VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 10.08.2007 - 8 K 1768/06.A - asyl.net: M12021
https://www.asyl.net/rsdb/M12021
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eines Unterstützers der TKP/ML; zwischenzeitlich gebesserte Menschenrechtslage in der Türkei scheint sich wieder zu verschlechtern.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, TKP/ML, Unterstützung, Menschenrechtslage, Reformen, Folter, Inhaftierung, Verfolgungssicherheit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1
Auszüge:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eines Unterstützers der TKP/ML; zwischenzeitlich gebesserte Menschenrechtslage in der Türkei scheint sich wieder zu verschlechtern.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 20.04.2006, mit dem die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG widerrufen worden ist, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Die Feststellung eines Abschiebungsverbotes im Hinblick auf die Türkei im Bescheid des Bundesamtes vom 31.08.1 998 erfolgte, weil seinerzeit für den Kläger davon auszugehen war, dass er bei einer Rückkehr in die Türkei "mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit" politisch motiviert verfolgt wird. Grundlage der damaligen Entscheidung des Bundesamtes waren die Angaben des Klägers, dass er die TKP/ML unterstützt hatte, deshalb inhaftiert und auch gefoltert worden war. Zudem wurde nach ihm gefahndet, weil bei dem Rechtsanwalt ... eine Nachricht seines inhaftierten Bruders ... an ihn noch im Gefängnis aufgefunden wurde. Hieraus folgte für den Kläger die Gefahr einer politisch motivierten Verfolgung in der Türkei.

Seit dieser Zeit haben sich zwar die innenpolitische Situation und die Sicherheitslage in der Türkei zunächst weiter verbessert. Dies hat auch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 19.04.2005 in dem Verfahren 8 A 273/04.A anerkannt, jedoch gleichwohl festgestellt, dass trotz der umfassenden Reformbemühungen, insbesondere der "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter in der Türkei weiterhin Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Art und Intensität vorkommen, die dem türkischen Staat zurechenbar sind. Folter wird allerdings seltener als früher und vorwiegend mit anderen, weniger leicht nachweisbaren Methoden praktiziert. Eine durchgreifende Entspannung, die die Gefahr asylerheblicher Übergriffe der Sicherheitskräfte weitgehend ausschließen würde, ist - so das Urteil - gegenwärtig und auch für die absehbare Zukunft aber nicht festzustellen.

Auch die dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse aus der Zeit nach Erlass des genannten Urteils rechtfertigen keine andere Beurteilung. Vielmehr lässt sich den späteren Pressemitteilungen über die Situation in der Türkei entnehmen, dass sich dort die Lage im Hinblick auf die Wahrung der Menschenrechte, fortschreitende Demokratie und die Unterbindung von Folter seither nicht nachhaltig gebessert hat. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Türkei ihr Anti-Terror-Gesetz noch in jüngster Zeit verschärft hat.

Die Gesetzesänderung enthält die erweiterte Erlaubnis zum Schusswaffengebrauch, die Möglichkeit, Presseorgane zu verbieten sowie die Einschränkung der Rechte der Verteidiger. Die umfangreichen Gesetzesänderungen haben zwei Tendenzen. Zunächst wird der Terrorbegriff willkürlich auf die verschiedensten Bereich ausgedehnt. Auf diese Weise werden Bürgerrechte, die im Hinblick auf einen EU-Beitritt gerade erst gestärkt wurden, quasi durch die Hintertür wieder eingeschränkt. Die zweite Tendenz ist die Ausdehnung des Terrorbegriffs auf einen ganzen Bereich von Meinungsäußerungen. Dazu gehören Vergehen wie das Tragen von Emblemen einer Terrororganisation sowie das Loben von Straftätern. Völlig in der Luft hängt eine Bestimmung, wonach das Schüren von Angst und Panik einen Akt des Terrorismus darstellt. Eine weitere umstrittene Bestimmung definiert die "Entfremdung des Volkes vom Militär" als Terrorvergehen (so Neue Zürcher Zeitung vom 20.07.2006 (Verschärftes Anti-Terror-Gesetz in der Türkei)).

Hieraus lässt sich unschwer die Tendenz ableiten, dass sich die in der Türkei in den letzten Jahren gebesserte Menschenrechtslage wieder zu verschlechtern scheint. Wenn die Geduld der türkischen Regierung im Kampf gegen kurdische Rebellen erschöpft ist (so der genannte Zeitungsartikel vom 20.07.2006) dann ist kaum vorstellbar, dass diejenigen, die der PKK angehörten oder sie bedeutsam unterstützten, nach ihrer Rückkehr in die Türkei heute unbehelligt bleiben.

Auch das OVG NRW kommt in seinem Urteil vom 27.03.2007, das einen Angehörigen der TKP/ML betrifft, in dem Verfahren 8 A 4728/05.A unter Auswertung der Erkenntnisquellen, die auch der Kammer vorliegen, zu dem Ergebnis, dass es in der Türkei weiterhin zu Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Art und Intensität kommt, die dem türkischen Staat zurechenbar sind.

Dies gilt auch für den Kläger, der bei einer Wiedereinreise in die Türkei Gefahr laufen wird, zumindest befragt und verhört, wenn nicht gar festgenommen zu werden.