OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 11.07.2007 - 10 ME 130/07 - asyl.net: M11221
https://www.asyl.net/rsdb/M11221
Leitsatz:

Zur Ausübung des Ermessens der Ausländerbehörde nach § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG bei bewusst unerlaubter Einreise.

Die Ausländerbehörde hat bei ihrer Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG und damit die familiären Bindungen - im Sinne der tatsächlichen Verbundenheit der Familienmitglieder - zu berücksichtigen.

Auch bei intensiven familiären Bindungen eines ausländischen Elternteils zu seinem Kleinkind kann eine vorübergehende Trennung zumutbar sein, damit der unerlaubt eingereiste Ausländer das Visumsverfahren nachholt.

Zur Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003).

Kapitel III der Familienzusammenführungsrichtlinie mit Regelungen über das Verfahren zur Erlangung der Gestattung zur Einreise und Aufenthalt eines Familienangehörigen gilt auch für Gestattungen nach Art. 4 der Richtlinie.

 

Schlagwörter: D (A), Familienzusammenführung, deutsche Kinder, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Visum nach Einreise, Ermessen, Schutz von Ehe und Familie, illegale Einreise, Familienzusammenführungsrichtlinie
Normen: AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3; AufenthG § 30 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 5 Abs. 2; AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8; RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1; RL 2003/86/EG Art. 5
Auszüge:

Zur Ausübung des Ermessens der Ausländerbehörde nach § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG bei bewusst unerlaubter Einreise.

Die Ausländerbehörde hat bei ihrer Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG und damit die familiären Bindungen - im Sinne der tatsächlichen Verbundenheit der Familienmitglieder - zu berücksichtigen.

Auch bei intensiven familiären Bindungen eines ausländischen Elternteils zu seinem Kleinkind kann eine vorübergehende Trennung zumutbar sein, damit der unerlaubt eingereiste Ausländer das Visumsverfahren nachholt.

Zur Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003).

Kapitel III der Familienzusammenführungsrichtlinie mit Regelungen über das Verfahren zur Erlangung der Gestattung zur Einreise und Aufenthalt eines Familienangehörigen gilt auch für Gestattungen nach Art. 4 der Richtlinie.

(Amtliche Leitsätze)

 

Auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beschwerde ist nicht davon auszugehen, dass das Begehren des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 30 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfolgreich sein wird. Unstreitig liegt die Regelerteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht vor.

Der Antragsgegner hat als zuständige Ausländerbehörde in Abwägung mit den schützenswerten Belangen des Antragstellers und seiner Familienangehörigen zu beurteilen, ob eine Ausnahme von der Einhaltung des Visumverfahrens vertretbar und angemessen ist. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Regelung als Ausnahmeentscheidung grundsätzlich eng auszulegen ist und dies zu einer restriktiven Anwendung führt (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht - Stand: Jan. 2005 -, § 5 Rdnr. 67). Dementsprechend soll die Durchführung des Visumverfahrens auch bei Vorliegen eines gesetzlichen Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als auch in allen anderen Fällen die Regel bleiben. Hierdurch soll einerseits sichergestellt werden, dass die Steuerungsmechanismen des Aufenthaltsgesetzes nicht umgangen und die dort vorgesehenen Zugangskontrollen hinsichtlich eines Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland nicht unterlaufen werden. Andererseits soll die Einhaltung des Visumverfahrens kein Selbstzweck sein (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10. April 2007 - 18 B 303/07 -, juris mit weiteren Nachweisen und Beschluss vom 5. Oktober 2006 - 18 B 1767/06 -, ZAR 2006, 413; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 4. Juli 2006 - 2 O 210/06 -, juris; Renner, Ausländerrecht - 8. Auflage 2005 -, § 5 AufenthG Rdnr. 59).

Im Rahmen der zu treffenden Güterabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit darf die Ausländerbehörde als beachtlichen öffentlichen Belang mit in ihre Erwägungen einstellen, dass die Einhaltung des Visumverfahrens der Regelfall bleiben soll und dass die Verpflichtung, auch im Falle der Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet vor der Einreise ein Visum einzuholen, Art. 6 GG nicht verletzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1997 - BVerwG 1 C 19.96 -, BVerwGE 106, 13; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10. April 2007, a.a.O.; Bay. VGH, Beschluss vom 19. Oktober 2006 - 24 CE 06.2757 -, juris und Beschluss vom 31. März 2006 - 24 C 06.402 -, juris).

Auch angesichts der schützenswerten Belange des Antragstellers und seiner Familienangehörigen aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK erachtet der Senat die angefochtene Entscheidung des Antragsgegners mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für vereinbar.

