Zuerkennung eines zielstaatsbezogenen Abschiebeverbotes indizieren würde (VG Trier, a.a.O.), die besonderen Umstände des Einzelfalls führen jedoch zu einer hiervon abweichenden Gefährdungseinschätzung, da der Kläger zu 1.) im Falle seiner Rückkehr und der dann vorhersehbaren Retraumatisierung als Einkommensbringer für die Familie ausfallen würde. Die dann faktisch mittellose Familie würde sich im Kontext der aktuellen Bürgerkriegsereignisse, bei gleichzeitig fehlender staatlicher Grundversorgung im Übrigen, in einer Situation wiederfinden, in der auch die elementarsten Grundbedürfnisse (v.a. Behausung, Ernährung und Hygiene) nicht gedeckt werden könnten.

Die Klägerin zu 2.) würde - obschon gut ausgebildet - als Einkommensbringerin ebenfalls ausscheiden, da sie im Falle der Rückkehr nicht nur die Versorgung des - dann retraumatisierten - Klägers zu 1.), sondern auch die der fünf gemeinsamen Kinder zu bewerkstelligen hätte.

Das Gericht verkennt nicht, dass die Kläger in Libyen durchaus über weitere Familienangehörige verfügen, die z.T. auch mit libyschen Staatsangehörigen verheiratet sind, aufgrund der Personenzahl, die diese jeweils selbst zu versorgen haben und der allgemeinen Situation im Land kann jedoch auch insoweit nicht belastbar angenommen werden, dass von dieser Seite eine derartige Unterstützung bereitgestellt werden würde, welche die Lage der Gesamtfamilie über die Gefahrenschwelle des Art. 3 EMRK höbe. [...]