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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 05.08.1998 - 2 BvR 153/96 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/15980
Leitsatz:
Schlagwörter: Libanon, Aoun-Anhänger, Wahlen, Flugblätter, Festnahme, Folter, Strafverfahren, Verfolgungsbegriff, Staatsschutzdelikte, Politmalus
Normen: GG Art. 16a Abs. 1
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat die vom Beschwerdeführer zu 1. - nach der Wertung des Gerichts glaubwürdig - geschilderten Maßnahmen im Anschluß an seine Festnahme, die im Zusammenhang mit dem Verteilen von zum Wahlboykott aufrufenden Flugblättern erfolgte, als asylrechtlich unerheblich qualifiziert, weil sie ausschließlich der Sicherung der staatlichen Ordnung gedient hätten. Die dazu angestellten Erwägungen lassen sich mit den oben dargelegten Grundsätzen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum möglichen politischen Charakter von Strafverfolgung auch im Bereich des staatlichen Rechtsgüterschutzes nicht in Einklang bringen. Anders als das Verwaltungsgericht meint, kommt es nicht darauf an, ob das Vorgehen gegen die Flugblattaktion "politisch motiviert" war oder nur die ungehinderte Durchführung der in der damaligen Situation des Libanon als besonders wichtig angesehenen Wahlen sichern sollte. Entscheidend ist vielmehr, wie sich die gegen den Beschwerdeführer zu 1. ergriffenen Maßnahmen nach ihrer nach außen erkennbaren Gerichtetheit darstellen (vgl. BVerfGE 80, 315 <335>).

Hiervon ausgehend wird aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts nicht hinreichend deutlich, dass das Vorgehen gegen den Beschwerdeführer zu 1. einem anderen Ziel hätte dienen können als ihn an der Betätigung seiner politischen Überzeugung zu hindern, wonach die Abhaltung von Wahlen im Libanon unter den gegebenen Umständen zu einer weiteren, von ihm für nachteilig angesehenen Stärkung des syrischen Einflusses führen würde und deshalb so weit wie möglich zu verhindern sei. Die politische Zielrichtung der staatlichen Verfolgung eines Aufrufs zum Wahlboykott, der diese Überzeugung mittels Verteilung von Flugblättern zum Ausdruck bringt, lässt sich nicht schon mit dem allgemeinen Hinweis ausräumen, dass im Libanon eine Unterdrückung der politischen Meinung nicht stattfinde. Welche Gefährdung von durch Staatsschutzvorschriften im Libanon zu verteidigenden Rechtsgütern, die als zusätzliche kriminelle Komponente über die in der Verteilung der Flugblätter liegende Betätigung der politischen Überzeugung hinausreicht, durch das Verhalten des Beschwerdeführers zu 1. eingetreten sein soll, ist den Ausführungen des Verwaltungsgerichts nicht zu entnehmen. Daran ändert auch der Hinweis des Verwaltungsgerichts nichts, der Beschwerdeführer zu 1. habe durch "konspirative Aktivitäten" die Durchführung der Wahlen zu boykottieren versucht. Der Beschwerdeführer zu 1. hat hierzu in seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung angegeben, sie hätten die Flugblätter nur an bestimmte vertrauenswürdige Personen verteilt, weil sie sich eine öffentliche Verteilung nicht hätten erlauben können. Das Verwaltungsgericht äußert sich nicht dazu, worin hier der über die Betätigung einer politischen Überzeugung hinausreichende kriminelle Aspekt dieses Verhaltens zu sehen sein soll. Soweit das Verwaltungsgericht allgemein auf das Interesse des Staates an einer ungehinderten Durchführung der Wahlen verweist, das durch den vom Beschwerdeführer zu 1. angestrebten Wahlboykott beeinträchtigt worden sei, betrifft dies allein die unterschiedliche politische Einschätzung der Bedeutung der anstehenden Wahlen mit einer möglichst breiten Beteiligung. Wenn der

Beschwerdeführer zu 1. seine insoweit von derjenigen staatlicher Stellen abweichende politische Überzeugung durch Aufrufe zum Wahlboykott betätigt und auf diesem Wege andere Personen für seine Meinung zu gewinnen gesucht hat, so überschreitet dies allein noch nicht den Schutz, den das Asylgrundrecht auch für die Betätigung politischer Überzeugung bietet (vg1. BVerfGE 80, 315 <33>).

Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts droht dem Beschwerdeführer zu 1. im Falle der Rückkehr in den Libanon mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwere körperliche und seelische Mißhandlung, wenn nicht in Form der Folter, so doch zumindest in Form der erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Das Verwaltungsgericht sieht diese Gefahr im direkten Zusammenhang mit einem Strafverfahren, dem allein libanesische Staatsschutzbestimmungen zugrunde liegen. Dabei geht das Verwaltungsgericht zwar davon

aus, dass im Libanon sowohl "politische" als auch "gewöhnliche" Straftäter eine derartige Behandlung zu gewärtigen hätten. Zugleich führt es jedoch aus, dass die Strafverfolgungsbehörden im Libanon gerade hinsichtlich der Staatsschutzbestimmungen besonders empfindlich und "mit besonderer Härte" reagieren. Damit hat das Verwaltungsgericht in der Sache zugleich einen sogenannten "Politmalus" festgestellt.

Auf der Grundlage dieses festgestellten Sachverhaltes ist nicht mehr verständlich, warum das Verwaltungsgericht hieraus lediglich ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG wegen drohender unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung abgeleitet, eine drohende politische Verfolgung im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG" jedoch mit der Begründung verneint hat, dem Beschwerdeführer zu 1. drohten bei einer Rückkehr in den Libanon nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Mißhandlung oder Folter als Träger einer bestimmten politischen Überzeugung. Der Gesichtspunkt (Strafverfahren wegen Verstoßes gegen Staatsschutzbestimmungen), den das Verwaltungsgericht im Rahmen der Prüfung des § 53 Abs. 4 AuslG zur Begründung dafür angeführt hat, dass dem Beschwerdeführer zu 1. mit gesteigerter Wahrscheinlichkeit und erhöhter Eingriffsintensität unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, legt den politischen Charakter der vom Gericht angenommenen, nach Rückkehr drohenden Verfolgungsmaßnahmen

gerade nahe (vgl. BVerfGE 80, 315 <336 ff.>; 81, 142 <151>).