Bei der gebotenen Betrachtung des Einzelfalles ist im Hinblick auf die familiäre Lebensgemeinschaft des Antragstellers mit seiner Ehefrau und seinem Sohn festzustellen, dass nach der Heirat im November 2004 auf Grund der räumlichen Trennung eine eheliche Lebensgemeinschaft zunächst nicht begründet werden konnte. Auch nach der Geburt des Sohnes des Antragstellers im Februar 2005 sind die Bindungen zunächst auf Besuchskontakte beschränkt gewesen, wobei diesen Bindungen eine beachtliche Bedeutung zukommt. Allerdings hat der Antragsteller erst nach der unerlaubten Einreise des Antragstellers am 10. Februar 2007 und damit für einen kurzen Zeitraum den Kontakt zu seinem Sohn sowie zu seiner Ehefrau intensivieren und festigen können. Angesichts dessen erachtet der Senat eine für einen kurzen Zeitraum andauernde Trennung des Antragstellers von seiner Ehefrau und seinem Sohn für noch zumutbar. Dabei geht der Senat davon aus, dass das Visumverfahren deshalb in einem überschaubaren Zeitraum entschieden werden wird, weil der Antragsgegner als zuständige Ausländerbehörde den gesetzlichen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG bereits geprüft und bejaht hat. Da diese ansonsten erforderliche Prüfung der Ausländerbehörde nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthV bereits abgeschlossen ist, kann das Zustimmungsverfahren nicht mehr zu Verzögerungen führen. Weiter ist der Antragsgegner im Hinblick auf die angeführten schützenswerten Belange des Antragstellers gehalten, die Entscheidung unverzüglich zu treffen.

Ebenso greift der Einwand des Antragstellers, es lägen die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel nach Art. 4 der Richtlinie 2003/86 auch ohne Einhaltung der Visa-Vorschriften vor, nicht durch. Er macht im Hinblick hierauf geltend, diesem Anspruch stehe ein Verstoß gegen die Visa-Vorschriften nicht entgegen, weil Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie (Kapitel III der Richtlinie), der die Einhaltung der Visa-Bestimmungen vorsehe, nicht eingreife. Denn Art. 4 der Richtlinie verweise ausdrücklich auf Kapitel IV, nicht aber auf Kapitel III der Richtlinie, so dass der Verstoß gegen Visa-Vorschriften nicht zu seinen Lasten zu berücksichtigen sei.

Der Antragsteller kann jedoch aus Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. a der Richtlinie 2003/86 des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. Nr. L 251 S. 12) nicht einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unabhängig von der Einhaltung des Visumverfahrens ableiten. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Bundesrepublik Deutschland als Adressat der Richtlinie ihrer Pflicht zur Umsetzung dieser Richtlinie bis zum 3. Oktober 2005 (Art. 20 Unterabs. 1 der Richtlinie) nicht vollständig nachgekommen ist, so dass eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie zugunsten von Familienangehörigen eines sich in der Bundesrepublik Deutschland rechtmäßig aufhaltenden Drittstaatsangehörigen (Zusammenführender, Art. 2 lit. c der Richtlinie) in Betracht kommt. Im Hinblick hierauf ist weiter davon auszugehen, dass die Regelung über die Gestattung der Einreise und des Aufenthalts eines Familienangehörigen des Zusammenführenden nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist. Ferner steht der unmittelbaren Anwendung bestimmter Regelungen einer gemeinschaftsrechtlichen Richtlinie, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht in nationales Recht umgesetzt worden ist, nicht entgegen, dass die Richtlinie den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit einräumt, die Begünstigung von weiteren Voraussetzungen abhängig zu machen (vgl. Kapitel IV der Richtlinie, das den Mitgliedsstaaten ermöglicht, die Einreise und den Aufenthalt des Familienangehörigen von weiteren Voraussetzungen abhängig zu machen). Insoweit kann ein Mitgliedsstaat, der seine Verpflichtung zur Umsetzung einer Richtlinie verletzt hat, nicht die durch die Richtlinie begründeten Rechte des Einzelnen unter Berufung darauf abwehren, dass er von der in der Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit einer einschränkenden oder versagenden Regelung im Falle der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht Gebrauch gemacht hätte (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 1991 - C 6/90 -, juris; Urteil vom 29. April 2004 - C 102/02 -, juris; Urteile vom 14. Juli 2005 - C 42/04 und C 141/04 -; Beschluss des Senats vom 18. Januar 2007, a.a.O.).

Jedoch sieht Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie zwingend vor, dass der Antrag auf Einreise und Aufenthalt des Familienangehörigen zu stellen ist, wenn er sich noch außerhalb des Hoheitsgebiets des Mitgliedsstaats der Europäischen Union aufhält, in dem der Zusammenführende sich aufhält. Dies entspricht dem in § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bestimmten Erfordernis, dass der Ausländer mit dem notwendigen Visum in das Bundesgebiet eingereist ist, mithin das Verfahren auf Erteilung der Einreisegenehmigung vom Ausland aus betrieben hat. Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist die in Kapitel III der Richtlinie aufgenommene Regelung des Art. 5 Abs. 3 auch in Fällen der Familienzusammenführung nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie anzuwenden.