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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13468
Leitsatz:

Die Pflicht des Gerichts, die Streitsache spruchreif zu machen, gilt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch in Verfahren um die Erteilung eines Zweitbescheids unter Durchbrechung der Bestandskraft im Wege des Wiederaufgreifens nach § 51 VwVfG.

Schlagwörter: D (A), Verfahrensrecht, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Spruchreife, Asylverfahren, Folgeantrag, Durchentscheiden, Revision
Normen: VwGO § 113 Abs. 5; VwGO § 86 Abs. 1; VwVfG § 51; AsylVfG § 71
Auszüge:

Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Berufungsgericht hat dadurch, daß es - in dem seiner Auffassung nach wiederaufzugreifenden Verfahren - nicht auch über die Gewährung von Abschiebungsschutz an den Kläger, also zur Sache nicht neu entschieden, sondern lediglich das Bundesamt zu dieser Entscheidung verpflichtet hat, Bundesrecht verletzt.

Das angefochtene Urteil verletzt § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO.

Die Pflicht des Gerichts, die Streitsache spruchreif zu machen, gilt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch in Verfahren um die Erteilung eines Zweitbescheids unter Durchbrechung der Bestandskraft im Wege des Wiederaufgreifens nach § 51 VwVfG. Es ist nicht gerechtfertigt, hinsichtlich der Pflicht, die Sache spruchreif zu machen, zwischen den in § 51 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 VwVfG normierten Voraussetzungen des obligatorischen Wiederaufgreifens einerseits und den in Art. 16 a GG, §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG aufgeführten Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl und Abschiebungsschutz andererseits zu unterscheiden und die Pflicht zu Herbeiführung der Spruchreife nur für die Wiederaufgreifensvoraussetzungen gelten zu lassen. Die Voraussetzungen für Asyl und Abschiebungsschutz nach den genannten Bestimmungen sind, nicht anders als die Merkmale nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG Tatbestandsvoraussetzungen des Anspruchs eines Asylsuchenden, dessen Asylantrag bereits einmal bestandskräftig abgelehnt worden ist, im Wege des Wiederaufgreifens seines abgeschlossenen Verfahrens - doch noch - als Asyl- oder Abschiebungsschutzberechtigter anerkannt zu werden. Daraus folgt, daß der für den geltend gemachten Anspruch auf Asylanerkennung hier rechtserhebliche Aspekt, ob das Asylverfahren wiederaufgenommen werden muß, lediglich die Frage nach der Erfüllung der für die Durchbrechung der Bestandskraft des Erstbescheides erforderlichen Voraussetzungen des geltenden Erstbescheides erforderlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs auf Asyl bzw. Abschiebungsschutz, nicht aber einen selbständig neben diesem stehenden und eigenständig einklagbaren Wiederaufgreifensanspruch betrifft.

Damit kann, ebenso wie vom Kläger nicht lediglich auf "Wiederaufgreifen" geklagt werden kann, auch vom Gericht nicht "isoliert" über die Frage, ob wiederaufzugreifen ist, entschieden werden.

Nach der ausdrücklichen Entscheidung des Gesetzgebers ist ferner im Asylverfahren § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG - abweichend vom allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht - auch dann anzuwenden, wenn der Ausländer nach Rücknahme eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt (§ 71 Abs. 1 S. 1 Halbsatz 1 AsylVfG); auch für diese Fälle kann daher nichts anderes gelten.

Weil es sich bei der Asylanerkennung nach Art. 16 a GG und der Feststellung der Abschiebungsschutzberechtigung nach § 51 Abs. 1 AuslG um eine gebundene Verwaltungsentscheidung und nicht um eine solche in Wahrnehmung eines eingeräumten Ermessens oder einer Beurteilungsermächtigung handelt, rechtfertigt sich der Verzicht auf Herstellung der Spruchreife auch nicht aus der Eigenart einer derartigen der Verwaltung vorbehaltenen Entscheidung. Schließlich läßt sich die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts nicht auf die gesetzliche Regelung über die besonderen, der beschleunigten Abwicklung des Folgeverfahrens dienenden Kompetenzen des Bundesamts nach § 71 AsylVfG stützen. Der Beschleunigung des Asylverfahrens, die der Gesetzgeber anstrebt, dient es mehr, wenn das Verwaltungsgericht in den Fällen, in denen es abweichend vom Bundesamt die Voraussetzungen nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG als erfüllt ansieht, auch die Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 16 a GG, §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG prüft und eine das asylrechtliche Folgeverfahren abschließende Entscheidung trifft, als wenn es das Verfahren zur Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen wegen des erstrebten Asyls bzw. Abschiebungsschutzes an das Bundesamt zurückgibt.

Die Besonderheiten des asylrechtlichen Folgeantragsverfahrens, insbesondere die dem Bundesamt im Interesse der Verfahrensbeschleunigung eingeräumten Gestaltungsmöglichkeiten, rechtfertigen es ebenfalls nicht, die Gerichte von der Verpflichtung freizustellen, die Streitsache spruchreif zu machen. Zwar hat das Bundesamt bei einem Asylfolgeantrag, der die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht erfüllt, nicht nur den Antrag abzulehnen, sondern, falls die Voraussetzungen des § 71 Abs. 5 S. 1 AsylVfG nicht vorliegen, gem. § 71 Abs. 4 i.V.m. §§ 34, 36 AsylVfG auch eine Abschiebungsandrohung mit einer Ausreisefrist von einer Woche zu erlassen. Bejaht das Verwaltungsgericht abweichend vom Bundesamt die Wiederaufgreifensvoraussetzungen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG, hält es aber im Ergebnis das Asylbegehren für "einfach" oder "schlicht" unbegründet, nicht jedoch für offensichtlich unbegründet, erweist sich die - vom Bundesamt zu Unrecht bereits auf § 71 Abs. 4 i.V.m. § 36 AsylVfG gestützte - Ausreisefrist von einer Woche zwar nicht - wie das Berufungsgericht meint - als "obsolet", sie kann aber nicht aufrechterhalten werden. Ob das Verwaltungsgericht deshalb die Abschiebungsandrohung nebst Fristsetzung aufheben muß mit der Folge, daß das Bundesamt nach § 38 Abs. 1 AsylVfG eine neue Abschiebungsandrohung mit einer Ausreisefrist von einem Monat erlassen müßte, oder ob dieses Ergebnis nicht aufgrund einer analogen Anwendung des § 36 Abs. 2 AsylVfG erreicht werden kann, muß offenbleiben. Denn selbst wenn in derartigen - eher seltenen und zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallenden - Fällen eine neue Abschiebungsandrohung erlassen werden müßte und der Abschluß des Folgeverfahrens verzögert würde, rechtfertigte dies auch unter dem Gesichtspunkt der Beschleunigung aller Verfahren keine Ausnahme von der prozessualen Pflicht zur Herstellung der Spruchreife.