Wechselseitige Gruppenverfolgung von Sunniten und Schiiten im Irak.
Wechselseitige Gruppenverfolgung von Sunniten und Schiiten im Irak.
(Leitsatz der Redaktion)
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Widerrufsbescheid des Bundesamtes (früher: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 1,13 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage für den Widerruf der Asylanerkennung oder der Flüchtlingseigenschaft stellt § 73 AsylVfG dar.
Das Bundesamt hat im angefochtenen Bescheid die Feststellungen zu Abschiebungsverboten zu Unrecht widerrufen, da die Klägerin nach Überzeugung des Gerichts jetzt und in absehbarer Zukunft einen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG bezüglich des Iraks besitzt, wobei die erweiterten Voraussetzungen dieser Vorschrift hier zu Grunde zu legen sind. Dabei geht die Kammer davon aus, dass eine frühere Verfolgung durch das Regime Saddam Husseins seit dessen Sturz entfallen ist und eine auf den früheren Verfolgungstatsachen beruhende Verfolgungsgefahr durch die jetzige irakische Regierung nicht gegeben und auch in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten ist. Allerdings geht das Gericht auf Grund der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen sowie der allgemein zugänglicher Berichterstattung in den Medien davon aus, dass für Rückkehrer aus Deutschland in den Irak, gleich welcher Konfession sie angehören, die Gefahr einer politischen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, wobei lediglich Personen, die aus der früheren kurdischen Autonomie-Region im Nordirak stammen, dort familiäre Beziehungen unterhalten und bei denen keine sonstigen Gründe einem Aufenthalt in dieser Region entgegenstehen, auf eine dort existierende inländische Fluchtalternative verwiesen werden können, falls sichergestellt ist, dass ihre Rückkehr in dieses Gebiet so möglich ist, dass sie keine anderen irakischen Landesteile dabei durchqueren müssen.
Ungeachtet der religiösen Minderheiten drohenden erhöhten Verfolgungsgefahr auf Grund des wachsenden Islamismus droht eine solche Verfolgung auch Sunniten und Schiiten, wechselseitig verübt von jeweils militanten Vertretern der "gegnerischen" Religion, wobei nach den Angaben des Auswärtigen Amtes auch im jüngster Lagebericht sogar direkte staatliche Verfolgung durch im Auftrag des Innenministeriums tätige Todesschwadronen schiitischer Glaubenszugehörigkeit stattfindet, die gezielt Sunniten ausfindig machen, in ihre Gewalt bringen und im Regelfall nach grausamen Misshandlungen töten. Daneben finden zahlreiche geplante und zielgerichtete Überfälle und Morde an Mitgliedern der jeweils anderen Glaubensrichtung statt, so werden nach denn Lagebericht Stand Januar 2007 allein in Bagdad täglich dutzende Tote interkonfessioneller Auseinandersetzungen gefunden. Weiter wird dort festgestellt, zahlreiche Leichen wiesen Folterspuren auf, konfessionell motivierte Vertreibungen würden konsequent Straßenzug um Straßenzug fortgesetzt. Dabei sei die Sicherheitslage nicht nur in Bagdad prekär, sie sei auch in Städten wie Bakuba, Faludscha. Ramadi, Samara, Tal Afar, Kirkuk, Mosul und Basra sehr angespannt. Konfessionell motivierte Verbrechen wie Ermordungen, Folter und Entführungen von Angehörigen der jeweils anderen Glaubensrichtung ereigneten sich Berichten zufolge landesweit, der interkonfessionelle Konflikt fordere mittlerweile die meisten Opfer unter der irakischen Bevölkerung.
Bei den vorstehend geschilderten Morden, Verstümmelungen und Entführungen handelt es sich dabei nach den Angaben insbesondere im jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes um gezielte Verfolgungsmaßnahmen, die ausschließlich an die Religionszugehörigkeit des getroffenen anknüpfen. Motiviert werden diese Morde und Massaker einerseits durch den sich immer weiter zuspitzenden Kampf um Macht und Einfluss im Irak zwischen den Religionsgemeinschaften der Schiiten und der Sunniten, einerseits und weiter vom zunehmenden Hass zwischen diesen Religionsgruppen, der sich wiederum aus den Morden und Anschlägen heraus immer weiter verstärkt. Bei der von der Kammer zu treffenden Prognoseentscheidung ist dabei insbesondere vor Bedeutung, dass sich einerseits die Zahl der Artschläge im Irak rapide erhöht, so allein im Jahr 2006 von anfänglich ca. 90 zunächst bis Mitte 2006 auf 100 pro Tag, davon etwa ein Drittel regelmäßig im Großraum Bagdad (Lagebericht vom 29.6.2006), während sich seither die Zahl der Anschläge zunächst auf 120 bis 150 pro Tag erhöhte und gegen Ende 2006 dann auf bis zu 200 pro Tag verdoppelte. Nach den Angaben irr neuesten Lagebericht kamen allein im Oktober 2006 über 4.000 Menschen im Irak infolge der gewaltsamen Auseinandersetzungen ums Leben, wobei zum einen von einer hoher Dunkelziffer infolge des nur äußerst begrenzten Zugangs unabhängiger Beobachter zu allen irakischen Landesteilen auszugehen ist. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass weder die irakische Regierung nach die US-geführten Besatzungstruppen ein Interesse an der Bekanntgabe übermäßig hoher Zahlen von Anschlägen und dabei Getöteten besitzen und im Übrigen heimliche Morde in der interkonfessionellen Auseinandersetzung allein auf Grund der Begehensweise gar nicht entdeckt werden. Hinzu kommt, dass eine große Zahl von Schwer- und Schwerstverletzten den Getöteten hinzugerechnet werden muss, nicht gerechnet die psychischen Schäden und Traumatisierungen, die auf Grund der ständigen Gefahr gerade bei solchen Personen entstehen, die Anschlägen nur knapp entkommen oder in der Nähe des Schauplatzes solcher Anschläge gewesen sind. Weiter ist besonders nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes davon auszugehen, dass insbesondere die Gewalt mit religiösem Hintergrund im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten den größten Anteil am rapiden Zuwachs der Gewalttaten besitzt, wobei sich die Lage insbesondere im Laufe des Jahres 2005 und zu Beginn des Jahres 2007 entsprechend zugespitzt hat.
Ungeachtet der Tatsache, dass die genannte hohe Zahl von religionsbedingten Verfolgungsmaßnahmen bereits für die im Irak lebenden Sunniten und Schiiten ein hohes Gefährdungspotential besitzt, besteht diese Gefährdung in erheblich gesteigertem Maße für aus dem Ausland zurückkehrende Iraker, wie etwa aus Deutschland abgeschobene oder freiwillig zurückkehrende Asylbewerber. Zum einen findet ein erheblicher Teil der Anschläge auf den Überlandstraßen, sowie in der Umgebung gerade der internationalen Flughafen im Irak statt, welche aber von den Heimkehrern bei ihrer Rückkehr benutzt werden müssten. Darüber hinaus fehlt es Rückkehrern in den Irak an der Vertrautheit mit der alltäglichen Gefährdung im Irak, so dass sie der Gefahr solcher Überfälle in noch größerem Maße ausgesetzt sind als es die im Irak verbliebene Bevölkerung ist. Die besondere Gefährdung für Rückkehrer wird weiter gesteigert durch ein "westliches" Aussehen sowie durch "westliche Kleidung", was eben auch noch zur besonderen Gefahr krimineller Übergriffe führt. Den aus Deutschland zurückkehrenden Irakern sunnitischer oder schiitischer Religion droht somit, ungeachtet der noch größeren und besonderen Gefahren für Mitglieder anderer religiöser Minderheiten, bei Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung, insbesondere Tötung, Verstümmelung, schwere Körperverletzung, Folter und Entführung.
Dabei ist hinsichtlich der Zahl der Anschläge auf die Gruppe schiitischer und sunnitischer Rückkehrer aus Deutschland vor allem zu beachten, dass es Feststellungen bezüglich aus Deutschland abgeschobener oder zurückkehrender Asylbewerber derzeit praktisch nicht gibt, weil solche Rückführungen tatsächlich nicht oder nur in äußerst geringem Umfang stattgefunden haben und Berichte über die Erlebnisse und Erfahrungen der - wenigen - Rückkehrer derzeit nicht vorliegen. Die vom Bundesverwaltungsgericht (z.B. im Beschluss vom 28.6.2006) geforderte Feststellung der Zahl der Übergriffe auf die Gruppe und die Ermittlung der Größe der Gruppe, so dass eine Prognose über die Häufigkeit des Eintritts eines Verfolgungsmaßnahme für ein einzelnes Gruppenmitglied möglich wird, ist somit hier nicht möglich. Allerdings verweisen die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen, insbesondere auch die Lageberichte des Auswärtigen Amtes, immer wieder darauf, dass sich die Lage fortwährend verschlechtert, wobei die Verschlechterung seit dem Jahr 2003 kontinuierlich angehalten hat und somit nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Situation im Irak sich auch nur stabilisiert, geschweige denn verbessert. Nach Auffassung der Kammer muss deshalb bei einer Prognose einerseits von einer weiteren Zunahme von Überfällen, Tötungen, Folterungen, Entführungen und schweren Körperverletzungen generell ausgegangen werden und andererseits auf Grund des durch die zunehmenden Anschläge wiederum zunehmend geschürten Hasses der Religionsgemeinschaften untereinander auch von einer weiteren Zunahme, sowohl nominell als auch im Verhältnis zu sonstigen Anschlägen, der Gewalt von Sunniten und Schiiten jeweils gegen Mitglieder der anderen Religionsgemeinschaft. Nach Auffassung der Kammer kann es somit einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage eines irakischen Asylbewerbers aus Deutschland nach Abwägung aller bekannten Umstände nicht zugemutet werden, in den Irak zurückzukehren. Dies ergibt sich aus der sich in erheblichem Umfang steigernden und bereits derzeit schon hoher Zahl von Anschlägen mit konfessionellem Hintergrund, insbesondere auf Reisende im Irak, ebenso wie aus dein völligen Unvermögen irakischer und alliierter Stellen, den Zurückkehrenden auch nur einen minimalen Schutz vor solchen Übergriffen gewähren zu können. Dabei ist weiter zu berücksichtigen, dass sich die den Rückkehrern drohenden Maßnahmen immer im Bereich schwerster körperlicher Misshandlungen bis zur Tötung hin bewegen, so dass auch eine geringere mathematische Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsmaßnahme für den Einzelnen zur berechtigten asylrelevanten Furcht vor einer Rückkehr führt.
Eine derartige Verfolgung droht Rückkehrern nicht nur in Bagdad, sondern praktisch in allen Landesteilen des Irak mit Ausnahme des im Nordirak gelegenen, von den Kurden verwalteten früheren Autonomiegebietes, das die Provinzen Erbil, Dohuk und Sulaimaniya umfasst. Allerdings setzt nach Auffassung der Kammer die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative für zurückkehrende Iraker voraus, dass diese dort über Unterstützung durch Familie oder im Rahmen des Stammes verfügen, dass ihnen die Rückkehr in den Nordirak nicht aus anderen Gründen unmöglich ist und dass der Nordirak durch sie erreicht werden kann, ohne dass sonstige Landesteile des Irak durchquert werden müssen.