VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 17.05.2006 - 3 K 4253/05 - asyl.net: M8710
https://www.asyl.net/rsdb/M8710
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Untätigkeitsklage, Zustimmung, subsidiärer Schutz, Ausweisung, Sperrwirkung, Wirkungen der Ausweisung, Ausreisehindernis, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Widerruf, Bundesamt, Suspensiveffekt, Bindungswirkung, Ausländerbehörde, Anerkennungsbescheid, Ermessen, atypischer Ausnahmefall
Normen: VwGO § 75 S. 1; AAZuVO § 8; AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 11 Abs. 1 S. 2; AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 5; AsylVfG § 75; AsylVfG § 73 Abs. 2a S. 4; AsylVfG § 42 S. 1
Auszüge:

Die Klage ist teilweise begründet. Zwar hat der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Er hat aber einen (als Minus in seinem Klageantrag enthaltenen) Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag. Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 10.2.2006 ist daher aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden (§ 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO).

Die Beklagte hat zutreffend entschieden, dass der Kläger die Voraussetzungen des § 25 Abs. 3 AufenthG nicht erfüllt. Da der Kläger durch Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 20.10.2000 aus dem Bundesgebiet ausgewiesen wurde, steht § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG entgegen.

Anders als die Beklagte meint, erfüllt der Kläger dagegen die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG. Danach kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von § 11 Abs. 1 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Aufgrund der Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 53 Abs. 4 AuslG a. F. (jetzt § 60 Abs. 5 AufenthG) in der Person des Klägers hinsichtlich Algerien durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ist dem Kläger die Ausreise aus rechtlichen Gründen unmöglich. Der Umstand, dass die Feststellung eines Abschiebungshindernisses zwischenzeitlich durch Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2.2.2006 widerrufen worden und diesbezüglich ein Klageverfahren beim Verwaltungsgericht Stuttgart (A 5 K 543/06) anhängig ist, steht dem nicht entgegen. Da die Anfechtungsklage gegen den Widerruf der Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 75 AsylVfG aufschiebende Wirkung hat, ist zum jetzigen Zeitpunkt die Feststellung eines Abschiebungshindernisses weiterhin zu beachten. Hierbei kommt es nicht auf die rechtliche Bewertung der aufschiebenden Wirkung an. Nach der Wirksamkeitstheorie tritt aufgrund des Suspensiveffekts des Widerspruchs eine Wirksamkeitshemmung bezüglich des gesamten Verwaltungsaktes ein. Der Widerruf der Feststellung eines Abschiebungshindernisses entfaltet somit aufgrund der erhobenen Anfechtungsklage keine Wirkung. Aber auch die Vollziehbarkeitstheorie führt zu keinem anderem Ergebnis. Nach ihr bleibt zwar der Verwaltungsakt, also der Widerruf der Feststellung eines Abschiebungshindernisses, wirksam. Aus ihm dürfen aber keine Folgen gezogen werden, d. h. die Behörde ist aufgrund der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs verpflichtet, Maßnahmen zu unterlassen, die die Wirksamkeit des Verwaltungsakts voraussetzen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.3.2001 - 11 S 2374/99 -, VBlBW 2001, 454). Die Ausländerbehörde muss deshalb solange vom Vorliegen eines Abschiebungshindernisses ausgehen, bis die Widerrufsentscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Bestandskraft erlangt. Hierfür spricht außerdem die Gesetzessystematik. § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG bestimmt, dass bis zur Bestandskraft des Widerrufs die Verbindlichkeit der Entscheidung über den Asylantrag für das Einbürgerungsverfahren entfällt. Daraus ist der Umkehrschluss zu ziehen, dass es in allen sonstigen Verfahren, insbesondere in Verfahren, in denen es um die Erteilung eines Aufenthaltstitels geht, an der Verbindlichkeit der Statusentscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bis zu ihrer Bestandkraft verbleibt.

An die Feststellung eines Abschiebungshindernisses durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist die Beklagte nach § 42 Satz 1 AsylVfG bis zur Bestands- bzw. Rechtskraft der Widerrufsentscheidung gebunden. Die Ausländerbehörde hat nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in diesem Bereich keine Prüfungskompetenz (BVerwG, Urteil vom 21.3.2000 - 9 C 41.99 -, BVerwGE 111, 77). Hieran hat sich auch durch das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes und der Ersetzung des § 53 AuslG durch den gleich lautenden § 60 AufenthG nichts geändert (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 6.4.2005 - 11 S 2779/04 -).

Mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses ist auch nicht in absehbarer Zeit zu rechnen. Was unter "absehbarer Zeit" zu verstehen ist, bedarf der Auslegung. Es ist hierbei auf den Zweck der Vorschrift abzustellen. § 25 Abs. 5 AufenthG soll bewirken, dass im Regelfall Ausländer, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, bisher jedoch nicht ausreisen konnten, einen sicheren Aufenthaltsstatus in Form der Aufenthaltserlaubnis erhalten. Dem Kläger sind inzwischen seit mehr als zehn Jahren fortlaufend, teilweise für sechs Monate, teilweise nur für drei Monate, Duldungen erteilt worden. Gerade diesen Zustand zu beenden, bezweckt die Regelung des § 25 Abs. 5 AufenthG. Zwar hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge inzwischen die Feststellung eines Abschiebungshindernisses widerrufen. Der Kläger hat hiergegen indes Anfechtungsklage erhoben, über die bislang nicht entschieden worden ist. Wann mit einer rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Widerrufs der Feststellung eines Abschiebungshindernisses zu rechnen ist, steht nicht fest. Der Ausländerbehörde ist es auch verwehrt, Prognosen zum Ausgang des Rechtsstreits über die Widerrufsentscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge anzustellen, da dies der gesetzlich zugewiesenen Aufgabenverteilung zwischen der Ausländerbehörde einerseits und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge andererseits zuwider liefe.

Auch die weiteren Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG liegen vor. Die bestandskräftige Ausweisungsverfügung vom 20.10.2000 steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG - anders als bei der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG - nicht entgegen, da sie gerade abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG erteilt werden kann. Die beantragte Aufenthaltserlaubnis kann auch nicht nach § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG versagt werden, denn der Kläger ist - im Hinblick auf das festgestellte Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 4 AuslG a. F. - unverschuldet an der Ausreise gehindert.

Nach alledem kann dem Kläger nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Dabei ist das Ermessen der Behörde allerdings nicht gemäß § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG eingeschränkt. Nach dieser Bestimmung soll eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Abschiebung - wie im Falle des Klägers - seit 18 Monaten ausgesetzt ist. Diese Bestimmung stellt keine eigene Anspruchsgrundlage dar, sondern setzt das Vorliegen der Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG voraus. Dies folgt aus der systematischen Stellung des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG, der an § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG anknüpft und lediglich die dort vorgesehene Rechtsfolge "kann" zu einem "soll" modifiziert (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 6.4.2005 - 11 S 2779/04 -). Danach wäre dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, es sei denn es läge eine atypische, vom Regelfall abweichende Fallgestaltung vor. Lediglich in atypischen Fällen steht der Ausländerbehörde somit Ermessen hinsichtlich der Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu, das sie pflichtgemäß auszuüben hat.

Aufgrund des Widerrufs der Feststellung eines Abschiebungshindernisses durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist hier von einem atypischen Fall auszugehen. Wann ein derartiger Fall anzunehmen ist, ist nach dem Regelungszweck des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG zu bestimmen. Die Vorschrift will gewährleisten, dass Ausländer, die unverschuldet nicht ausreisen können, einen sicheren Aufenthaltsstatus in Form der Aufenthaltserlaubnis erhalten. Treten dagegen Umstände ein, die Anlass für eine Beendigung des Aufenthalts geben können, entspricht es gerade nicht dem Zweck des Gesetzes, den Aufenthalt des Ausländers durch die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels zu verfestigen (vgl. § 26 Abs. 2 AufenthG). Bei einer solchen Sachlage ist daher ein atypischer Fall im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG anzunehmen (vgl. zur vergleichbaren Bestimmung des § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG: BVerwG, Urteil vom 22.11.2005 - 1 C 18.04 -; a. A. VG Sigmaringen, Urteil vom 14.6.2005 - 7 K 1166/04 -). Dies bedeutet aber nicht, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausscheidet. Vielmehr hat die Ausländerbehörde unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles über die Erteilung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden.