Entscheidungen zur Inhaftierung von Schutzsuchenden in Europa (insbesondere zur Zulässigkeit von Inhaftierungen)
EuGH, Urteil vom 25.6.2020 – C-36/20, PPU – asyl.net: M28570
Der EuGH hat in einer aktuellen Entscheidung verschiedene Fragen im Zusammenhang mit der Inhaftierung von schutzsuchenden Personen beantwortet. Ein Gericht, das über die Inhaftierung einer sich unerlaubt aufhaltenden Person zu entscheiden hat, muss demnach über die konkreten Modalitäten der Asylantragstellung informieren. Wenn eine Person die Absicht erklärt, Asyl beantragen zu wollen, muss das Gericht zudem den Vorgang an die zuständigen Stellen weiterleiten. Weiterhin darf die Inhaftierung von Personen, die um internationalen Schutz ersuchen wollen, nicht allein deshalb angeordnet werden, weil nicht genug Kapazitäten in Aufnahmezentren zur Verfügung stehen.
Am 12. Dezember 2019 wurde von der spanischen Seenotrettung ein Boot mit 45 Personen nahe der spanischen Küste abgefangen. Das Seenotrettungsschiff brachte sie nach Gran Canaria. Dort wurden sie an die lokalen Behörden übergeben, am nächsten Tag wurde ihre Abschiebung angeordnet. Da die Betroffenen nicht sofort abgeschoben werden konnten, stellten die Behörden bei einem Untersuchungsgericht Anträge auf Inhaftierung.
Der hiervon betroffene malische Staatsangehörige VL erklärte vor dem über die Haft entscheidenden Gericht, internationalen Schutz beantragen zu wollen, weil ihm in Mali Verfolgung drohe. Das Gericht übermittelte die Erklärung an die lokale Ausländer- und Grenzschutzbrigade und an den UNHCR. Gleichzeitig ersuchte es weitere Behörden, für VL einen Platz in einem humanitären Aufnahmezentrum zu finden. Dies gelang jedoch nicht, woraufhin das Gericht die Unterbringung VL’s in einer Hafteinrichtung anordnete. Es teilte VL mit, dass dort auch sein Asylantrag bearbeitet werde.
VL legte gegen die Haftentscheidung Einspruch ein. Sie sei unvereinbar mit der EU‑Asylverfahrensrichtlinie (VerfRL) und der EU‑Aufnahmerichtlinie (AufnRL). Daraufhin setzte das Gericht das Verfahren aus und legte dem EuGH zur Vorabentscheidung die Fragen vor, ob es selbst als »andere Behörde« im Sinne der VerfRL Anträge auf internationalen Schutz entgegennehmen könne und ob es als solche Behörde Informations- und Weiterleitungspflichten habe. Nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 VerfRL muss gewährleistet sein, dass die Registrierung von Asylsuchenden spätestens sechs Tage nach Antragstellung erfolgt, wenn ein Antrag auf internationalen Schutz bei einer »anderen Behörde« gestellt wird, die zwar nach nationalem Recht nicht zuständig für die Registrierung ist, bei denen eine Antragstellung aber »wahrscheinlich« ist.
Der Gerichtshof entschied, dass ein Gericht, das über die Inhaftierung einer sich unerlaubt aufhaltenden Person entscheidet, eine Behörde in diesem Sinne darstellt. Aus dem Wortlaut der Vorschrift, insbesondere des Wortes »andere«, ergebe sich, dass der Behördenbegriff weit und offen auszulegen sei. Zudem verfolge die VerfRL unter anderem das Ziel, einen möglichst einfachen Zugang zu Asylverfahren zu gewährleisten. Es sei auch »wahrscheinlich«, dass bei einem für die Haftanordnung zuständigen Gericht Asylgesuche gestellt würden. Vor allem bei Verfahren, in denen eine Abschiebung innerhalb einer sehr kurzen Zeit angeordnet wird, stelle die Anhörung durch ein Gericht möglicherweise die erste Gelegenheit dar, das Recht auf Stellung eines Asylantrags geltend zu machen.
Das Gericht sei dann als »andere Behörde« nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 und 3 VerfRL verpflichtet, Betroffene über die konkreten Modalitäten der förmlichen Stellung des Asylantrags zu informieren. Dieser Verpflichtung könne das Gericht auch von sich aus nachkommen. Zudem müsse das Gericht den Vorgang der Behörde übermitteln, die für die Registrierung der Anträge zuständig ist, damit die sechstägige Frist eingehalten werden und Betroffene die materiellen Leistungen und die medizinische Versorgung nach Art. 17 AufnRL erhalten können.
Darüber hinaus legte das spanische Gericht die Frage vor, ob Betroffene bereits nach der Absichtsbekundung vor einer »anderen Behörde«, internationalen Schutz beantragen zu wollen, durch das Refoulement-Verbot und durch Regelungen der AufnRL geschützt seien.
Der EuGH bejahte diese Vorlagefrage im Ergebnis. Er entschied zunächst, dass Asylsuchende nicht aufgrund fehlender Kapazitäten in Aufnahmezentren in Haft genommen werden können. Eine Person sei insofern durch die VerfRL und die AufnRL geschützt, wenn es sich bei ihr um »eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat«, handelt. Für diesen Begriff ergebe sich aus den Richtlinien ein weites Verständnis: Es sei zwar grundsätzlich die Asylantragstellung notwendig, diese sei aber an keinerlei Verwaltungsformalitäten gebunden. Deshalb erwerbe eine Person diese Eigenschaft bereits zu dem Zeitpunkt, in dem sie bei einer »anderen Behörde« die Absicht bekundet, internationalen Schutz beantragen zu wollen.
Ab diesem Moment könne eine Inhaftierung nur nach den Vorschriften der AufnRL und VerfRL erfolgen, die EU‑Rückführungsrichtlinie finde keine Anwendung. Eine Inhaftierung allein aufgrund der Asylantragsstellung sei demnach nach Art. 26 Abs. 1 VerfRL und Art. 8 Abs. 1 AufnRL ausdrücklich ausgeschlossen. Zu den vorgesehenen Haftgründen aus Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 AufnRL zähle nicht das Fehlen von Kapazitäten in humanitären Aufnahmezentren. Da die dort aufgezählten Haftgründe abschließend seien, sei die auf eine solche Begründung gestützte Inhaftierung europarechtswidrig.
Urteil des Staatsrats Griechenlands vom 17.4.2018, Nr. 805/2018
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 5/2018:
In einer aktuellen Entscheidung annullierte der griechische Staatsrat die Beschränkung der Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden auf griechische Inseln.
Seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals unterlagen Asylsuchende, die auf den östlichen Ägäis-Inseln Lesbos, Rhodos, Chios, Samos, Leros und Kos gelandet waren, einer »geographischen Beschränkung« und durften nicht auf das Festland weiterreisen. Die Festhaltung der Betroffenen auf den Inseln war vom Direktor der griechischen Asylbehörde angeordnet worden. Die Ermächtigungsgrundlage hierfür findet sich im griechischen Asylgesetz (Art. 41 des Gesetzes 4375/2016), welches das Asylverfahren in Griechenland nach Verabschiedung der EU-Türkei-Erklärung grundlegend änderte. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit wurde nach dem 20. März 2016 gegenüber allen neu ankommenden Asylsuchenden auf den jeweiligen Inseln verfügt.
Das oberste Verwaltungsgericht Griechenlands hob nun verschiedenen Berichten zufolge diese Beschränkung aufgrund einer Klage des griechischen Flüchtlingsrats auf. Der Staatsrat stellte fest, dass die Beschränkung zu einer ungleichmäßigen Verteilung von Asylsuchenden in Griechenland geführt habe. Dadurch seien die betroffenen Inseln stark belastet worden und dies habe negative Auswirkungen auf die dortige Wirtschaft und öffentliche Ordnung gehabt. Diese Überlastung der betroffenen Inseln wird durch den AIDA‑Bericht zu Griechenland bestätigt. Die Verhängung der Beschränkung gegenüber jeder neu ankommenden schutzsuchenden Person hat laut dem Bericht zu einer deutlichen Überbelegung der Aufnahmelager auf den betroffenen Inseln geführt. Asylsuchende mussten dort über einen längeren Zeitraum mit einer unzureichenden Versorgung mit Wasser und Essen, schlechten hygienischen Bedingungen und einer schwierigen Sicherheitslage ausharren.
Der Staatsrat hob zudem hervor, dass die Anordnung des Direktors der Asylbehörde die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Asylsuchende nicht hinreichend begründete. Da keine zwingenden Gründe des öffentlichen Interesses zur Rechtfertigung der Beschränkung dargelegt wurden, hob der Staatsrat die Anordnung auf.
Berichten zufolge beschränkte der Staatsrat seine Entscheidung aufgrund der hohen Zahlen von Schutzsuchenden nur auf neu ankommende Personen. Das Urteil betrifft daher nicht diejenigen Asylsuchenden, die sich bereits auf den Inseln aufhalten. Nach aktuellen staatlichen Zählungen befinden sich mehr als 15.400 Asylsuchende auf den fünf Inseln in sogenannten Hotspots. Laut Berichten waren deren Kapazität für nur etwa die Hälfte der Anzahl von Personen vorgesehen.
Die griechische Regierung reagierte unmittelbar auf die Entscheidung des Staatsrats und wird sie wohl nicht umsetzen. Dies ergibt sich aus einer gemeinsamen Erklärung von 21 Menschenrechtsorganisationen, die das Vorgehen der griechischen Regierung vehement kritisieren. Demnach ordnete der neue Direktor der griechischen Asylbehörde die »geographische Beschränkung« am 20. April 2018 erneut an. Diesmal wurde die Anordnung mit der Notwendigkeit, die EU-Türkei-Vereinbarung umzusetzen, und mit allgemeinem öffentlichen Interesse begründet. Zudem wurde am 19. April 2018 ein Gesetzgebungsverfahren eingeleitet, um unter anderem die räumliche Beschränkung im griechischen Recht zu verankern.
Urteil des EGMR vom 10.4.2018, Nr. 75157/14 (Art. 5, Art. 8 EMRK)
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 7-8/2018:
Der EGMR verurteilte Polen in dieser Entscheidung dafür, dass eine Asylsuchende und ihre drei Kinder sechs Monate lang in einer bewachten Einrichtung für Schutzsuchende festgehalten wurden.
Die Betroffene war Anfang 2014 zusammen mit ihren drei Kindern unter Trennung von ihrem sich damals im Krankenhaus befindlichen Ehemann von Deutschland nach Polen überstellt worden. Zuvor war ihr Asylantrag in Polen abgelehnt worden. Dort wurden die Beschwerdeführenden aufgrund eines Gerichtsbeschlusses knapp sechs Monate lang in einer geschlossenen Einrichtung in Kętrzyn inhaftiert. Nach ihrer Entlassung zogen die Betroffenen wieder nach Deutschland.
Vor dem EGMR machten die Beschwerdeführenden eine Verletzung ihrer Rechte auf Freiheit nach Art. 5 Abs. 1 EMRK und auf gerichtliche Haftprüfung nach Art. 5 Abs. 4 EMRK sowie auf Familienleben nach Art. 8 EMRK geltend.
In Bezug auf Art. 5 EMRK wies der Gerichtshof die Beschwerde der Betroffenen zurück, da sie nicht alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft hätten. Zweifel an der Effektivität des Rechtsschutzes in Polen, die die Beschwerdeführenden wegen fehlender einschlägiger Gerichtsentscheidungen geltend gemacht hatten, wies der EGMR zurück, da dieser Mangel darauf zurückzuführen sei, dass entsprechende Rechtsbehelfe erst kürzlich gesetzlich vorgesehen wurden.
Im Hinblick auf Art. 8 EMRK stellte der EGMR eine Verletzung des Rechts auf Familienleben fest. Die Norm schütze nicht nur das Zusammenleben der Familienangehörigen, sondern auch die Umstände des Familienlebens. Eine Inhaftierung könne daher die effektive Ausübung des Familienlebens einschränken. Zwar könne diese Einschränkung bei Fluchtgefahr der Betroffenen gerechtfertigt werden. Angesichts des hohen Rangs des Kindeswohls müsse die Inhaftierung von Minderjährigen allerdings so kurz wie möglich ausfallen und es sei besondere Sorgfalt geboten. Im vorliegenden Fall hätten die polnischen Behörden auch angesichts der Fluchtgefahr der Betroffenen die sechsmonatige Inhaftierung nicht ausreichend begründen können und insbesondere keine alternativen Maßnahmen berücksichtigt.
Urteil des EGMR vom 25.1.2018, Nr. 22696/16 (Art. 3, Art. 5 Abs. 1 und 2 EMRK)
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 5/2018:
In dieser Entscheidung stellte der EGMR fest, dass die Inhaftierung von Asylsuchenden, die im »Hotspot« auf der Insel Chios zu Beginn der Umsetzung des sogenannten EU-Türkei-Deals festgehalten wurden, rechtmäßig war.
Das Urteil erging im Fall von drei Asylsuchenden aus Afghanistan, einer Frau, die mit ihren zwei Kindern vor Zwangsverheiratung geflohen war, ihrem Partner und ihrem Bruder. Die Betroffenen wurden am Tag, nachdem die EU-Türkei-Erklärung vom 18. März 2016 in Kraft trat, im sogenannten Hotspot VIAL festgehalten (VIAL ist das griechische Akronym für »Aufnahme-, Identifizierungs-und Registrierungszentrum«). Dabei handelt es sich um ein Lager für Asylsuchende, welches in einer leerstehenden Fabrik auf der griechischen Insel Chios im Jahr 2015 von UNHCR und anderen humanitären Organisationen eingerichtet worden war. Nach Inkrafttreten der EU‑Türkei‑Vereinbarung am 20. März 2016 wurde das Lager in eine Hafteinrichtung umgewandelt und dessen Leitung wurde von griechischen Behörden zusammen mit der EU‑Grenzschutzagentur Frontex übernommen. Der EU‑Türkei‑Deal sieht unter anderem vor, dass Asylsuchende, die auf den griechischen Inseln ankommen und deren Asylanträge als unzulässig abgelehnt werden, in die Türkei zurückgebracht werden sollen.
Die Beschwerdeführenden wurden am Tag ihrer Ankunft auf Chios auf polizeiliche Anordnung festgehalten, wegen Fluchtgefahr inhaftiert und etwas später ausgewiesen. Sie erhielten eine Broschüre in ihrer Landessprache zur Inhaftierung und zu ihren Rechten. Die Ausweisung wurde wenige Wochen später ausgesetzt. Ihre Asylanträge wurden zwar entgegengenommen, aber erst Monate später förmlich registriert. Den »Hotspot« konnten die Betroffenen erst im Herbst 2016 verlassen.
Vor dem EGMR machten die Beschwerdeführenden geltend, dass ihre Inhaftierung willkürlich erfolgte und dass ihnen die Gründe für die Inhaftierung nicht mitgeteilt wurden, also ihr Recht auf Freiheit und auf Information über die Haftgründe aus Art. 5 Abs. 1 und 2 EMRK verletzt worden sei. Zudem rügten sie die Haftbedingungen im »Hotspot«, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gemäß Art. 3 EMRK gleichgekommen seien.
Der EGMR stellte fest, dass eine Inhaftierung im Sinne des Art. 5 EMRK nur etwa einen Monat lang vorgelegen habe und zwar bis zur Umwandlung des »Hotspots« in ein halb offenes Lager. Die Inhaftierung mit dem Ziel, die Betroffenen gegebenenfalls im Rahmen der EU‑Türkei‑Erklärung zurückzuschieben, befand er für rechtmäßig und für die Erreichung des Ziels angemessen. Anders als in der Rechtssache Khlaifia gg. Italien (siehe EGMR-Übersicht in AM 1–2/2017), wo es um die Inhaftierung Schutzsuchender auf Lampedusa im Rahmen einer Vereinbarung zwischen Italien und Tunesien ging, sah der Gerichtshof eine Rechtsgrundlage im nationalen Recht als gegeben an. Daher sei das Recht auf Freiheit aus Art. 5 Abs. 1 Bst. f EMRK nicht verletzt worden.
Die Betroffenen seien jedoch in ihrem Recht auf Information über die Haftgründe aus Art. 5 Abs. 2 EMRK verletzt worden, da die ausgehändigte Broschüre nicht ausreichend war, um sie über die Gründe der Inhaftierung und über Beschwerdemöglichkeiten zu informieren. Obwohl der EGMR auf mehrere Berichte von Nichtregierungsorganisationen zu den »Hotspots« Bezug nahm, konnte er keine Verletzung von Art. 3 EMRK feststellen, da die Haftbedingungen im VIAL »Hotspot« nicht die erforderliche Schwelle für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erreichten. Auch sei laut Gerichtshof die Kürze der Inhaftierung zu berücksichtigen.
Die Entscheidung wurde von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Der EGMR habe übersehen, dass es zu Beginn der Umsetzung des EU-Türkei‑Deals zu pauschalen Inhaftierungen ohne Einzelfallprüfungen kam und dass die Belange von besonders Schutzbedürftigen nicht berücksichtigt wurden, die deshalb unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt waren. Gegen diese von einer Kammer des EGMR getroffene Entscheidung wurde die Verweisung an die Große Kammer nach Art. 42 EMRK beantragt und wird von dieser derzeit geprüft.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 6/2017:
In diesem Fall befand der Gerichtshof die fünf Monate dauernde Inhaftierung eines Asylsuchenden an der belgischen Grenze für rechtmäßig.
Der Beschwerdeführer, ein junger Mann aus Ägypten, war Anfang 2011 von der Türkei aus nach Belgien geflogen und hatte am Flughafen Brüssel einen Asylantrag gestellt. Aufgrund der Einreise ohne gültige Papiere fand auf ihn das im Ausländergesetz vorgesehene "Grenzverfahren" Anwendung. Gegen ihn wurde die ebenfalls gesetzlich vorgesehene "Inhaftierung an der Grenze" angeordnet. Er wurde zunächst in einem Transitzentrum und später in einem weiteren geschlossenen Zentrum festgehalten. Sein Asylantrag wurde im Schnellverfahren abgelehnt. Die Haft wurde zweimal verlängert, zunächst, als er die Rückführung in die Türkei verweigerte und erneut, als er einen Asylfolgeantrag stellte.
Während seiner Inhaftierung stellte der Beschwerdeführer drei Anträge auf Haftentlassung, die aber jeweils von den in letzter Instanz zuständigen Gerichten abgelehnt wurden. Zudem reichte er einen Asylfolgeantrag ein, den er mit einer psychischen Erkrankung begründete. Auf richterliche Anordnung wurde das Folgeverfahren eingeleitet, das letztlich aber ebenfalls erfolglos blieb.
Erst nach Ablauf der Höchstdauer der Haft von fünf Monaten wurde der Betroffene freigelassen. In beiden Zentren wurde der Betroffene psychologisch und medizinisch betreut und es wurde mehrfach eine depressive Erkrankung diagnostiziert.
Vor dem EGMR machte der Beschwerdeführer geltend, in seinem Recht auf Freiheit aus Art. 5 Abs. 1 EMRK verletzt worden zu sein. Die in Belgien gesetzlich vorgesehene Inhaftierung von Asylsuchenden an der Grenze erfolge automatisch und ohne individualisierte Prüfung und sei daher willkürlich. Darüber hinaus sei die Haft angesichts seiner psychischen Erkrankung unverhältnismäßig. Die Behörden hätten weder die Notwendigkeit der Haft noch mildere Mittel geprüft.
Der Gerichtshof stellte keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK fest. Die Inhaftierung des Beschwerdeführers sei im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Bst. f EMRK erfolgt, nämlich während der anhängigen Asylverfahren zur Verhinderung der Einreise bzw. nach Ablehnung der Asylanträge zur Durchsetzung der Ausweisung. Zwar betonte der EGMR, dass Inhaftierungen nur auf gesetzlicher Grundlage erfolgen dürfen, er ging aber nicht näher auf die weit gefasste belgische Norm ein. Laut EGMR ließen die sukzessiven Haftanordnungen eine auf den Einzelfall bezogene Begründung vermissen, allerdings hätten die belgischen Gerichte bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft die Umstände des Betroffenen entsprechend der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR berücksichtigt. Da der Betroffene während seiner Unterbringung in beiden Zentren besondere Aufmerksamkeit erfahren habe, führe seine psychische Erkrankung allein nicht zur Unrechtmäßigkeit der Inhaftierung. Schließlich stellte der Gerichtshof fest, dass die fünfmonatige Haftdauer angemessen gewesen sei und die Inhaftierung daher nicht unverhältnismäßig war.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 6/2017:
In diesen vier Fällen verurteilte der EGMR die Russische Föderation, weil ihre Behörden Asylsuchende aus dem Irak, den Palästinensischen Gebieten, Somalia und Syrien am Flughafen in Moskau festgehalten und ihnen den Zugang zum Staatsgebiet verweigert hatten.
Drei der Beschwerdeführer verbrachten insgesamt fünf bis acht Monate in der Transitzone des Flughafens Sheremetyevo; einer hielt sich fast zwei Jahre dort auf. Alle vier Männer hatten Asylanträge gestellt, die abgelehnt wurden.
Vor dem EGMR machten die Beschwerdeführer einen Verstoß gegen das Verbot von unmenschlicher oder ernied-rigender Behandlung nach Art. 3 EMRK aufgrund der Bedingungen in der Transitzone geltend. Zudem sahen sie sich in ihrem Recht auf Freiheit nach Art. 5 Abs. 1 EMRK verletzt.
Der Gerichtshof verwarf die Argumentation der russischen Regierung, wonach die Betroffenen sich nicht unter russischer Jurisdiktion befunden hätten. Er stellte fest, dass das Festhalten der Betroffenen in der Transitzone des Flughafens »de facto« einer Inhaftierung i. S. d. Art. 5 EMRK gleichkam. Da für die Inhaftierung keine gesetzliche Bestimmung ersichtlich sei und auch keine Rechtfertigung seitens der russischen Regierung erfolgte (da diese nicht von einer Inhaftierung ausging), befand der EGMR sie als unrechtmäßig nach Art. 5 Abs. 1 EMRK.
Der Gerichtshof bejahte zudem eine Verletzung von Art. 3 EMRK und berief sich dabei auf Auskünfte des UNHCR, der Betroffene in der Transitzone unterstützte. Demnach standen keine Betten, Nahrung oder Hygieneeinrichtungen zur Verfügung und die Privatsphäre war nicht gewährleistet. Solchen Umständen längerfristig ausgesetzt zu sein, hat laut EGMR bei den Betroffenen zu erheblichem Leid und Erniedrigungen geführt und ihre Würde verletzt. Er wiederholte, dass der fehlende Vorsatz einer Erniedrigung eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht ausschließe.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 4/2017:
In dieser bedeutsamen Entscheidung hat der EGMR festgestellt, dass das Festhalten von Asylsuchenden in einer Transitzone in Ungarn und die Abschiebung nach Serbien gegen die EMRK verstößt. Das Urteil erfolgte ungefähr zeitgleich mit der Verabschiedung eines umstrittenen neuen Gesetzes in Ungarn, welches die Möglichkeit vorsieht, alle Schutzsuchenden für die Dauer des Asylverfahrens in Transitzonen zu inhaftieren (vgl. Nachricht in diesem Heft auf S. 121).
Die Beschwerdeführer, zwei junge Männer aus Bangladesch, waren über Griechenland und die sogenannte Balkanroute im September 2015 nach Ungarn eingereist und hatten sofort Asylanträge gestellt. Sie wurden daraufhin in einem etwa 110 qm2 großen abgeriegelten und bewachten Teil der Transitzone Röszke für etwa drei Wochen festgehalten. Ihre Asylanträge wurden als "unzulässig" abgelehnt, da die ungarische Regierung Serbien 2015 als "sicheren Drittstaat" eingestuft hat. Im Anschluss wurden die Beschwerdeführer nach Serbien abgeschoben (vgl. hierzu auch den Bericht von bordermonitoring.eu und Pro Asyl vom Juli 2016, ecoi.net 329865) .
Vor dem EGMR machten die Beschwerdeführer einen Verstoß gegen das Verbot von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach Art. 3 EMRK aufgrund der Bedingungen in der Transitzone und der Gefahr der Kettenabschiebung über Serbien nach Griechenland geltend, in das seit 2011 auch laut EGMR nicht überstellt werden darf. Zudem sahen sie sich in ihrem Recht auf Freiheit nach Art. 5 Abs. 1 EMRK, ihrem Recht auf gerichtliche Haftprüfung nach Art. 5 Abs. 4 EMRK und ihrem Recht auf wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK verletzt, da sie das Gelände nicht verlassen durften, keinen Zugang zu Beschwerdemechanismen hatten und ihnen der Kontakt zu ihren Anwälten nicht möglich war.
Der Gerichtshof stellte fest, dass das Festhalten der Betroffenen auf dem bewachten und von außen nicht zugänglichen Gelände "de facto" einer Inhaftierung i. S. d. Art. 5 EMRK gleichkam. Er verwarf die Argumentation der ungarischen Regierung, wonach es den Betroffenen freigestanden hätte, nach Serbien auszureisen, da sie damit ihre Asylbegehren verwirkt und sich der Gefahr des Refoulement ausgesetzt hätten. Da die Inhaftierung rein faktisch ohne formelle Entscheidung erfolgte, befand der EGMR sie als unrechtmäßig nach Art. 5 Abs. 1 EMRK. Darüber hinaus stellte er eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK fest, da es keine Haftanordnung gab, gegen die die Betroffenen gerichtlich vorgehen konnten. Obwohl der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch die Haftbedingungen verneinte, stellte er eine Verletzung von Art. 13 i. V. m. Art. 3 EMRK fest, da sich die Betroffenen über die Bedingungen nicht beschweren konnten. Schließlich befand er eine Verletzung von Art. 3 EMRK, da Ungarn nicht ausreichend gewährleistet hatte, dass die Betroffenen durch das Asylverfahren vor einer Kettenabschiebung über Serbien nach Mazedonien und Griechenland geschützt wurden. In Bezug auf letzteres verwies der EGMR auf seine Entscheidung M. S. S. gegen Belgien und Griechenland (Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09, asyl. net: M18077, engl.), wonach den Betroffenen unmenschliche Behandlung aufgrund der Lebensbedingungen für Asylsuchende in Griechenland gedroht habe. Nebenbei bemerkte der Gerichtshof aber aktuell Verbesserungen in Griechenland. In Bezug auf das Asylverfahren in Ungarn bemängelte er, dass die des Lesens unkundigen Beschwerdeführer nur schriftliche Informationen erhalten hatten, ihnen der Zugang zu ihren Anwälten verwehrt wurde und die Asylanhörung bei einem Betroffenen in einer Sprache durchgeführt wurde, die er nicht verstand. Vor allem aber kritisierte der EGMR die schematische Anwendung der Regierungs-Liste von "sicheren Drittstaaten", die Nichtbeachtung von Länderinformationen internationaler Organisationen und die unfairen und überzogenen Anforderungen an die Beweislast der Betroffenen.
Diese Entscheidung ist insbesondere nach der aktuellen ungarischen Gesetzesänderung von großer Bedeutung auch für die Praxis in Dublin-Verfahren, in denen Asylsuchende nach Ungarn überstellt werden sollen. Bisher durften Asylsuchende in Ungarn nämlich nur dann in Transitzonen verbracht werden, wenn sie in der Nähe der serbischen Grenze aufgegriffen wurden. Nunmehr können Asylsuchende aus allen Teilen Ungarns in Transitzonen an der ungarisch-serbischen Grenze zurückgebracht werden (ausführlich hierzu die Hintergrundinformationen von Amnesty International vom März 2017, Eintrag unter Ländermaterialien in diesem Heft auf S. 156). Laut Amnesty International sind damit auch Personen, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens aus Deutschland nach Ungarn überstellt werden, der tatsächlichen Gefahr willkürlicher Inhaftierung sowie des Refoulements ausgesetzt. Zudem ist das Urteil für Fallkonstellationen von Relevanz, in denen die Rückführung in einen "sicheren Drittstaat" erfolgen soll, denn der EGMR macht hier konkrete Vorgaben für die Anwendung der sogenannten Drittstaatenregelung im Einzelfall.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1-2/2017:
In diesem Fall bestätigte die Große Kammer des EGMR nur teilweise die Entscheidung einer seiner Kammern zur Behandlung von drei jungen Männern aus Tunesien, die Mitte September 2011 auf dem Seeweg nach Italien gekommen waren. Sie wurden zunächst in einem Lager auf Lampedusa festgehalten. Nachdem bei Protesten das Lager abgebrannt war, wurden sie nach Palermo geflogen und für einige Tage auf Schiffen festgehalten. Ende September 2011 wurden sie nach Tunesien abgeschoben.
Eine Kammer des Gerichtshofs stellte im September 2015 eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen durch die italienischen Behörden fest (s. Asylmagazin 10/2015 S. 339). Neben dem Recht auf Freiheit nach Art. 5 Abs. 1 EMRK sah sie auch eine Verletzung des Rechts auf Information bei Inhaftierung nach Art. 5 Abs. 2 EMRK und des Rechts auf gerichtliche Haftprüfung nach Art. 5 Abs. 4 EMRK als gegeben an. Bezüglich der Haftbedingungen im Lager auf Lampedusa nahm die Kammer eine Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) an, während sie dies in Bezug auf die Schiffe bei Palermo verneinte. Darüber hinaus stellte die Kammer fest, dass die italienischen Behörden gegen das Verbot von Kollektivausweisungen aus Art. 4 Protokoll Nr. 4 verstoßen hatten und nahm aufgrund der fehlenden Möglichkeiten, gegen die behördlichen Maßnahmen vorzugehen, eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) i. V. m. Art. 3 EMRK und i. V. m. Art. 4 Protokoll Nr. 4 an.
Auf Antrag der italienischen Regierung wurde die Rechtssache an die Große Kammer verwiesen. Diese bestätigte, dass die Inhaftierung unrechtmäßig war, da es im italienischen Recht keine Grundlage für sie gab und sie auf einer nicht-öffentlichen Vereinbarung zwischen Italien und Tunesien basierte und daher für die Betroffenen willkürlich erfolgte (Art. 5 Abs. 1 EMRK). Aufgrund der fehlenden Rechtsgrundlage stellte der Gerichtshof fest, dass die Betroffenen nicht über die Gründe ihrer Festnahme informiert werden konnten und ihnen dementsprechend Rechtsbehelfe verwehrt wurden (Art. 5 Abs. 2 und Abs. 4 EMRK). Anders als die Kammer verneinte die Große Kammer eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Hinblick auf die Haftbedingungen im Lager auf Lampedusa, vor allem wegen der kurzen Dauer der Haft. Zwar könne auch bei kurzfristigen Inhaftierungen Art. 3 EMRK verletzt sein, doch in diesem Fall habe die Behandlung, der die Betroffenen ausgesetzt waren, nicht die erforderliche Schwelle erreicht. Im Hinblick auf die Umstände auf den Schiffen fand der Gerichtshof die Darlegungen der Beschwerdeführer nicht ausreichend bestätigt. Dennoch sei eine Verletzung von Art. 13 i. V. m. Art. 3 EMRK gegeben, da sich die Betroffenen nicht wegen der Haftbedingungen beschweren konnten. Entgegen der Entscheidung seiner Kammer konnte der Gerichtshof kein Verstoß gegen das Verbot der Kollektivausweisung feststellen, da die Betroffenen bei zwei Anlässen der Identifizierung die Gelegenheit gehabt hätten, Gründe gegen ihre Abschiebung anzubringen. Auch sei ihr Recht auf wirksame Beschwerde nicht verletzt, da die schriftlichen Ausweisungsentscheidungen Rechtsbehelfe beinhaltet hatten.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 11/2016:
In zwei Entscheidungen vom 6. September 2016 befasste sich der EGMR mit der Inhaftierung von Asylsuchenden in der Türkei.
Der usbekische Staatsangehörige Alimov war 2012 bei seiner Wiedereinreise in die Türkei zunächst am Flughafen Istanbul und danach in einem Abschiebungshaftzentrum für insgesamt dreieinhalb Monate festgehalten worden. Herr Erkenow, russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit, war anderthalb Jahre in einem Abschiebungshaftzentrum festgehalten worden.
Beide Beschwerdeführer machten vor dem EGMR eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 (Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung), Abs. 2 (Information über Haftgründe), Abs. 4 (Haftprüfung) und Abs. 5 (Schadensersatz) EMRK geltend, da das Verfahren zur Anordnung der Abschiebungshaft unklar und daher unrechtmäßig gewesen sei, da sie nicht über die Gründe ihrer Inhaftierung informiert worden seien und da sie keine Möglichkeit gehabt hätten, ihre Haft gerichtlich prüfen zu lassen und gegebenenfalls Schadensersatz zu erlangen. Der Beschwerdeführer Alimov machte darüber hinaus geltend, dass aufgrund der Haftbedingungen eine Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher Behandlung) und eine Verletzung von Art. 13 EMRK wegen der fehlenden Möglichkeit einer wirksamen Beschwerde vorgelegen hätten.
In beiden Fällen stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK fest, da in der Türkei klare Regelungen zum Verfahren zur Anordnung von Abschiebungshaft fehlten. Er verwies darauf, dass er dies in Abdolkhani und Karimnia gegen die Türkei vom 22.9.2009 und weiteren Entscheidungen schon mehrfach festgestellt habe. Zudem stünde Inhaftierten keine wirksame gerichtliche Haftprüfung zur Verfügung und die Betroffenen seien zu spät über die Gründe ihrer Inhaftierung informiert worden. Dadurch seien auch die übrigen geltend gemachten Rechte aus Art. 5 EMRK verletzt worden. Aufgrund mangelnden Raumes und fehlender Möglichkeit, sich im Freien zu bewegen, stellte der Gerichtshof im Fall Alimow ferner eine Verletzung von Art. 3 EMRK fest und wegen mangelnder Beschwerdemöglichkeit hiergegen auch eine damit verbundene Verletzung von Art. 13 EMRK.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 11/2016:
In fünf Entscheidungen vom 12. Juli 2016 beschäftigte sich der EGMR mit Fällen, in denen Kinder zusammen mit ihren Eltern in Frankreich in Abschiebungshaft genommen worden waren. Die Haftanordnungen erfolgten nach abgelehntem Asylantrag (drei Fälle), im Rahmen des Dublin-Verfahrens (ein Fall) und nach Straffälligkeit (ein Fall).
Die Beschwerdeführenden machten jeweils eine Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot der unmenschlichen Behandlung) in Bezug auf ihre Kinder geltend. Ferner rügten sie, dass die Inhaftierung nicht rechtmäßig i. S. d. Art. 5 Abs. 1 Bst. f EMRK (Freiheitsentziehung in Abschiebungsverfahren) erfolgt war und ihr Recht auf gerichtliche Haftprüfung nach Art. 5 Abs. 4 EMRK vereitelt wurde. Schließlich beanstandeten sie eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 EMRK.
Der EGMR stellte in allen fünf Fällen eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die betroffenen Kinder fest, da aufgrund ihrer besonderen Verletzlichkeit die Dauer und Bedingungen der Haft früher die Schwelle einer unmenschlichen Behandlung überschreiten als bei Erwachsenen. Bezüglich Art. 5 EMRK befand der Gerichtshof, wie schon in seiner Entscheidung Popov gegen Frankreich vom 19.1.2012, dass die Mitinhaftierung von Kindern nur erfolgen darf, wenn sie notwendig ist, um die beabsichtigte Abschiebung zu ermöglichen, und kein weniger einschneidendes Mittel zur Verfügung steht. Dies verneinte der EGMR in drei Fällen. In zwei Fällen stellte der Gerichtshof auch eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest, da Abschiebungsmaßnahmen nicht schnellstmöglich durchgeführt worden waren.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 8/2016:
In diesem Fall befand der EGMR, dass die Inhaftierung eines Schutzsuchenden in Ungarn unrechtmäßig erfolgte, da sie mangels Einzelfallprüfung willkürlich war und die besondere Verletzlichkeit des Betroffenen in Haft aufgrund seiner sexuellen Orientierung nicht berücksichtigt worden war.
Der iranische Beschwerdeführer war im Juni 2014 bei seiner Einreise ohne Identitätspapiere festgenommen worden und stellte anschließend einen Asylantrag. Die ungarische Einwanderungsbehörde ordnete daraufhin basierend auf einer Vorschrift des nationalen Asylgesetzes vorläufig die Inhaftierung an. Wegen ungeklärter Identität bestehe Fluchtgefahr und damit drohe die Verzögerung des Asylverfahrens, wenn der Aslsuchende auf freiem Fuß bleibe. Bei der einen Tag später erfolgten Beantragung der Haftverlängerung gab die Behörde unter anderem an, iranische Asylsuchende tendierten dazu, sich Asylverfahren zu entziehen und unterzutauchen. Ein regionales Gericht gab dem Antrag statt, da es unter anderem annahm, dass weniger einschneidende Maßnahmen nicht geeignet seien, um die Verfügbarkeit des Betroffenen für die Behörden sicherzustellen. Eine Beschwerde des Betroffenen gegen die Inhaftierung blieb unberücksichtigt. Eine im August 2014 von der Einwanderungsbehörde beantragte Haftverlängerung wurde vom Gericht abgelehnt, da die Behörde Verzögerungen herbeigeführt habe, die dem Betroffenen nicht angelastet werden dürften. Dieser wurde daher nach knapp zwei Monaten aus der Haft entlassen. Im Oktober 2014 wurde er als Flüchtling anerkannt.
