VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 17.04.2007 - AN 4 K 07.30205 - asyl.net: M10054
https://www.asyl.net/rsdb/M10054
Leitsatz:

Nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Christen im Irak (im Anschluss an BayVGH, Urteil vom 8.2.2007 - 23 B 06.30884).

 

Schlagwörter: Irak, Christen, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Übergriffe, Mord, Sicherheitslage, Terrorismus, Islamisten, interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Nordirak
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Christen im Irak (im Anschluss an BayVGH, Urteil vom 8.2.2007 - 23 B 06.30884).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 4. November 2004 ist unter Zugrundelegung der Rechtslage seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) am 1. Januar 2005, worauf maßgeblich abzustellen ist (§ 77 Abs. 1 AsylVfG), rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, weil dem Kläger gegenwärtig und auf absehbare Zukunft als Christ bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure droht und eine innerstaatliche Fluchtalternative für den Kläger nicht besteht (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Unter Zugrundelegung dieser und anderer einschlägiger Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, insbesondere zu den Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung, hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Urteilen jeweils vom 8. Februar 2007, Az. 23 B 06.31053 u.a.. 23 B 06.30866, 23 B 06.30883 und 23 B 06.30884 entschieden, dass nach den zwischenzeitlich im Irak stattgefundenen politischen Veränderungen irakische Staatsangehörige zwar wegen ihrer Asylanträge und ihrer illegalen Ausreise nunmehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine politischen Verfolgungsmaßnahmen mehr befürchten müssen. Soweit es sich um Angehörige der christlichen Minderheit handelt, drohen ihnen jedoch nunmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Seiten so genannter nichtstaatlicher Akteure schwere Eingriffe, wie Mord, Verstümmelung oder andere schwere Rechtsverletzungen, die als Gruppenverfolgung zu werten sind.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat dieses Ergebnis nach Auswertung allgemein zugänglicher Medienberichte und der darüber hinaus von ihm im Berufungsverfahren ausdrücklich zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen, auf die auch das erkennende Verwaltungsgericht Bezug nimmt (vgl. den Zusatz zum Ladungsschreiben für den Termin), im Wesentlichen aus Folgendem entnommen:

Die allgemeine Sicherheitslage im Irak ist nach Beendigung der Hauptkampfhandlungen im Mai 2003 zwischenzeitlich hochgradig instabil geworden, sie ist geprägt durch tausende terroristische Anschläge und durch fortgesetzte offene Kampfhandlungen zwischen militanter Opposition einerseits sowie regulären Sicherheitskräften und Koalitionsstreitkräften andererseits. Gerade die Lage der christlichen Bevölkerung hat sich seit der internationalen Militäraktion Ende März 2003 drastisch verschlechtert. Nicht nur prominente religiöse und politische Fürsprecher der Christen werden regelmäßig Opfer gezielter Übergriffe, sondern auch einfache Mitglieder christlicher und anderer religiöser Minderheiten. Diese Übergriffe reichen von Bedrohung, Einschüchterung, Entführung, bewaffnetem Raub, der Zerstörung oder Beschlagnahme von Eigentum über Zwangskonversion und Zwangsverheiratung christlicher Frauen mit muslimischen Männern bis hin zu gewaltsamen Tötungen und Vergewaltigungen. Urheber solcher Übergriffe sind nichtstaatliche, islamische fundamentalistische Gruppen und Einzeltäter, aufständische sonstige Gruppen und kriminelle Banden, im kurdischen Norden sogar auch staatliche Akteure, wie Peshmerga-Einheiten.

Nach den vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof berücksichtigten Erkenntnisquellen knüpfen diese Übergriffe, Anschläge und Drohungen gegenüber Christen alternativ oder kumulativ an deren Religionszugehörigkeit, an ihre tatsächliche oder vermeintliche politische Überzeugung, an ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihre Volkszugehörigkeit an. Grundsätzlich spielt es hinsichtlich der Verfolgungsgefahr keine Rolle, welcher konfessionellen Gruppe von Christen eine Person zugehört.

Auch im weitgehend kurdisch beherrschten Nordirak steht den Christen - möglicherweise vorbehaltlich besonderer Ausnahmefälle; ein solcher liegt hier jedoch nicht vor - keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c a.E. AufenthG offen. Die Zuwanderung bzw. Rückkehr in den kurdisch verwalteten Nordirak ist nach den vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ausgewerteten Erkenntnisquellen allenfalls solchen Irakern möglich, die aus dem Nordirak stammen und dort ihre Großfamilie bzw. Sippe haben. Zusätzliche Probleme erwachsen irakischen Christen im gesamten Nordirak, auch außerhalb der kurdisch verwalteten Provinzen, aus der starken Präsenz der Kurdisch-Islamischen Union (KIU), die gegenüber Christen eine extreme islamistische Position einnimmt.

Dieser vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in den oben genannten Urteilen ausführlich dargelegten und überzeugend begründeten Bewertung schließt sich das erkennende Verwaltungsgericht vollinhaltlich an und macht sie sich zu Eigen.