Vor dem EGMR machte der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) geltend, da nicht nur seine sexuelle Orientierung bei der Haftanordnung nicht berücksichtigt worden sei, sondern vielmehr keinerlei individuelle Prüfung stattgefunden habe. Sowohl das AIRE Center als auch ECRE und die europäische Sektion des LGBTI-Dachverbandes ILGA intervenierten in dem Verfahren und stellten vor allem darauf ab, dass die Inhaftierung des Betroffenen im Hinblick auf die UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Asylsuchenden willkürlich erfolgt sei.
Der Gerichtshof betonte zunächst, dass jegliche Freiheitsentziehung nur bei Vorliegen eines der in Art. 5 Abs.1 Buchst. a bis f EMRK abschließend aufgeführten Gründe rechtmäßig sein könne. Er ging nicht vertieft auf den Haftgrund zur Verhinderung der unerlaubten Einreise des Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK ein, da nach Asylantragstellung dieser Haftgrund nicht mehr einschlägig ist. Der einzige in Betracht kommende Haftgrund, wonach Freiheitsentziehung zur Erwirkung einer Pflichterfüllung angeordnet werden kann (Art. 5 Abs. 1 Buchst. b EMRK), sei in diesem Fall nicht erfüllt gewesen. Nach dem ungarischen Asylgesetz sei der Beschwerdeführer zwar verpflichtet gewesen, in seinem Asylverfahren mitzuwirken. Eine Pflicht, Identitätsdokumente vorzuweisen, habe aber nicht bestanden. Der Beschwerdeführer habe in angemessener Weise Auskunft zu seiner Identität gegeben und daher sei keine Verletzung einer Mitwirkungspflicht ersichtlich. Darüber hinaus führte der Gerichtshof aus, dass bei der Inhaftierung von Asylsuchenden, die geltend machen, Teil einer besonders verletzlichen Gruppe in ihrem Herkunftsland zu sein, Behörden im Aufnahmeland besondere Sorgfalt walten lassen müssen, um eine Wiederholung des Verfolgungsschicksals zu vermeiden. Im Fall des Beschwerdeführers stellte der Gerichtshof daher eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK fest.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 10/2015:
Bei der Entscheidung des EGMR vom 22.9.2015 geht es um drei somalische Beschwerdeführer, die in Ungarn im November 2011 inhaftiert worden waren, nachdem sie die Grenze von Serbien aus überschritten hatten. Die Grenzpolizei ging bei ihnen von einer illegalen Einreise aus, da sie ohne Identitätsdokumente eingereist waren. Dementsprechend wurden sie ausgewiesen und sollten nach Serbien abgeschoben werden. Zu diesem Zweck wurde Haft gegen sie angeordnet. Zwischen November 2011 und März 2012 wurden die Haftanordnungen von einem Gericht regelmäßig geprüft und bestätigt, obwohl die Beschwerdeführer bereits im November 2011 Asyl in Ungarn beantragt hatten. Ihre Asylanträge begründeten die Beschwerdeführer damit, dass sie in Somalia Verfolgung durch die Milizen der Al-Shabab befürchteten.
Im März 2012 wurde den Beschwerdeführern von den ungarischen Behörden subsidiärer Schutz gewährt. Sie wurden daraufhin aus der Haft entlassen.
Der Gerichtshof entschied, dass nur die ersten drei Tage der Haft - vor der Asylantragstellung - gemäß Art. 5 Abs. 1 Bst. f EMRK gerechtfertigt waren, da die Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt wegen einer bevorstehenden Abschiebung inhaftiert worden waren. Nach den Erkenntnissen des EGMR hatte das nationale Gericht anschließend aber die Haft unter Bezugnahme auf die erste Entscheidung aufrechterhalten, ohne die Kriterien zu überprüfen, die für eine Verlängerung der Haft nach ungarischem Recht erforderlich waren. So hatte es nicht untersucht, ob es tatsächlich Anlass für die Vermutung gab, dass sich die Beschwerdeführer einer Abschiebung entziehen würden. Auch hatte es nicht geprüft, ob es Alternativen zur Haft gab oder ob das laufende AsylverfahrenAuswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Haft hatte. Aufgrund der mangelhaften Prüfung der nationalen Gerichte wurde Ungarn wegen einer Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person) verurteilt.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 12/2014:
In diesem Urteil verurteilte der EGMR die Türkei wegen unrechtmäßiger Inhaftierung (Art. 5 EMRK, Recht auf Freiheit und Sicherheit). Herr Aliev hatte vorgebracht, dass er dreimal inhaftiert wurde, nachdem er einen Asylantrag gestellt hatte. Diese Inhaftierungen seien ohne Grundlage im türkischen Recht erfolgt. Der Gerichtshof stellte fest, dass die Türkei den Antragsteller seiner Freiheit beraubt habe und ihm keine Gründe für seine Haft mitgeteilt worden waren, wodurch der Antragsteller von einem effektiven Rechtsbehelf gegen seine Inhaftierung ausgeschlossen war. Dementsprechend lag eine Verletzung von Art. 3 in Verbindung mit Art. 13 vor. Wegen der katastrophalen Zustände in der Hafteinrichtung (unhygienische Unterbringung und mangelhafte Ernährung) verurteilte der Gerichtshof die Türkei zudem wegen einer Verletzung von Art. 3 EMRK.